Sie sind hier

Geistliches Spiel und Umzug

Reinhard Strohm

Der Beginn der berühmten Bozner Spieltradition geht einer alten Chronik zufolge ins 14. Jahrhundert zurück: Schon 1340/41 soll der Vorsatz gefasst worden sein, alle drei Jahre ein Spiel für den Hl. Georg und die Hl. Margareta aufzuführen, was 1421 bestätigt worden sein soll.[38] Dieser Legende widersprach bereits 1736 der Stadtschreiber Paul Falser, der vergeblich nach diesbezüglichen Urkunden suchte.[39] Jedoch ist der Fronleichnamsumzug mit St. Georg, St. Margareta und dem Drachen (Lindwurm) sicher vor 1470 regelmäßig ausgeführt worden.

Bozen war zwischen etwa 1472 und 1525 der bedeutendste Spielort der sogenannten Tiroler Spieltradition (» H. Musik und Tanz in Spielen), deren Überlieferung zum größeren Teil aus geistlichen Spielen zu Herrenfesten (Passion, Auferstehung, Christi Geburt, Himmelfahrt, Fronleichnam) besteht. Von hier zu der Aussage, dass Bozen damals das überhaupt aktivste Zentrum des deutschsprachigen geistlichen Spiels gewesen ist, wäre es nur ein kleiner Schritt. Die Archivbelege des Bozner Spielbetriebs nehmen in der umfassenden Quellenedition von Bernd Neumann den bei weitem größten Raum deutschsprachiger Orte ein.[40] Ermöglicht wurde diese Praxis durch die Wirtschaftskraft der Stadt und die Theaterbegeisterung ihrer unentgeltlich mitwirkenden Bürger, die in den Spieltexten seit 1495 zu Dutzenden namentlich genannt sind.[41] Dazu kam die handwerkliche Ausstattung durch ortsansässige Maler, Tischler, Schneider, Schuster und andere bezahlte Handwerker und Arbeiter; ebenso wichtig war die Veranstaltung durch die Kirche, die künstlerische Leitung durch den Schulmeister und die musikalische Mitwirkung von Kirchensängern. Wie weit die jährlich wiederkehrende Veranstaltung der Spiele um 1500 das soziale Gefüge der Stadtbevölkerung sowohl heranzog als auch repräsentierte, wurde von Hannes Obermair auf Basis der Rollenverzeichnisse eingehend dargestellt.[42]

In den Kirchprobstrechnungen[43] wird erstmalig 1472 ein „spill“ zu Fronleichnam (Corpus Christi) erwähnt, 1475 kommt dazu ein Osterspiel, das damals erst „gemustert“ wurde:

 

Abb. Ausgaben zum Osterspiel

Abb. Ausgaben zum Osterspiel

Kirchprobstrechnung Bozen 1475 (» I-BZac Hs. 641, fol. 14v–15r; die Beschriftung der zwei Seiten steht auf dem Kopf): „Vermerckt wass auff das Osterspill gangen ist“.

(Die beiden letzten Einträge auf der rechten Seite gehören nicht zum Osterspiel, sondern zu Fronleichnam: „Spielleute“ und andere erhalten eine Zehrung nach dem Umgang („Protzess“) mit dem Lindwurm; der Maler Narziss malt und repariert Lindwurm, Kronen und Diademe.)

 

Der Hauptdarsteller am Fronleichnamstag  – jedenfalls in visueller Hinsicht – war der Lindwurm. Er bestand aus Holz und einer bemalten Leinwand, unter der die Träger einhergingen, begleitet von Spielleuten, Fahnen und dem Hl. Sakrament.[44] Zur Reparatur des Lindwurms wurden Tischler und Maler fast jedes Jahr neu herangezogen, 1481 wurde er z. B. „verlängert“. Die Jungfrau St. Margareta unter einem Baldachin und St. Georg in voller Rüstung mit Gefolge wurden ebenfalls in der Prozession mitgeführt. Der Begründer der Sterzinger Spielsammlung, der Maler Vigil Raber, hat noch während seiner Bozner Zeit (1515) am Lindwurm gemalt.[45] Dieses älteste Bozner Umgangsspiel am Fronleichnamsfest wurde sicher von der gleichnamigen Bruderschaft aufgeführt, jedoch seit spätestens 1472 von der Kirche finanziert. Dass kein Text davon erhalten ist, könnte bedeuten, dass keiner festgelegt war: Es war eher ein öffentlicher Umzug als ein Spiel.

[38] Vgl. Ferdinand Troyer OFMChronik der Stadt Bozen, Bozen 1648, nach: Atz/Schatz 1903, 13–14.

[39] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 246.

[40] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 130–246. Die Kirchprobstrechnungen sind die Hauptquelle dieser Nachweise.

[41] Zur Verbindung zwischen kirchlichem Spiel und Stadtbürgerschaft vgl. besonders Obermair 2004.

[42] Vgl. Obermair 2004.

[43] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 131, Anm. 73, gibt an, er habe alle Kirchprobstrechnungen des Bozner Stadtarchivs durchgesehen, doch sei ihm (vor 1987) die Auswertung der Ratsprotokolle nicht ermöglicht worden. Ich danke Archivdirektor Dr. Hannes Obermair für den Zugang auch zu letzteren, die jedoch über die Spiele keine Auskunft geben.

[44] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 132f.

[45] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 212.