Ein isoliertes Repertoire?
Bei der klösterlichen Mehrstimmigkeit scheint es sich um ein isoliertes Korpus zu handeln: Zwar existieren zwischen mehreren Gesängen zahlreiche interne Beziehungen, und Konkordanzen sind sowohl innerhalb der Region Österreich als auch in anderen europäischen Ländern weit verbreitet. Jedoch gibt es kaum Verbindungen zu anderen mehrstimmigen Repertoires. Die charakteristische Klanglichkeit der liturgischen Mehrstimmigkeit changiert zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Komposition und Improvisation. Bei genauerer Betrachtung der Quellen wird deutlich, in welchem Ausmaß die verschiedenen Notationssysteme Raum für die orale Tradierung lassen, ungleich mehr als in anderen polyphonen Genres. Häufig ist gerade der Rhythmus in der schriftlichen Überlieferung nicht fixiert. Viele Stücke sind in den Handschriften vereinzelt notiert, als Nachträge und Ergänzungen. Eine der wenigen Ausnahmen, der Cod. 457 der Universitätsbibliothek Innsbruck (» A-Iu Cod. 457, gegen 1400 und 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts), stellt eine Sammlung von Tropen, Responsorien, Cantiones, Conducti und Motetten dar, ferner von Ordinariumssätzen im cantus fractus-Stil (» A. Rhythmischer Choralgesang) und zweistimmigen Gesängen wie Kyrietropen oder Lektionen. Ein früherer Aufbewahrungsort, vermutlich das Augustiner-Chorherrenstift Neustift bei Brixen (» K. Der Innsbrucker Cantionarius), spielt in der Biographie Oswalds von Wolkenstein eine wichtige Rolle, auch wenn die beiden Musikhandschriften mit Oswalds Liedern (» B. Oswalds Lieder) nicht im dortigen Skriptorium entstanden sind. Es ist denkbar, dass Oswald bei seinen zweistimmigen Kompositionen oder Adaptierungen auch von diesem Repertoire inspiriert wurde. Die Praxis, einstimmige liturgische Melodien zweistimmig zu singen, muss jedenfalls viel verbreiteter gewesen sein, als die etwa 100 aus Österreich bekannten Stücke (inklusive Konkordanzen) es nahelegen.
[1] Das Repertoire wird überblicksweise dargestellt bei Flotzinger 1989; Geering 1952 (für das gesamte deutsche Sprachgebiet).Vgl. auch Fischer/Lütolf 1972 ( RISM BIV). Während sich seit dem 14. Jahrhundert die Praxis in Zentraleuropa auf Klöster, auch solche der Bettelorden (vor allem der Dominikaner und Franziskaner), konzentriert zu haben scheint, zeigt sich in Italien eine Dominanz der letzteren, neben einigen Kathedralen (wie Aosta, Cividale oder Padua); vgl. Gallo 1989.
[3] Zu dem Sanctus in A-VOR 22 existieren einige Konkordanzen in Zentraleuropa. Zur Version in Frankfurt am Main, Stadt- und Universitätsbibliothek, Leonh. 13 (D-F Leonh. 13), fol. 265v–266r (Mainzer Graduale, ca. 1525) bemerkt Strohm 1989, S. 86 (mit Notenbeispiel S. 93): “Das Sanctus basiert nicht auf einer präexistenten liturgischen Melodie, sondern ist nach dem Prinzip des Stimmtauschs konstruiert, der zum Teil andere melodische Formeln verlangt als diejenigen des ersten Kirchentons.” Die Stimmen werden im Mainzer Graduale nachträglich (und sozusagen hyperkorrekt) als Discantus und Tenor bezeichnet.
[4] Erlangen, Universitätsbibliothek (D-Eu), Hs. 464 (süddeutsch, 15. Jahrhundert); siehe Thannabaur 1962, S. 112 (Melodie 6, 105D).
[5] Vgl. Fuller 1978.
[6] [Guido d’Arezzo] 1951, S. 169.