Theorielose Mehrstimmigkeit?
Die Bedeutung der Klanglichkeit, Stimmkreuzungen und Spiegelungen führen zur Frage, ob die Musiklehre Aussagen über das klösterliche mehrstimmige Repertoire macht, wie es beim sogenannten Quintieren (engl. „fifthing“[5]), bei den Organumtraktaten, Discantus- und Kontrapunktlehren der Fall ist. Bisher wurde die klösterliche Mehrstimmigkeit auch deshalb als primitiv oder archaisch angesehen, weil sie anscheinend theoriefern ist. Dies trifft in einem satztechnischen Sinn zu: Wie bereits angedeutet, kommt es nicht so sehr auf die einzelne lineare Stimmführung an, sondern auf das klangliche Ergebnis, das aus den beteiligten Stimmen oder Registern resultiert. Dieses Ergebnis wirkt jedoch eher zufällig entstanden als durch Regeln (wie in der sogenannten Klangschrittlehre) determiniert. In einem übertragenen Sinn kann das folgende Zitat aus dem Micrologus des Guido von Arezzo auch auf die in den vorigen Kapiteln behandelten Beispiele bezogen werden:
„Item ut qualem ambitum vel lineam una facit saliendo ab acutis, talem altera inclinata e regione opponat respondendo a gravibus, sicut fit, cum in puteo nos imaginem nostram contra exspectamus.“[6]
(So wie eine [Stimme] eine melodische Kontur oder Linie durch Herabsteigen aus der Höhe beschreibt, während die andere, ihr entgegengewandt, aus der Tiefe antwortet, so ist es, wenn wir im Brunnen ein Gegenbild unserer selbst erblicken können.)
Wie wir in einem Brunnen unser Spiegelbild seitenverkehrt erblicken (so Guidos Vergleich), hören wir Gegenbewegungen, Umkehrungen, Axialspiegelungen und Symmetrien. Nur dass eben beim simultanen Aufeinandertreffen Bild und Gegenbild zusammenfallen: ein Vergleich, der den damaligen Menschen vielleicht näher stand als so manche moderne Analysen.
[5] Vgl. Fuller 1978.
[6] [Guido d’Arezzo] 1951, S. 169.
[1] Das Repertoire wird überblicksweise dargestellt bei Flotzinger 1989; Geering 1952 (für das gesamte deutsche Sprachgebiet).Vgl. auch Fischer/Lütolf 1972 ( RISM BIV). Während sich seit dem 14. Jahrhundert die Praxis in Zentraleuropa auf Klöster, auch solche der Bettelorden (vor allem der Dominikaner und Franziskaner), konzentriert zu haben scheint, zeigt sich in Italien eine Dominanz der letzteren, neben einigen Kathedralen (wie Aosta, Cividale oder Padua); vgl. Gallo 1989.
[3] Zu dem Sanctus in A-VOR 22 existieren einige Konkordanzen in Zentraleuropa. Zur Version in Frankfurt am Main, Stadt- und Universitätsbibliothek, Leonh. 13 (D-F Leonh. 13), fol. 265v–266r (Mainzer Graduale, ca. 1525) bemerkt Strohm 1989, S. 86 (mit Notenbeispiel S. 93): “Das Sanctus basiert nicht auf einer präexistenten liturgischen Melodie, sondern ist nach dem Prinzip des Stimmtauschs konstruiert, der zum Teil andere melodische Formeln verlangt als diejenigen des ersten Kirchentons.” Die Stimmen werden im Mainzer Graduale nachträglich (und sozusagen hyperkorrekt) als Discantus und Tenor bezeichnet.
[4] Erlangen, Universitätsbibliothek (D-Eu), Hs. 464 (süddeutsch, 15. Jahrhundert); siehe Thannabaur 1962, S. 112 (Melodie 6, 105D).
[5] Vgl. Fuller 1978.
[6] [Guido d’Arezzo] 1951, S. 169.