Zweistimmiges Singen in der monastischen Lebenswelt: St. Lambrecht
Versucht man, die meist zweistimmigen Kyrietropen, Sequenzen, Lektionen, Benedicamus domino, Responsoriumsverse, Hymnen und Cantionen, wie sie in österreichischen Klöstern breit gestreut überliefert sind, unter dem Aspekt ihrer musikalischen Ausführung zu betrachten, erschließen sich überraschende strukturelle und funktionale Perspektiven.
Einen Einblick in das Repertoire im österreichischen Raum bietet das folgende typische Beispiel: In einem Antiphonar aus dem steirischen Benediktinerstift St. Lambrecht (» A-Gu Cod. 30, Mitte 14. Jahrhundert; » Abb. St. Lambrecht) weitet sich der Vers Conserva domine in ea des Kirchweih-Responsoriums Benedic domine zur Zweistimmigkeit.
Text des gesamten Responsoriums Benedic domine des Kirchweihfestes.
R=Responsorium, V= Vers, GP = Gloria Patri, Rep. = Repetenda (zu wiederholender Abschnitt).
R. Benedic domine domum istam et omnes habitantes in illa. Sitque in ea sanitas, humilitas, sanctitas,
castitas, virtus, victoria, fides, spes et caritas, benignitas, temperancia, paciencia, spiritualis disciplina et
obediencia per infinita secula.
V. Conserva domine in ea timentes te pusillos cum maioribus.
GP. Gloria Patri et filio et Spiritui Sancto.
Rep. Per infinita secula.
R. Segne, o Herr, dieses Haus und alle, die darin wohnen. Hier sollen sein Gesundheit, Demut, Heiligkeit,
Keuschheit, Tugend, Überwindung, Glaube, Hoffnung und Liebe, Großmut, Mäßigkeit, Geduld, geistliche
Zucht und Gehorsam, auf alle Zeit.
V. Bewahre, o Herr, diejenigen darin, die dich fürchten, die Kleinen wie die Großen.
GP. Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geiste.
Rep. Auf alle Zeit.
Dieses Responsorium, das zur Matutin (Morgengebet) des Kirchweihfestes gesungen wurde, hat auch im einstimmigen Abschnitt (Benedic … infinita secula) einen relativ großen Tonumfang, c–g‘, der sich allerdings erst allmählich nach oben und unten erweitert. Am Beginn des Verses Conserva domine, dessen Gestaltung auch aufgrund der Stimmkreuzungen interessant ist, entfaltet sich die Einstimmigkeit (das una voce) des Chorals zur Zweistimmigkeit, besser: zur Klanglichkeit. Es werden deutlich dieselben Melodieformeln des 5. und 6. Kirchentons (c–f‘) verwendet wie im einstimmigen Responsorium. Doch ist der Tonumfang so auf die Stimmen verteilt, dass nur die unten notierte Stimme, deren Melodie dem Responsorium entspricht, den höchsten Melodieabschnitt (in der Lage c‘–f‘) benützen muss. Nur in der oben notierten (Zusatz-)Stimme hingegen erklingt das tiefe es, das im Codex jedes Mal mit einem Kreuz versehen ist, wahrscheinlich um auf die ungewöhnliche Alteration hinzuweisen. Das es wird nicht nur benötigt, um den Quintklang es–b zu erzeugen, sondern erscheint im Schlussmelisma auf „maioribus“ auch als große Terz es–g. Unmittelbar an den Unisono-Schluss des zweistimmigen Verses knüpft in A-Gu Cod. 30 die Repetenda Per infinita secula an, und diese wird wieder choraliter gesungen. Das abschließende Gloria patri wird dann wieder im selben diskantierenden Stil zweistimmig intoniert. An seinem Ende leitet eine anfangs noch zweistimmige Notierung des Per infinita secula zur einstimmigen Form der Repetenda zurück. Bedenkt man also die tatsächliche Ausführung von Vers und Responsorium unter den liturgischen und rituellen Voraussetzungen, so können zwar nicht die Details der Ausführung im 14. Jahrhundert festgestellt werden, wohl aber deren formale Prozedur. Unabhängig davon scheint vorerst nichts gegen Rudolf Flotzingers These zu sprechen, dass der zweistimmige Satz in St. Lambrecht selbst entstanden ist. Der Text des Responsoriums, der ein Gebet zur Segnung und Erhaltung einer klösterlichen Gemeinschaft sein soll und nicht zufällig die „Kleinen wie die Großen“ darin erwähnt, diente ebenso sehr zur Anrufung Gottes wie als Ermahnung zu geistlichen Tugenden an die, die ihn sangen.
[1] Das Repertoire wird überblicksweise dargestellt bei Flotzinger 1989; Geering 1952 (für das gesamte deutsche Sprachgebiet).Vgl. auch Fischer/Lütolf 1972 ( RISM BIV). Während sich seit dem 14. Jahrhundert die Praxis in Zentraleuropa auf Klöster, auch solche der Bettelorden (vor allem der Dominikaner und Franziskaner), konzentriert zu haben scheint, zeigt sich in Italien eine Dominanz der letzteren, neben einigen Kathedralen (wie Aosta, Cividale oder Padua); vgl. Gallo 1989.
[3] Zu dem Sanctus in A-VOR 22 existieren einige Konkordanzen in Zentraleuropa. Zur Version in Frankfurt am Main, Stadt- und Universitätsbibliothek, Leonh. 13 (D-F Leonh. 13), fol. 265v–266r (Mainzer Graduale, ca. 1525) bemerkt Strohm 1989, S. 86 (mit Notenbeispiel S. 93): “Das Sanctus basiert nicht auf einer präexistenten liturgischen Melodie, sondern ist nach dem Prinzip des Stimmtauschs konstruiert, der zum Teil andere melodische Formeln verlangt als diejenigen des ersten Kirchentons.” Die Stimmen werden im Mainzer Graduale nachträglich (und sozusagen hyperkorrekt) als Discantus und Tenor bezeichnet.
[4] Erlangen, Universitätsbibliothek (D-Eu), Hs. 464 (süddeutsch, 15. Jahrhundert); siehe Thannabaur 1962, S. 112 (Melodie 6, 105D).
[5] Vgl. Fuller 1978.
[6] [Guido d’Arezzo] 1951, S. 169.