Die Melopoiæ – oder: Apoll auf dem Parnass
Zusammen mit dem Augsburger Drucker Erhard Oeglin brachte im Jahre 1507 der in Wien tätige deutsche Erzhumanist Conrad Celtis die Melopoiæ sive Harmoniæ tetracenticæ (Gesangswerke oder vierstimmige Harmonien) auf den Markt (» Abb. Melopoiæ 1507 Titelblatt). Zum einen steht es (rund sechs Jahre nach Petrucci in Italien)[1] für den Beginn des Notendrucks mit beweglichen Lettern nördlich der Alpen – ein Umstand, auf den Oeglin im Kolophon nicht ohne Stolz aufmerksam macht.[2] Zum anderen gilt es in der Musikforschung gar als „Gründungswerk“ für eine eigene Gattung, für die sogenannte Humanistenode. Der Druck ist also ein guter Ausgangspunkt, die Geschichte des Odengesangs bei den Wiener Humanisten in musikalischer wie literarischer Hinsicht zu explorieren. Gemeinhin werden die Sätze Petrus Tritonius (Peter Treibenreiff) zugeschrieben. Der Drucker Erhard Oeglin gibt ihn in dem für den Schulgebrauch bestimmten Druck Harmoniæ (» Augsburg: Erhard Oeglin 1507), der nur Text und Noten der Melopoiæ umfasst, als Komponist der Odensätze an. Auf dem Titelblatt der Melopoiæ (» Abb. Melopoiæ 1507 Titelblatt) nennt Celtis Tritonius nur als einen Komponisten unter anderen:
„…per Petrum Tritonium et alios doctos sodalitatis litterariae nostrae musicos secundu[m] naturas & tempora syllabaru[m] et pedum compositae et regulate ductu Chunradi Celtis foeliciter impresse“
(… durch Petrus Tritonius und andere gelehrte Musiker unserer literarischen Sodalitas nach den Arten und Zeitmaßen der Versfüße komponiert und reguliert, unter der Leitung von Conrad Celtis erfolgreich gedruckt).
Die Melopoiæ fügen sich in vielerlei Hinsicht in die Bestrebungen von Conrad Celtis. Im Vorwort benennt er ein Anliegen des Druckes: Das Singen lateinischer Verse sollte das Verständnis für die lateinische Prosodie und für die quantitierende Silbenmessung fördern – ein Unterrichtsziel, das mit seiner strikten Ausrichtung am antiken Latein für die humanistische Bewegung kennzeichnend ist. Außerdem sollte grundsätzlich der antike Brauch wiederbelebt werden, Versdichtungen zu singen.[3] Die Bedeutung der Melopoiæ war für Celtis also nicht auf die didaktische Funktion beschränkt. Nur bedingt können sie unter den Musikdrucken eingeordnet werden. Denn wie Birgit Lodes nachgewiesen hat, war dieser Druck für das praktische Musizieren ungeeignet und auch zu teuer. Für diese Funktion eignete sich der Folgedruck, die schlichteren, weitaus didaktischer ausgerichteten Harmoniæ, wesentlich besser.[4] Das Bildprogramm verweist auf den Platz der Melopoiæ innerhalb Celtis’ Schaffen.[5] Die vierzehn Seiten Notentext flankieren zwei Holzschnitte, die detailreich die Quellen und Musen der dichterischen Inspiration zum Gegenstand haben (» Abb. Apoll auf dem Parnass und » Abb. Phoebus umringt von den Musen). Im ersten Bild steht der musizierende Apoll auf dem Parnass unter einem Lorbeerbaum im Mittelpunkt.[6] Im zweiten Holzschnitt ist Phoebus (=Apoll) von neun auf verschiedenen Instrumenten musizierenden Musen umringt. Das Wappen am unteren Rand des Bildes verweist explizit auf Conrad Celtis.[7] Damit zeigte Celtis an, dass er nach dem Vorbild Apolls die Personalunion von Dichter und Sänger, die Einheit von Musik und Sprache anstrebte.
Bereits in seinem ersten gedruckten Werk » Ars versificandi et carminum (1486) nahm Celtis auf den Dichtergott Apoll Bezug, von dem er das Wissen um die metrischen Gesetze erhielt. In einer abschließenden Ode bat er den Gott, im Sinne einer Translatio artium, also eines Transfers der Künste, mit seiner Lyra in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu kommen.[8] Das Bildprogramm der Melopoiæ sowie die Bitte um die Lyra zeigen an, dass Celtis den musikalischen Vortrag lateinischer Dichtung als integrale Einheit ansah. Mit den Notenbeigaben der Melopoiæ gab er vor, wie dies klingt (siehe als Beispiel die ersten beiden Oden der Melopoiæ in » Abb. Mæcenas atavis und Iam satis terris sowie die Übertragung der ersten Ode in moderne Notenschrift in » Notenbsp. Mæcenas atavis).
Die von Celtis vorgelegten Modellvertonungen sind vierstimmig gehalten und folgen in der homophon-syllabischen Setzweise strikt der Metrik des Textes. Der vierstimmige Satz ist bis zum Ende des Gedichtes zu wiederholen. Mit der Drucklegung der Melopoiæ scheint für Celtis 1507 der Transfer der Lyra des Apoll in den deutsch-österreichischen Raum Wirklichkeit geworden zu sein, denn er schreibt im Vorwort:
„Terq[ue] quater felix nunc o Germanica tellus, Que graio & lacio carmina more canit.“[9]
(Drei- und viermal sei nun glücklich, o deutsches Land, das die Gesänge nach griechischer wie lateinischer Art singt.)[10]
Durch die strikte Umsetzung der Quantitäten in der Musik meint Conrad Celtis dem antiken Vortrag der lateinischen Dichtung gerecht geworden zu sein – Apoll wohnt nun im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.
[1] Birgit Lodes entthronte die » Melopoiæ als ersten Druck mit beweglichen Typen. Siehe Lodes 2001 sowie Lodes 2002.
[2] Siehe zum Kolophon der » Melopoiæ: Lodes 2010, 36 f.
[4] Zum Verhältnis von » Melopoiæ und » Harmoniæ vgl. Lodes 2010, 56 ff.
[5] Zur Deutung siehe Lodes 2010, 50 ff. sowie Luh 2001, insbesondere 210 ff.
[6] Ausführlich zum Apoll am Parnass: Luh 2001, 220 ff.
[8] Siehe hierzu ausführlich Robert 2003, 38–40 sowie 85–92.
[9] Celtis 1507, Titelseite (» Abb. Melopoiæ 1507 Titelblatt).
[10] Siehe auch Lodes 2010, 50.
[1] Birgit Lodes entthronte die » Melopoiæ als ersten Druck mit beweglichen Typen. Siehe Lodes 2001 sowie Lodes 2002.
[2] Siehe zum Kolophon der » Melopoiæ: Lodes 2010, 36 f.
[4] Zum Verhältnis von » Melopoiæ und » Harmoniæ vgl. Lodes 2010, 56 ff.
[5] Zur Deutung siehe Lodes 2010, 50 ff. sowie Luh 2001, insbesondere 210 ff.
[8] Siehe hierzu ausführlich Robert 2003, 38–40 sowie 85–92.
[9] Celtis 1507, Titelseite (» Abb. Melopoiæ 1507 Titelblatt).
[10] Siehe auch Lodes 2010, 50.
[11] Einen kurzen Überblick über Conrad Celtis’ Leben bietet beispielsweise Robert 2008. Vgl. auch Plieger 2012, 184 ff. Plieger kann zeigen, wie sehr Celtis auch im Totengedenken noch den Leiter der römischen Akademie, den dem Platonismus verbundenen Pomponius Laetus, nachahmt.
[12] Insbesondere war die römische Akademie unter Pomponius Laetus Vorbild. Siehe Mühlberger 2004, 766.
[13] Vgl. hierzu und u. a. zur Rolle Celtis’ bei der Gründung: Mühlberger 2004, 766.
[14] Müller 1987, 208 f., gibt einige wichtige Stichpunkte zum Gedechtnuswerk Maximilians.
[15] Siehe dazu Mühlberger 2004, 772.
[16] Jan-Dirk Müller formuliert das Paradox der höfischen Renaissancekultur folgendermaßen: „Nur die Antike, ihre Mythologie und ihr Formenkanon verleihen dem Hof und an seiner Spitze dem Herrscher Glanz und Ruhm, aber die Adaptation muss stets das Adaptierte zu überbieten behaupten.“ (Müller 2009, 5).
[17] Siehe Dietl 2005, 188 ff.
[18] Zur Verbindung des Ludus Dianæ (Celtis 1501) mit dem Parnass-Holzschnitt der Melopoiæ vgl. Luh 2001, 231 ff.
[19] Siehe die Edition und den Kommentar zur Musik in Gingerick 1940, 167ff.
[20] Schütz 1948, 112.
[21] Dietl 2005, 188 ff.
[22] Siehe zu diesem Aspekt Dietl 2005, 192 ff. sowie Müller 2009.
[23] Schütz 1948, 114 ff., sieht enge Verbindungen zwischen der Götterdarstellung in den Holzschnitten von Celtis’ Druckwerken und der Beschreibung der Darstellerkostüme im Spiel.
[24] Dietl 2005, 192. Zum Druck auch Müller 2009, 11 f.
[25] Frühere Übertragung: Liliencron 1890, 316.
[26] Siehe hierzu auch Müller 2009, insbesondere 7 f. Hier ist auch die Übersetzung der entsprechenden Stelle zu finden sowie eine Zusammenfassung des Dankgesanges.
[27] Übertragung aus Liliencron 1890, 359. Weitere Ausführungen finden sich ebd. 316.
[28] Zu den italienischen Festspielen als Konglomerat von Darstellung mythologischer Themen, Herrscherlob und Festbankett u. ä. siehe auch Dietl 2005, 188.
[29] Siehe das Inhaltsverzeichnis von Osthoff 1969, 5 f.
[30] Beispielsweise eine zu Ehren des Prinzen Federigo D’Aragona in Urbino 1474 aufgeführte dramatische Darstellung bezieht den gefeierten Prinzen mit ein. (Osthoff 1969, 3 ff.).
[31] Insbesondere Pomponius Laetus in Rom, dessen Schüler Celtis während seines Italienaufenthaltes war, bemühte sich um die Aufführung von antiken Dramen von Seneca und Terenz, inszenierte aber auch zeitgenössische Spiele. Dietl 2005, 189.
[32] Ausführlicher zum „italienischen Erbe“ in Conrad Celtis‘ musikalischem Odenverständnis sowie zur Kritik an der Idee, die vierstimmig-homophone, metrisch gesetzte Humanistenode sei eine eigene und abgeschlossene Gattung, siehe Andrea Horz, Lyra und Ode. Musik und Metrik in Wien um 1500 (Druckfassung des Vortrags in Vorbereitung).
[33] Osthoff 1969, 168 f.
[34] Dietl 2005, 20 ff.
[35] Dietl 2005, 160 f.
[36] Dietl 2005, 35 ff.
[37] Siehe den Hinweis in der Edition von Dietl 2005, 384 ff.
[38] Selbst die in Wien gedruckten Lautentabulaturen dieser Sätze von Hans Judenkünig dürfen nicht als Widerspruch zu Celtis‘ Idee gesehen werden. Vgl. die Sätze in folgenden Lautentabulaturen: » Hans Judenkünig, Utilis & compendiaria introductio, Wien: Johann Singriener? ca. 1515–1519; » Hans Judenkünig, Ain schone kunstlich underweisung, Wien: Johann Singriener 1523. Im Vorwort der Melopoiæ vermerkt Celtis explizit die Möglichkeit, den einstimmigen Gesang auf der Lyra zu begleiten. Darauf verweist auch Lodes 2010, 54.
[39] Vgl. Wälli 2002; Bobeth 2013; Barrett 2013.
[40] » I-TRbc 89, fol. 168v. Zu zwei Beispielen metrischer Umsetzung lateinischer Distichen (vor 1480) im „Glogauer Liederbuch“ (Saganer Stimmbücher, » PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098) und im Strahov-Codex (» F. Bohemian Sources) vgl. Strohm 1993, 538, und Strohm 2015.
[41] Der Anhang (sowie der Boethius-Druck) liegt heute in der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Handschrift 450. Weiteres siehe auch Brinzing 2001, 534 ff.
[42] Brinzing 2001, 531, relativiert bereits die Vorrangstellung von Tritonius, dem gemeinhin die Sätze der Melopoiæ zugeschrieben werden. Das Beispiel aus Irrsee ist ausführlich behandelt bei Bobeth 2010.
[43] Siehe hierzu Strohm 2015 sowie Strohm 1993, 538–539.
[44] Vgl. McDonald 2012, 72. Wahrscheinlich ist auch ein Horaz-Satz von Gräfinger überliefert, der bezeichnenderweise in Vadians Horaz-Ausgabe an den Rändern notiert ist. (Müller 2012, 149–160).
[45] Celtis 1507, fol. 144v.
[46] Siehe hierzu McDonald 2012, besonders 84 ff.
[47] Liliencron 1890, 314 ff.
[48] Celtis 1507, Inhaltsverzeichnis auf der zweiten Druckseite.
[49] Zum Spiel von Chelidonius (Chelidonius 1515) vgl. Dietrich 1959.
[50] Zur Übertragung: Liliencron 1890, 360. Weitere Ausführungen hierzu ebd., 317.
[51] Cochläus 1512, Cap. X.
[52] Zu Glareans Position siehe Horz 2012.
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Horz: „Odengesang bei den Humanisten“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/odengesang-bei-den-humanisten> (2016).