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Buch- und Schriftwesen

Reinhard Strohm

Die Kirchpröbste, die oft höhere Bildung besaßen, fühlten sich für die Ausstattung der Kirche und Schule mit Büchern verantwortlich. Traditionell waren europäische Chorschulen immer schon Zentren für Buch- und Schriftkultur gewesen. In Bozen wie anderswo wurden gegen Ende des 15. Jahrhunderts die zum praktischen rituellen Gebrauch verwendeten Bücher – wie Missalien, Antiphonare, Psalter usw. – zum Teil noch selbst geschrieben. Der Bedarf stieg jedoch so sehr an, dass sich in den Rechnungen Ausgaben für Kopieraufträge von auswärts sowie den Ankauf von Büchern häuften. Auch im administrativen Bereich – wie bei Rechnungsbüchern, Protokollen, Grundbucheinträgen, Urkunden – nahm der Schreibbedarf der Kirche stetig zu. Außer dem Schreiben verlangte die kostspielige Produktion und Erhaltung von Büchern natürlich den Ankauf von Pergament oder Papier, Schreibgerät, ledernen oder hölzernen Einbanddeckeln (die man vom Tischler bestellte) und Metallschließen sowie das oft mehrfache Binden oder Neubinden derselben Codices, wenn sie erweitert werden mussten. Hier sei der Inhalt der Codices besonders beachtet, weil er meist auch zu Aspekten der Musikpraxis führt.

Im Rechnungsbuch von 1485–86 vermerkt Kirchprobst Hans Rungkär (» I-BZac Hs. 649, fol. 40r): „So hab ich lassen Schreiben aus Mangel an neuen Sequencionarii Herrn Jacoben Gesellen auf der Pfarr gewesen der hat 22 Quatern hab ich ihm geben für Schreiben und Illuminieren von einem Quatern 30 gr. bringt 5 mr. 5 £.“

Ein Sequentionar ist normalerweise ein notiertes Chorbuch; der vormalige Gesellpriester Jacob (wirkte er inzwischen an einer anderen Kirche?) hatte wohl genügend musikalische Erfahrung, um die von ihm kopierten und „illuminierten“ Texte auch mit Noten zu versehen. Diese Auftragsarbeit brachte ihm 55 £ ein – wiederum weit mehr als das Jahresgehalt des Schulmeisters. Auf diesen 22 Quaternen (d. h. 176 Blättern, 352 Seiten) dürften etwa 30–40 Sequenzen Platz gefunden haben, wenn ein großformatiges Chorbuch gemeint war. Dies bedeutete eine beachtliche Erweiterung des offiziellen musikalischen Repertoires, selbst wenn die Stücke schon in anderen Abschriften verstreut existierten. Vermutlich wurden in dieser Zeit viele neue Sequenzen, die vor allem bestimmten Heiligen gewidmet waren, aus Quellen anderer Kirchen und Klöster in die Liturgie der Pfarrkirche aufgenommen und neu einstudiert.

Dass die Buchproduktion der Entwicklung des Rituals folgte, belegt u. a. ein Eintrag von 1475 (» I-BZac Hs. 641, fol. 4r), demzufolge ein Schreiber „auf der Schul“ einen Gesang zu Fronleichnam „brechen“ (d. h. mit Noten zu kopieren) hatte; er bekam für zwei Sexterne (24 Blätter, 48 S.) insgesamt 2 £ 6 gr. Das war Platz genug für das gesamte Fronleichnams-Offizium (hatte man es denn noch nicht?); wie im vorigen Fall ist anzunehmen, dass Format und Schriftgröße für ein großes, auf einem Pult aufgelegtes Chorbuch bestimmt waren. Manche Arbeiten wurden von Frauen ausgeführt; so bekam „die Ettenhoferin“ 1481–82 (» I-BZac Hs. 645, fol. 20v) 6 gr., „um 3 register in die großen Gesangbücher (zu) geben“. Der Pfarrer war ebenfalls behilflich, als er 1481–82 (Hs. 645, fol. 32r) ein Antiphonale, ein römisches Messbuch und ein (im Chor) angekettetes Brevier neu binden ließ sowie „an etlichen Büchern etwas gebessert“ hatte, wofür ihm 3 mr. 9 £ bezahlt bzw. erstattet wurden.

Mehrmals tritt der Kirchprobst selbst als Buchkäufer in Erscheinung. Im Rechnungsjahr 1485 (» I-BZac Hs. 648, fol. 41r) vermerkt Sigmund Zwickauer mit offenbarer Genugtuung, er habe auf dem Andreasmarkt (30. 11.?) für die Schule eine neue Grammatik um 1 £ 8 gr. gekauft; dazu „han ich kaufft ain hubsch buch für die schul genantt vocabularius mit vil hubschen dingen den schulern zu underweysung für 4 £“.

Gegen Ende des Jahrhunderts wurde das musikalische Schriftwesen ansatzweise „professionalisiert“, indem Spezialisten langfristig viele Aufträge erledigten und Musiker das Notieren besorgten. Ein „Johannes Schreiber“ erhielt 1488–89 (» I-BZac Hs. 652, fol. 26v) für seine Arbeit – wohl über lange Zeit hin – den beachtlichen Betrag von 41 mr. (= 410 £), den er quittierte, dazu 3 £ für eine Truhe, in die er die Quaternen zu legen hatte (zur Inspektion und zum nachfolgenden Binden). Das Pergament, bei zwei Pergamentmachern aus Kempten bestellt, belief sich auf insgesamt 325 Häute, zusammen 16 mr. 9 £ 8 gr. Dass der gesamte Aufwand für ein einziges Graduale bestimmt war, wie die Überschrift „Ausgebn auff das Gradual“ anzugeben scheint, mag verwundern: Es dürfte zumindest großformatig gewesen sein und für ein Ensemble von etwa acht Sängern gedient haben.[34]

„Johannes Buchschreiber“ arbeitete noch 1489–90 an einem Graduale; er war sicher identisch mit dem „Johannes Notisten“, der 1494–95 (» I-BZac Hs. 654, fol. 54r) eine Messe für St. Achatius mit 21 Kollekten (Gebeten) schrieb, und vielleicht auch mit dem „Johannes altisten“, der zur selben Zeit Zehrung sowie einen Rock aus Loferer Tuch bekam. Schon bald wurden auch liturgische Drucke angeschafft, so im Jahre 1501 (» I-BZac Hs. 658, fol. 41v) zwei gedruckte Messbücher für 7 £ aus Venedig, möglicherweise aus der damals schon tätigen Offizin des Druckers Lucantonio Giunta. Allerdings musste in Bozen der Dominikanermönch Niclaus die Codices erst noch binden (für 3 £), und „eine Frau“ bekam für das Schreiben der Register 3 £ 4 gr. (StA Bozen, Hs. 658, fol. 42v).

[34] Ein noch existierendes Graduale des 14. Jahrhunderts (I-BZmc Ms. 1304), das von einem Schreiber Ruotlibus (Ruodlieb) aus der Grafschaft Krain (Diözese Aquileja) angefertigt wurde und später nach Bozen gelangte, ist als Ms. 1304 des Stadtmuseums Bozen/Museo civico di Bolzano erhalten. Eine Faksimileausgabe durch Marco Gozzi und Giulia Gabrielli ist in Vorbereitung.