Sie sind hier

Ein isoliertes Repertoire?

Alexander Rausch

Bei der klösterlichen Mehrstimmigkeit scheint es sich um ein isoliertes Korpus zu handeln: Zwar existieren zwischen mehreren Gesängen zahlreiche interne Beziehungen, und Konkordanzen sind sowohl innerhalb der Region Österreich als auch in anderen europäischen Ländern weit verbreitet. Jedoch gibt es kaum Verbindungen zu anderen mehrstimmigen Repertoires. Die charakteristische Klanglichkeit der liturgischen Mehrstimmigkeit changiert zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Komposition und Improvisation. Bei genauerer Betrachtung der Quellen wird deutlich, in welchem Ausmaß die verschiedenen Notationssysteme Raum für die orale Tradierung lassen, ungleich mehr als in anderen polyphonen Genres. Häufig ist gerade der Rhythmus in der schriftlichen Überlieferung nicht fixiert. Viele Stücke sind in den Handschriften vereinzelt notiert, als Nachträge und Ergänzungen. Eine der wenigen Ausnahmen, der Cod. 457 der Universitätsbibliothek Innsbruck (» A-Iu Cod. 457, gegen 1400 und 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts), stellt eine Sammlung von Tropen, Responsorien, Cantiones, Conducti und Motetten dar, ferner von Ordinariumssätzen im cantus fractus-Stil (» A. Rhythmischer Choralgesang) und zweistimmigen Gesängen wie Kyrietropen oder Lektionen. Ein früherer Aufbewahrungsort, vermutlich das Augustiner-Chorherrenstift Neustift bei Brixen (» K. Der Innsbrucker Cantionarius), spielt in der Biographie Oswalds von Wolkenstein eine wichtige Rolle, auch wenn die beiden Musikhandschriften mit Oswalds Liedern (» B. Oswalds Lieder)  nicht im dortigen Skriptorium entstanden sind. Es ist denkbar, dass Oswald bei seinen zweistimmigen Kompositionen oder Adaptierungen auch von diesem Repertoire inspiriert wurde. Die Praxis, einstimmige liturgische Melodien zweistimmig zu singen, muss jedenfalls viel verbreiteter gewesen sein, als die etwa 100 aus Österreich bekannten Stücke (inklusive Konkordanzen) es nahelegen.