Weihnachtliches Hohelied: Göttweig
Bei dem Text Procedentem sponsum de thalamo handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Hohelied Salomons. Liturgisch gehört er zur Weihnachtsmesse, und zwar als Tropus zum abschließenden Benedicamus domino, das durch die auf „-o“ reimenden Verse eingeleitet wird. Im Seckauer Cantionale von 1345 (» A-Gu Cod. 756: » A. Weihnachtsgesänge) ist eine zweistimmige Version des Procedentem sponsum enthalten, allerdings neumiert, d. h. ohne Kenntnis der nicht-notierten Tonhöhen nicht ausführbar. Die linienlosen Neumen dienen in erster Linie als Gedächtnisstütze, was die Nähe zum und die Abhängigkeit vom Gregorianischen Choral anschaulich macht. Noch weniger Information findet sich in einer bisher unbeachteten Aufzeichnung aus der Abtei Mondsee (» A-Wn Cod. 3586, fol. 162v) ohne musikalische Notation – die Noten wurden nicht aufgeschrieben, da der Gesang ohnehin bekannt war. In Handschriften des späten 14. und 15. Jahrhunderts, wie z. B. einer Sammlung aus Südtirol (» A-Iu Cod. 457, fol. 72r–72v), ist das Lied zweistimmig auf Linien notiert. Aus dem Stift Göttweig (» A-GO Cod. 307, S. 264) kennen wir eine Version des späten 15. Jahrhunderts, die beide Stimmen zur ersten Strophe wiedergibt, für eine weitere Strophe nur den Text. (» Notenbsp. Procedentem sponsum; Hörbsp. ♫ Procedentem sponsum).
Text des Tropus:
Procedentem sponsum de thalamo
Quem progressum divina gracia
Prophetavit scriba cum calamo
Stricta ligat in cunis fascia
Ergo benedicamus domino.
(Den Bräutigam, der aus dem Brautgemach hervortritt, dessen Auftritt durch Gottes Gnade der Schreiber mit dem Griffel prophezeite, bindet in der Krippe die enge Windel: So lasst uns den Herrn loben.)
[1] Das Repertoire wird überblicksweise dargestellt bei Flotzinger 1989; Geering 1952 (für das gesamte deutsche Sprachgebiet).Vgl. auch Fischer/Lütolf 1972 ( RISM BIV). Während sich seit dem 14. Jahrhundert die Praxis in Zentraleuropa auf Klöster, auch solche der Bettelorden (vor allem der Dominikaner und Franziskaner), konzentriert zu haben scheint, zeigt sich in Italien eine Dominanz der letzteren, neben einigen Kathedralen (wie Aosta, Cividale oder Padua); vgl. Gallo 1989.
[3] Zu dem Sanctus in A-VOR 22 existieren einige Konkordanzen in Zentraleuropa. Zur Version in Frankfurt am Main, Stadt- und Universitätsbibliothek, Leonh. 13 (D-F Leonh. 13), fol. 265v–266r (Mainzer Graduale, ca. 1525) bemerkt Strohm 1989, S. 86 (mit Notenbeispiel S. 93): “Das Sanctus basiert nicht auf einer präexistenten liturgischen Melodie, sondern ist nach dem Prinzip des Stimmtauschs konstruiert, der zum Teil andere melodische Formeln verlangt als diejenigen des ersten Kirchentons.” Die Stimmen werden im Mainzer Graduale nachträglich (und sozusagen hyperkorrekt) als Discantus und Tenor bezeichnet.
[4] Erlangen, Universitätsbibliothek (D-Eu), Hs. 464 (süddeutsch, 15. Jahrhundert); siehe Thannabaur 1962, S. 112 (Melodie 6, 105D).
[5] Vgl. Fuller 1978.
[6] [Guido d’Arezzo] 1951, S. 169.