Melodie und Klang: Vorau
Beim Repertoire der usuellen Mehrstimmigkeit, wie sie in österreichischen Klöstern praktiziert wurde, ist die Klanglichkeit von primärer Bedeutung, nicht die einzelne melodische Bewegung für sich (vgl.» A. Klösterliche Mehrstimmigkeit. Arten). In manchen Fällen ist nicht einmal klar, welche der beiden Stimmen die sogenannte vox principalis ist. Die Funktionen der Stimmen können durchaus – und in ein und demselben Stück mehrmals – vertauscht werden. Dies ist z. B. bei einer Sanctus-Vertonung aus dem Augustiner-Chorherrenstift Vorau (» A-VOR 22, Nachsatzblatt; » Abb. Sanctus A-VOR 22, » Notenbsp. Sanctus A-VOR 22) der Fall, die sich durch eine sogar für dieses Repertoire erstaunliche Ökonomie der Mittel auszeichnet: Die drei Sanctus-Rufe sind musikalisch identisch, ebenso die Abschnitte „Dominus deus“, „Pleni“, „Osanna“ und „Benedictus“, die alle dem Sanctus entsprechen (allenfalls mit einer einleitenden Rezitation). Die einzige Abwechslung (für die Sänger, nicht für die Hörer!) bringt das Verfahren des Stimmtauschs mit sich (Ober- und Unterstimme wechseln jeweils). Dabei ist dieses Stück so konstruiert, dass sich Spiegelungen und Stimmkreuzungen ergeben, wobei die Stimmbewegungen von Oktaven über den Quintklang d–a in unisone Töne (f und g) fallen, um über die Quintachse und weitere Quintparallelen wieder den Oktavklang d–d‘ anzustreben[3]. Aus diesem Grund ist die Annahme plausibel, dass bei diesem Sanctus eine Neuvertonung im Hinblick auf den zweistimmigen Satz vorliegt und keine präexistente Melodie bearbeitet wurde. In einer anderen Quelle hat der Schreiber die Unterstimme bewusst oder aus Unverständnis entfernt, also nachträglich eine einstimmige Version geschaffen.[4]
[3] Zu dem Sanctus in A-VOR 22 existieren einige Konkordanzen in Zentraleuropa. Zur Version in Frankfurt am Main, Stadt- und Universitätsbibliothek, Leonh. 13 (D-F Leonh. 13), fol. 265v–266r (Mainzer Graduale, ca. 1525) bemerkt Strohm 1989, S. 86 (mit Notenbeispiel S. 93): “Das Sanctus basiert nicht auf einer präexistenten liturgischen Melodie, sondern ist nach dem Prinzip des Stimmtauschs konstruiert, der zum Teil andere melodische Formeln verlangt als diejenigen des ersten Kirchentons.” Die Stimmen werden im Mainzer Graduale nachträglich (und sozusagen hyperkorrekt) als Discantus und Tenor bezeichnet.
[4] Erlangen, Universitätsbibliothek (D-Eu), Hs. 464 (süddeutsch, 15. Jahrhundert); siehe Thannabaur 1962, S. 112 (Melodie 6, 105D).
[1] Das Repertoire wird überblicksweise dargestellt bei Flotzinger 1989; Geering 1952 (für das gesamte deutsche Sprachgebiet).Vgl. auch Fischer/Lütolf 1972 ( RISM BIV). Während sich seit dem 14. Jahrhundert die Praxis in Zentraleuropa auf Klöster, auch solche der Bettelorden (vor allem der Dominikaner und Franziskaner), konzentriert zu haben scheint, zeigt sich in Italien eine Dominanz der letzteren, neben einigen Kathedralen (wie Aosta, Cividale oder Padua); vgl. Gallo 1989.
[3] Zu dem Sanctus in A-VOR 22 existieren einige Konkordanzen in Zentraleuropa. Zur Version in Frankfurt am Main, Stadt- und Universitätsbibliothek, Leonh. 13 (D-F Leonh. 13), fol. 265v–266r (Mainzer Graduale, ca. 1525) bemerkt Strohm 1989, S. 86 (mit Notenbeispiel S. 93): “Das Sanctus basiert nicht auf einer präexistenten liturgischen Melodie, sondern ist nach dem Prinzip des Stimmtauschs konstruiert, der zum Teil andere melodische Formeln verlangt als diejenigen des ersten Kirchentons.” Die Stimmen werden im Mainzer Graduale nachträglich (und sozusagen hyperkorrekt) als Discantus und Tenor bezeichnet.
[4] Erlangen, Universitätsbibliothek (D-Eu), Hs. 464 (süddeutsch, 15. Jahrhundert); siehe Thannabaur 1962, S. 112 (Melodie 6, 105D).
[5] Vgl. Fuller 1978.
[6] [Guido d’Arezzo] 1951, S. 169.