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Der mehrstimmige cantus planus

Reinhard Strohm

Alexander Rausch erinnert zu Recht daran, dass die Musikpraxis der klösterlichen Mehrstimmigkeit für die Ausführenden und Hörer ihrer eigenen Zeit wohl eher kunstvoll und festlich geklungen haben dürfte als “primitiv”, “archaisch”, “peripher” oder “retrospektiv” (» A. Kap. Klösterliche Mehrstimmigkeit – primitiv und archaisch?). Die letzteren Bezeichnungen für solche Musik wurden von Forschern des 20. Jahrhunderts eingeführt, die gelegentlich, um eine negative Wertung auszuschließen, auch Begriffe wie “einfach”, “früh”, “liturgisch”, „organal“, “usuell” oder gar “bodenständig” verwendeten. In der Pluralität der Bezeichnungen spiegelt sich ein Interesse der internationalen Forschung des 20. Jahrhunderts, das freilich außerhalb von Spezialstudien noch wenig zur Sprache gekommen ist.[1] Der Grund dafür ist leicht zu erkennen: “Mittelalterliche Musik” wird in die Bereiche “einstimmig” und “mehrstimmig” eingeteilt. Den ersteren Bereich bildet die große Tradition des lateinischen Kirchenchorals und die volkssprachliche Sangdichtung (Troubadours, Minnesänger usw.); der letztere ist die Polyphonie seit dem Organum der Karolingerzeit, die sich über die Kunst der Notre-Dame-Schule und der Ars Nova des 14. Jahrhunderts zur Renaissance-Polyphonie und zur heutigen Musik fortentwickelte. “Einfache” Mehrstimmigkeit kann in diesem allgemeinen Schema nur den Platz einer zweitrangigen Variante der kunstvollen Mehrstimmigkeit einnehmen. Ihr fehlt einerseits die Würde des unbegleiteten Kirchenchorals, andererseits die künstlerische Fortschrittlichkeit der Polyphonie.[2]

Musikhandschriften, Traktate sowie archivalische und literarische Quellen der Zeit selbst unterscheiden jedoch weniger deutlich zwischen “Monophonie” und “Polyphonie”; keiner der beiden Begriffe war damals im Gebrauch. Die zeitgenössischen Begriffe “diaphonia”, “organum” oder “discantus” (mit ihren Varianten) bezogen sich auf spezifische Techniken innerhalb des Bereichs, den wir unter Polyphonie verstehen. Andererseits war der cantus planus, das überkommene Repertoire des liturgischen Chorals, nicht auf eine einzige Vortragsweise beschränkt. Der Choral konnte in besonderen Fällen verziert oder instrumental (vorzugsweise mit der Orgel) begleitet werden, so wie er auch häufig mit textlichen und musikalischen Zusätzen (Tropen) ausgestattet wurde.[3] Stimmverdopplungen im Quint- und Oktavabstand, ja sogar in wechselnden Intervallen, hoben den Charakter des cantus planus nicht unbedingt auf. Der scheinbar widersprüchliche Name “cantus planus binatim” (“Choralgesang zweifach”) von Prosdocimus de Beldemandis, um 1410, bestätigt diesen Zusammenhang.[4]

Wie Rausch darlegt (» A. Kap. Zweistimmiges Singen) wurde mehrstimmiges Singen im Gottesdienst in den einstimmigen Vortrag mancher Gesänge eingebettet. Als eine Art ad-libitum-Vortragsweise war es nicht auf bestimmte Gattungen beschränkt, obwohl es für einige Gattungen der Messe und des Stundengebets bevorzugt wurde. Die Praxis war regional und chronologisch unterschiedlich; kaum ein einziger Gesang ist mehrstimmig überliefert, der nicht anderswo auch einstimmig vorgetragen wurde. Sehr wahrscheinlich wurden oftmals zusätzliche Stimmen extemporiert, die man nicht notierte.

Nach Theodor Göllner hatte die “frühe Mehrstimmigkeit” (wie er sie nannte) vor allem den Zweck, “eine gegebene Melodie in einen Klang einzubetten”.[5] Diese Bereicherung oder Ausschmückung des Melodievortrags durch Zusatzstimmen förderte die Lebendigkeit des Ritus; sie existierte neben anderen festlichen Vortragsarten wie Verzierung, Tropierung, Instrumentalbegleitung, kontrapunktischen Formen wie Organum und Discantus, oder einstimmig-rhythmisiertem Vortrag (vgl. » A. Cantus fractus). Rhythmus und Deklamation waren jedoch vom Wortvortrag bestimmt, nicht durch schriftlich fixierte Rhythmen individuell verändert. Diese Art der Mehrstimmigkeit nimmt deshalb einen Platz unter anderen Ausführungsweisen des Kirchenchorals ein, die alle zu verschiedenen Zeiten und in mehr oder weniger kunstvollen Formen geübt wurden, ohne einen eigenen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Polyphonie zu beanspruchen. Vgl. » Abb. Ausführungsweisen des Kirchenchorals.[6]

 

 

[1] Es überwiegen Mitteilungen über einzelne Quellen und Quellengruppen: z.B. Handschin 1928Wolf 1937Feldmann 1938Harrison 1965Strohm 1966Strohm 1967Strohm 1993 (S. 333-339), Ciliberti 1994Celestini 1995 und 2002Lovato 1996Stenzl 2000Hascher-Burger 2002Ciglbauer 2017. Grundlegende Monographien: Geering 1952Göllner 1961 und 1969. Weitere Quellenstudien und grundlegende Betrachtungen erschienen in den Sammelbänden Corsi-Petrobelli 1989Cattin-Gallo 2002; vgl. besonders Gallo 1989Flotzinger 1989Flotzinger 1995 (1. Ausg. 1977). Quelleneditionen und Faksimiles: Gallo-Vecchi 1968Dömling 1972Arlt-Stauffacher 1986Göllner, M.L. 1993. Internationale Inventare: Reaney 1969 (RISM B IV/2); Fischer-Lütolf 1972 (RISM B IV/3-4). Neuere Studien: Hascher-Burger 2005Rausch 2014 » A. Klösterliche Mehrstimmigkeit: Grundlagen.

[2] Vgl. u.a. die Kritik an dieser Auffassung bei Flotzinger 1989, S. 60-61. Analoge Randerscheinungen in der Musikhistoriographie sind das nichtliturgische lateinische Lied und die Instrumentalmusik, die meist nur insoweit Erwähnung finden, als schriftliche Musiknotate vorhanden sind.

[3] Zum Begriff des Tropus und Beispielen vgl. » A. Gesänge zu Weihnachten.

[4] Gallo 1989.

[5] Göllner 1961, S. 145-146; vgl. auch die Beispielbeschreibungen S. 40-60.

[6] Abb. nach Strohm 2020.