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Klösterliche Mehrstimmigkeit – primitiv und archaisch?

Alexander Rausch

Im Spätmittelalter konzentrierte sich das Musikleben in Klöstern naturgemäß auf liturgische Einstimmigkeit, vor allem auf den Gregorianischen Choral, doch war es in den meisten Zentren eine selbstverständliche Gewohnheit, höhere Feste musikalisch stärker auszuschmücken. Die verschiedenen Formen der festlichen Erhöhung, des „Schmuckes“ (ornatus) an „duplex“- oder „semiduplex“-Festtagen (entsprechend der liturgischen Festtags-Rangordnung), wie z. B. Weihnachten oder Kirchweih, können unter dem Begriff „Tropus“ zusammengefasst werden. Ein Tropus im engeren Sinn ist eine textlich-melodische Erweiterung und Kommentierung des traditionellen Chorals, im weiteren Sinn jede Art von textlichem und/oder musikalischem Zusatz zu einem präexistenten Gesang. Das Verfahren der Tropierung schließt auch mehrstimmige Formen des liturgischen Singens ein, die in Klöstern zwar in der normalen Praxis unerwünscht, unter bestimmten Bedingungen aber durchaus toleriert und sogar Usus waren. Gemeint ist eine auf Quint- und Oktavparallelen basierende liturgische Mehrstimmigkeit, in der Regel Zweistimmigkeit, die zumeist ohne rhythmische Präzisierungen auskommt und – zumindest in Zentraleuropa – fast ausschließlich in Klöstern überliefert ist.[1] Die heutigen Bezeichnungen für diese Form des Discantus (wie mehrstimmiges Singen allgemein von den Zeitgenossen genannt wurde) sind teils abwertend, teils gehen sie an der Sache vorbei.

Tatsache ist, dass kaum ein Korpus innerhalb der Musik des Mittelalters von der früheren Forschung so negativ bewertet wurde wie die sogenannte einfache, nichtmensurale Mehrstimmigkeit (engl. „simple polyphony“) – wobei es übrigens auch verwandte mensural notierte Quellen gibt.[2] Keinesfalls soll gegen den offenkundigen Befund polemisiert werden, dass zweistimmige Vortragsweisen auf Quintbasis in musikalischer Hinsicht elementar sind. Die Frage ist nur, ob die Betonung der anspruchslosen musikalischen Faktur einen adäquaten Zugang zu diesem Korpus darstellt. Während die Bezeichnung „einfach“ noch akzeptabel ist, obwohl der Vergleich zur hohen Kunst der Ars nova (» C. Ars antiqua und Ars nova) auf einer schiefen Ebene angesiedelt ist, hat die Einschätzung als „archaisch“ bzw. „retrospektiv“ weniger historische Argumente auf ihrer Seite. So wie die liturgischen Sätze den Zeitgenossen schwerlich „simpel“ vorkamen, da sie sich im liturgischen Geschehen vom einstimmigen Choral (cantus planus) mehr oder weniger kunstvoll abhoben – immerhin enthielt die Melker Reform ein Verbot derartiger mehrstimmiger Praktiken (» A. Melker Reform) –, genauso wenig werden sie von den damaligen Akteuren als „retrospektiv“ empfunden worden sein. Ganz ähnlich wird auch unsere Beurteilung dieser Discantus-artigen Formen als „peripher“, sofern sie nicht eine Metapher für ästhetische Inferiorität ist, von der zentralen Warte des Pariser Notre Dame-Repertoires (12.–13. Jahrhundert) aus getroffen. Regionale Marginalität, historische Rückschrittlichkeit und satztechnische Simplizität korrelieren letztlich mit dem historisch-ästhetischen Verdikt: die in ganz Europa vom 13. bis zum 16. Jahrhundert gepflegte liturgische Mehrstimmigkeit sei „primitiv“.

[1] Das Repertoire wird überblicksweise dargestellt bei Flotzinger 1989Geering 1952 (für das gesamte deutsche Sprachgebiet).Vgl. auch Fischer/Lütolf 1972 ( RISM BIV). Während sich seit dem 14. Jahrhundert die Praxis in Zentraleuropa auf Klöster, auch solche der Bettelorden (vor allem der Dominikaner und Franziskaner), konzentriert zu haben scheint, zeigt sich in Italien eine Dominanz der letzteren, neben einigen Kathedralen (wie Aosta, Cividale oder Padua); vgl. Gallo 1989.

[2] Vgl. Bent 1989.