Geschichtliche Vorläufer von Celtis‘ Oden
Im Schaffen von Celtis kreuzen sich mehrere Linien und Tendenzen des Odengesangs in Mittelalter und Renaissance. Lateinische Versdichtung nicht nur zu lesen, sondern auch zu singen, war eine im Vorwort formulierte Zielsetzung der Melopoiæ. Auch im Mittelalter gab es solche Bestrebungen. Es liegen mittelalterliche Handschriften vor, die auf den gesanglichen Vortrag lateinischer Dichtung hinweisen: Über den Texten von Horaz, Terenz, Boethius u. a. sind dort Neumenzeichen eingetragen. Anders als die von Celtis präsentierten Sätze war der Gesang freilich meist einstimmig und nahm wahrscheinlich keine Rücksicht auf das das Metrum .[39]
Aus dem 15. Jahrhundert bis zur Wende zum 16. Jahrhundert sind mehrstimmige Beispiele überliefert. In den Trienter Codices beispielsweise ist die Horazode Tu ne quaesieris in einem einfachen, wenig melismatischen vierstimmigen Satz erhalten, dessen Melodie das Metrum des Textes nicht berücksichtigt.[40] In verstreuten Quellen gibt es aber Hinweise, dass die Metrik als Determinante des musikalischen Satzes an verschiedenen Orten im deutschsprachigen Raum gepflegt wurde – wenngleich nicht immer als vierstimmiger Gesang. In einem heute in Freiburg befindlichen Anhang zur gedruckten Ausgabe von Boethius’ » De consolatione philosophiae (Leipzig 1507) beispielsweise sind einstimmige Melodien sowie zwei- und vierstimmige Sätze zu den Metren notiert.[41]
Der Überlieferungsbefund legt außerdem nahe, dass die Sätze der Melopoiæ zur Zeit der Drucklegung bereits zirkulierten. In einer Handschrift aus dem Kloster Irsee sind vierstimmige Horazoden erhalten, die nahezu konkordant mit den Sätzen des Celtisdruckes sind. Doch zeigen die Anordnung und die unterlegten Texte, dass keine Abschrift vom Celtisdruck vorliegt, sondern sich das Repertoire offenbar schon vorher verbreitet hatte. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Melopoiæ als Überlieferung eines bereits vorhandenen Repertoires zu werten und nicht, wie häufig zu lesen ist, als Begründung einer Gattung.[42] Die musikalische Abbildung der Metrik – die Grundidee des von Celtis nachdrücklich akzentuierten Modells – ist auf italienischer Seite in den einstimmigen Melodien der » Grammatica brevis (Padua 1480) von Franciscus Niger zu finden. Damit ist nicht nur eine weitere Parallele zu italienischen Ideen manifest. Celtis griff auch eine Idee auf, die bereits unter den dem Habsburger Hof verbundenen Humanisten bekannt gewesen sein dürfte, denn Franciscus Niger pflegte insbesondere Kontakt zu Johannes Fuchsmagen, dem Kanzler von Erzherzog Sigmund von Tirol und später von Maximilian I.[43]
Um 1500 kursierten bereits verschiedene Modelle, wie Oden gesungen werden konnten. Mit den Melopoiæ setzte Celtis den Hauptakzent auf die vierstimmig-metrische Umsetzung von antiker Dichtung in der Musik. Die von Celtis in den Melopoiæ programmatisch vorgegebene Art, lateinische Dichtung zu singen, erscheint in der Folge nahezu als Markenzeichen der dem Wiener Humanistenverbund nahestehenden Personen. 1515 legte der Hofhaimerschüler und Organist zu St. Stephan Wolfgang Gräfinger beim Wiener Verleger Hieronymus Vietor unter dem Titel » Cathemerion vertonte Prudentiushymnen vor. Joachim Vadian, der von 1512–14 Celtis auf den Lehrstuhl an der Universität Wien folgte, regte die Drucklegung der nach dem Vorbild der Melopoiæ gestalteten vierstimmig homophon-metrischen Kompositionen an.[44] Dass Gedichte von frühchristlichen Autoren wie Prudentius auf diese Art gesungen werden könnten, hatte Celtis bereits in der Melopoiæ intendiert. Denn ein Register verzeichnet darin nicht nur die von ihm neu gedichteten Werke als Zwilling zu bestimmten Horazgedichten, sondern auch – wenngleich versteckt am Ende des Druckes – bekannte kirchliche Hymnen.[45]
[39] Vgl. Wälli 2002; Bobeth 2013; Barrett 2013.
[40] » I-TRbc 89, fol. 168v. Zu zwei Beispielen metrischer Umsetzung lateinischer Distichen (vor 1480) im „Glogauer Liederbuch“ (Saganer Stimmbücher, » PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098) und im Strahov-Codex (» F. Bohemian Sources) vgl. Strohm 1993, 538, und Strohm 2015.
[41] Der Anhang (sowie der Boethius-Druck) liegt heute in der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Handschrift 450. Weiteres siehe auch Brinzing 2001, 534 ff.
[42] Brinzing 2001, 531, relativiert bereits die Vorrangstellung von Tritonius, dem gemeinhin die Sätze der Melopoiæ zugeschrieben werden. Das Beispiel aus Irrsee ist ausführlich behandelt bei Bobeth 2010.
[43] Siehe hierzu Strohm 2015 sowie Strohm 1993, 538–539.
[44] Vgl. McDonald 2012, 72. Wahrscheinlich ist auch ein Horaz-Satz von Gräfinger überliefert, der bezeichnenderweise in Vadians Horaz-Ausgabe an den Rändern notiert ist. (Müller 2012, 149–160).
[45] Celtis 1507, fol. 144v.
[1] Birgit Lodes entthronte die » Melopoiæ als ersten Druck mit beweglichen Typen. Siehe Lodes 2001 sowie Lodes 2002.
[2] Siehe zum Kolophon der » Melopoiæ: Lodes 2010, 36 f.
[4] Zum Verhältnis von » Melopoiæ und » Harmoniæ vgl. Lodes 2010, 56 ff.
[5] Zur Deutung siehe Lodes 2010, 50 ff. sowie Luh 2001, insbesondere 210 ff.
[8] Siehe hierzu ausführlich Robert 2003, 38–40 sowie 85–92.
[9] Celtis 1507, Titelseite (» Abb. Melopoiæ 1507 Titelblatt).
[10] Siehe auch Lodes 2010, 50.
[11] Einen kurzen Überblick über Conrad Celtis’ Leben bietet beispielsweise Robert 2008. Vgl. auch Plieger 2012, 184 ff. Plieger kann zeigen, wie sehr Celtis auch im Totengedenken noch den Leiter der römischen Akademie, den dem Platonismus verbundenen Pomponius Laetus, nachahmt.
[12] Insbesondere war die römische Akademie unter Pomponius Laetus Vorbild. Siehe Mühlberger 2004, 766.
[13] Vgl. hierzu und u. a. zur Rolle Celtis’ bei der Gründung: Mühlberger 2004, 766.
[14] Müller 1987, 208 f., gibt einige wichtige Stichpunkte zum Gedechtnuswerk Maximilians.
[15] Siehe dazu Mühlberger 2004, 772.
[16] Jan-Dirk Müller formuliert das Paradox der höfischen Renaissancekultur folgendermaßen: „Nur die Antike, ihre Mythologie und ihr Formenkanon verleihen dem Hof und an seiner Spitze dem Herrscher Glanz und Ruhm, aber die Adaptation muss stets das Adaptierte zu überbieten behaupten.“ (Müller 2009, 5).
[17] Siehe Dietl 2005, 188 ff.
[18] Zur Verbindung des Ludus Dianæ (Celtis 1501) mit dem Parnass-Holzschnitt der Melopoiæ vgl. Luh 2001, 231 ff.
[19] Siehe die Edition und den Kommentar zur Musik in Gingerick 1940, 167ff.
[20] Schütz 1948, 112.
[21] Dietl 2005, 188 ff.
[22] Siehe zu diesem Aspekt Dietl 2005, 192 ff. sowie Müller 2009.
[23] Schütz 1948, 114 ff., sieht enge Verbindungen zwischen der Götterdarstellung in den Holzschnitten von Celtis’ Druckwerken und der Beschreibung der Darstellerkostüme im Spiel.
[24] Dietl 2005, 192. Zum Druck auch Müller 2009, 11 f.
[25] Frühere Übertragung: Liliencron 1890, 316.
[26] Siehe hierzu auch Müller 2009, insbesondere 7 f. Hier ist auch die Übersetzung der entsprechenden Stelle zu finden sowie eine Zusammenfassung des Dankgesanges.
[27] Übertragung aus Liliencron 1890, 359. Weitere Ausführungen finden sich ebd. 316.
[28] Zu den italienischen Festspielen als Konglomerat von Darstellung mythologischer Themen, Herrscherlob und Festbankett u. ä. siehe auch Dietl 2005, 188.
[29] Siehe das Inhaltsverzeichnis von Osthoff 1969, 5 f.
[30] Beispielsweise eine zu Ehren des Prinzen Federigo D’Aragona in Urbino 1474 aufgeführte dramatische Darstellung bezieht den gefeierten Prinzen mit ein. (Osthoff 1969, 3 ff.).
[31] Insbesondere Pomponius Laetus in Rom, dessen Schüler Celtis während seines Italienaufenthaltes war, bemühte sich um die Aufführung von antiken Dramen von Seneca und Terenz, inszenierte aber auch zeitgenössische Spiele. Dietl 2005, 189.
[32] Ausführlicher zum „italienischen Erbe“ in Conrad Celtis‘ musikalischem Odenverständnis sowie zur Kritik an der Idee, die vierstimmig-homophone, metrisch gesetzte Humanistenode sei eine eigene und abgeschlossene Gattung, siehe Andrea Horz, Lyra und Ode. Musik und Metrik in Wien um 1500 (Druckfassung des Vortrags in Vorbereitung).
[33] Osthoff 1969, 168 f.
[34] Dietl 2005, 20 ff.
[35] Dietl 2005, 160 f.
[36] Dietl 2005, 35 ff.
[37] Siehe den Hinweis in der Edition von Dietl 2005, 384 ff.
[38] Selbst die in Wien gedruckten Lautentabulaturen dieser Sätze von Hans Judenkünig dürfen nicht als Widerspruch zu Celtis‘ Idee gesehen werden. Vgl. die Sätze in folgenden Lautentabulaturen: » Hans Judenkünig, Utilis & compendiaria introductio, Wien: Johann Singriener? ca. 1515–1519; » Hans Judenkünig, Ain schone kunstlich underweisung, Wien: Johann Singriener 1523. Im Vorwort der Melopoiæ vermerkt Celtis explizit die Möglichkeit, den einstimmigen Gesang auf der Lyra zu begleiten. Darauf verweist auch Lodes 2010, 54.
[39] Vgl. Wälli 2002; Bobeth 2013; Barrett 2013.
[40] » I-TRbc 89, fol. 168v. Zu zwei Beispielen metrischer Umsetzung lateinischer Distichen (vor 1480) im “Glogauer Liederbuch” (Saganer Stimmbücher, » PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098) und im Strahov-Codex (» F. Bohemian Sources) vgl. Strohm 1993, 538, und Strohm 2015.
[41] Der Anhang (sowie der Boethius-Druck) liegt heute in der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Handschrift 450. Weiteres siehe auch Brinzing 2001, 534 ff.
[42] Brinzing 2001, 531, relativiert bereits die Vorrangstellung von Tritonius, dem gemeinhin die Sätze der Melopoiæ zugeschrieben werden. Das Beispiel aus Irrsee ist ausführlich behandelt bei Bobeth 2010.
[43] Siehe hierzu Strohm 2015 sowie Strohm 1993, 538–539.
[44] Vgl. McDonald 2012, 72. Wahrscheinlich ist auch ein Horaz-Satz von Gräfinger überliefert, der bezeichnenderweise in Vadians Horaz-Ausgabe an den Rändern notiert ist. (Müller 2012, 149–160).
[45] Celtis 1507, fol. 144v.
[46] Siehe hierzu McDonald 2012, besonders 84 ff.
[47] Liliencron 1890, 314 ff.
[48] Celtis 1507, Inhaltsverzeichnis auf der zweiten Druckseite.
[49] Zum Spiel von Chelidonius (Chelidonius 1515) vgl. Dietrich 1959.
[50] Zur Übertragung: Liliencron 1890, 360. Weitere Ausführungen hierzu ebd., 317.
[51] Cochläus 1512, Cap. X.
[52] Zu Glareans Position siehe Horz 2012.
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Horz: “Odengesang bei den Humanisten”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/odengesang-bei-den-humanisten> (2016).