You are here

Theorielose Mehrstimmigkeit?

Alexander Rausch

Die Bedeutung der Klanglichkeit, Stimmkreuzungen und Spiegelungen führen zur Frage, ob die Musiklehre Aussagen über das klösterliche mehrstimmige Repertoire macht, wie es beim sogenannten Quintieren (engl. „fifthing“[5]), bei den Organumtraktaten, Discantus- und Kontrapunktlehren der Fall ist. Bisher wurde die klösterliche Mehrstimmigkeit auch deshalb als primitiv oder archaisch angesehen, weil sie anscheinend theoriefern ist. Dies trifft in einem satztechnischen Sinn zu: Wie bereits angedeutet, kommt es nicht so sehr auf die einzelne lineare Stimmführung an, sondern auf das klangliche Ergebnis, das aus den beteiligten Stimmen oder Registern resultiert. Dieses Ergebnis wirkt jedoch eher zufällig entstanden als durch Regeln (wie in der sogenannten Klangschrittlehre) determiniert. In einem übertragenen Sinn kann das folgende Zitat aus dem Micrologus des Guido von Arezzo auch auf die in den vorigen Kapiteln behandelten Beispiele bezogen werden:

„Item ut qualem ambitum vel lineam una facit saliendo ab acutis, talem altera inclinata e regione opponat respondendo a gravibus, sicut fit, cum in puteo nos imaginem nostram contra exspectamus.“[6]

(So wie eine [Stimme] eine melodische Kontur oder Linie durch Herabsteigen aus der Höhe beschreibt, während die andere, ihr entgegengewandt, aus der Tiefe antwortet, so ist es, wenn wir im Brunnen ein Gegenbild unserer selbst erblicken können.)

Wie wir in einem Brunnen unser Spiegelbild seitenverkehrt erblicken (so Guidos Vergleich), hören wir Gegenbewegungen, Umkehrungen, Axialspiegelungen und Symmetrien. Nur dass eben beim simultanen Aufeinandertreffen Bild und Gegenbild zusammenfallen: ein Vergleich, der den damaligen Menschen vielleicht näher stand als so manche moderne Analysen.