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Geschichtliche Vorläufer von Celtis‘ Oden

Andrea Horz

Im Schaffen von Celtis kreuzen sich mehrere Linien und Tendenzen des Odengesangs in Mittelalter und Renaissance. Lateinische Versdichtung nicht nur zu lesen, sondern auch zu singen, war eine im Vorwort formulierte Zielsetzung der Melopoiæ. Auch im Mittelalter gab es solche Bestrebungen. Es liegen mittelalterliche Handschriften vor, die auf den gesanglichen Vortrag lateinischer Dichtung hinweisen: Über den Texten von Horaz, Terenz, Boethius u. a. sind dort Neumenzeichen eingetragen. Anders als die von Celtis präsentierten Sätze war der Gesang freilich meist einstimmig und nahm wahrscheinlich keine Rücksicht auf das das Metrum .[39]

Aus dem 15. Jahrhundert bis zur Wende zum 16. Jahrhundert sind mehrstimmige Beispiele überliefert. In den Trienter Codices beispielsweise ist die Horazode Tu ne quaesieris in einem einfachen, wenig melismatischen vierstimmigen Satz erhalten, dessen Melodie das Metrum des Textes nicht berücksichtigt.[40] In verstreuten Quellen gibt es aber Hinweise, dass die Metrik als Determinante des musikalischen Satzes an verschiedenen Orten im deutschsprachigen Raum gepflegt wurde – wenngleich nicht immer als vierstimmiger Gesang. In einem heute in Freiburg befindlichen Anhang zur gedruckten Ausgabe von Boethius’ »  De consolatione philosophiae (Leipzig 1507) beispielsweise sind einstimmige Melodien sowie zwei- und vierstimmige Sätze zu den Metren notiert.[41]

Der Überlieferungsbefund legt außerdem nahe, dass die Sätze der Melopoiæ zur Zeit der Drucklegung bereits zirkulierten. In einer Handschrift aus dem Kloster Irsee sind vierstimmige Horazoden erhalten, die nahezu konkordant mit den Sätzen des Celtisdruckes sind. Doch zeigen die Anordnung und die unterlegten Texte, dass keine Abschrift vom Celtisdruck vorliegt, sondern sich das Repertoire offenbar schon vorher verbreitet hatte. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Melopoiæ als Überlieferung eines bereits vorhandenen Repertoires zu werten und nicht, wie häufig zu lesen ist, als Begründung einer Gattung.[42] Die musikalische Abbildung der Metrik – die Grundidee des von Celtis nachdrücklich akzentuierten Modells – ist auf italienischer Seite in den einstimmigen Melodien der » Grammatica brevis (Padua 1480) von Franciscus Niger zu finden. Damit ist nicht nur eine weitere Parallele zu italienischen Ideen manifest. Celtis griff auch eine Idee auf, die bereits unter den dem Habsburger Hof verbundenen Humanisten bekannt gewesen sein dürfte, denn Franciscus Niger pflegte insbesondere Kontakt zu Johannes Fuchsmagen, dem Kanzler von Erzherzog Sigmund von Tirol und später von Maximilian I.[43]

Um 1500 kursierten bereits verschiedene Modelle, wie Oden gesungen werden konnten. Mit den Melopoiæ setzte Celtis den Hauptakzent auf die vierstimmig-metrische Umsetzung von antiker Dichtung in der Musik. Die von Celtis in den Melopoiæ programmatisch vorgegebene Art, lateinische Dichtung zu singen, erscheint in der Folge nahezu als Markenzeichen der dem Wiener Humanistenverbund nahestehenden Personen. 1515 legte der Hofhaimerschüler und Organist zu St. Stephan Wolfgang Gräfinger beim Wiener Verleger Hieronymus Vietor unter dem Titel » Cathemerion vertonte Prudentiushymnen vor. Joachim Vadian, der von 1512–14 Celtis auf den Lehrstuhl an der Universität Wien folgte, regte die Drucklegung der nach dem Vorbild der Melopoiæ gestalteten vierstimmig homophon-metrischen Kompositionen an.[44] Dass Gedichte von frühchristlichen Autoren wie Prudentius auf diese Art gesungen werden könnten, hatte Celtis bereits in der Melopoiæ intendiert. Denn ein Register verzeichnet darin nicht nur die von ihm neu gedichteten Werke als Zwilling zu bestimmten Horazgedichten, sondern auch – wenngleich versteckt am Ende des Druckes – bekannte kirchliche Hymnen.[45]

[39] Vgl. Wälli 2002Bobeth 2013Barrett 2013.

[40] » I-TRbc 89, fol. 168v. Zu zwei Beispielen metrischer Umsetzung lateinischer Distichen (vor 1480) im „Glogauer Liederbuch“ (Saganer Stimmbücher, » PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098) und im Strahov-Codex (» F. Bohemian Sources) vgl. Strohm 1993, 538, und Strohm 2015.

[41] Der Anhang (sowie der Boethius-Druck) liegt heute in der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Handschrift 450. Weiteres siehe auch Brinzing 2001, 534 ff.

[42] Brinzing 2001, 531, relativiert bereits die Vorrangstellung von Tritonius, dem gemeinhin die Sätze der Melopoiæ zugeschrieben werden. Das Beispiel aus Irrsee ist ausführlich behandelt bei Bobeth 2010.

[43] Siehe hierzu Strohm 2015 sowie Strohm 1993, 538–539.

[44] Vgl. McDonald 2012, 72. Wahrscheinlich ist auch ein Horaz-Satz von Gräfinger überliefert, der bezeichnenderweise in Vadians Horaz-Ausgabe an den Rändern notiert ist. (Müller 2012, 149–160).

[45] Celtis 1507, fol. 144v.