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Musikergenossenschaften

Reinhard Strohm

Seit langem (vgl. Moser 1910) interessiert sich die Forschung für die Genossenschaften und religiösen Bruderschaften der Musiker, vor allem weil sich in ihnen der besondere Sozialstatus dieses Berufsstandes spiegelte. Drei Funktionen dieser Vereinigungen können unterschieden werden: Sie waren zum Schutz vor Übergriffen und Ausbeutung durch die ständische Gesellschaft gedacht; sie ermöglichten (wie Zünfte und Zechen im Allgemeinen) ein internes korporatives und religiöses Leben, und sie stärkten die wirtschaftliche Position der Mitglieder durch berufliche Qualitätskontrolle, Ausbildung und Kundschaftswerbung. Die ältesten bekannten Musikervereinigungen, die Confrérie von St. Martin von Fécamp und die Confrérie der Sainte-Chandelle von Arras, auch “Puy d’Arras” genannt (12. Jahrhundert), setzten sich sowohl religiöse als auch rechtliche Aufgaben.[77] Seit dem 13. Jahrhundert unternahmen auch Musikerbruderschaften aus anderen Städten, z.B. aus Brügge, Pilgerfahrten nach Arras.[78] Kultische Präsenz und städtische Kundschaft waren neben dem Mäzenatentum der Fürsten unabdingbar für wirtschaftliches Überleben.

Hierzu, und nicht nur zu internem Informationsaustausch, waren die “Spielleuteschulen” (écoles des ménéstrels) bestimmt, die im 14. Jahrhundert meist zur Fastenzeit und zu Messen und Jahrmärkten gehalten wurden.[79] Höfische Auftraggeber sandten ihre Spielleute auf eigene Kosten dorthin, um deren Standards zu verbessern. In Padua gab es 1372 eine Vereinigung, deren Ziel es war:

“… tenere stacionem sive scholas ad pulsandum lautos et citaras prout ad presens sunt et de quolibet alio instrumento de quo sciunt docere unumquemque volentem adiscere.”(…zu halten einen Standort oder eine Schule für das Spiel von Laute und Cetra, wie es derzeit der Fall ist, und für jederlei andere Instrumente, von denen sie Kenntnis haben, jeden, der es wünscht, zu unterrichten).[80]

Zwecke dieser Vereinigung dürften zunftinterne Schulung ebenso wie Unterrichtserteilung an Amateure gewesen sein.

Die Wiener St. Nikolausbruderschaft der Spielleute (auch Pfeiferzeche, Trompeterzeche u.ä. genannt) verdankt ihren Namen dem St. Nikolausaltar in der Pfarrkirche von St. Michael, an dem sie ihre Gottesdienste hielt. Der Altar ist erstmalig 1288 erwähnt (als er eine verbrannte Nikolauskapelle auf dem Friedhof ersetzte); man hat dieses Datum lange für das Gründungsjahr der Bruderschaft selbst gehalten. Jedoch ist nach Richard Perger deren Existenz erst 1377 sicher belegt; weitere Dokumente stammen von 1382, 1384, 1391 und aus dem 15. Jahrhundert.[81] 1498 wird die Genossenschaft zum ersten Mal “Lautenschlagerzeche” genannt: Lautenisten und Lautenmacher waren schon immer zugelassen gewesen und befanden sich nun vielleicht sogar in der Mehrheit. Vgl. » Abb. Urkunde der Nikolausbruderschaft (Trompeterzeche) an St. Michael, 1459. 

Abb. Urkunde der Nikolausbruderschaft (Trompeterzeche) an St. Michael, 1459

Abb. Urkunde der Nikolausbruderschaft (Trompeterzeche) an St. Michael, 1459

Pergamenturkunde  vom 7. November 1459. St. Michael Kollegsarchiv, Abt. II, 4b. “Ich Peter Temerly Spilgraf Ich Larencz Lauttenmacher dieczeit Zechmaister Und wir die Zechleut der Trumetter Zech sand Niclas/pruderschafft dacz sand Michel zu Wienn …”. © Archiv des Salvatorianerkollegs zu St. Michael, Wien. Mit Genehmigung des Archivars.

Die Mitglieder der Bruderschaft versprechen die Abhaltung eines Jahrtags am dritten Sonntag nach Ostern mit gesungenem Seelamt, 24 Steckkerzen und 4 Windlichtern für den verstorbenen Kaplan Thomas Petzleinstorffer, der ihnen eine silberne Monstranz und eine vergoldete Corporaltafel hinterlassen hat; seine Mutter Margrethe hat dazu 1/4 Weingarten bei St. Ulreich in der Strupel gestiftet.[82] Diese Jahrtagsstiftung der Nikolausbruderschaft ist eines von vielen typischen Beispielen solcher Gottesdienste zum Totengedächtnis (Requiems); ungeachtet der musikalischen Qualifikation der Mitglieder wurde das Seelamt nur von Kaplänen und vielleicht Schulknaben gesungen.

An St. Michael gab es seit ca. 1402 eine Gottsleichnamsbruderschaft, der im Unterschied zur Nikolausbruderschaft viele Adlige und Patrizier angehörten.[83] Für die Ausführung ihrer Festgottesdienste und Umzüge könnte sie von der Nachbarschaft zur Pfeiferzeche profitiert haben. Ähnliches mag für die an St. Michael seit 1345 bezeugte Liebfrauenbruderschaft und die 1483 erstmalig erwähnte Sebastiansbruderschaft gelten. In Innsbruck wurde 1507 die städtische “Gesellschaft der trommeter sambt iren mitverwandten” sogar eingeladen, sich der bürgerlichen St.-Barbara-Bruderschaft der Maler und Goldschmiede anzuschließen, die damit u.a. ihren Mitgliederstand anheben wollte. Metzger, Schuster und Schneider unterstützten den Vorschlag. Der Rat war zunächst dagegen, gab aber dann vorbehaltlich kaiserlicher Genehmigung nach; den Trompetern wurde die Mitwirkung an den gestifteten Gottesdiensten aufgetragen, darunter der Fronleichnamsprozession. In dieser sollten zuerst die Priester mit Fahnen und Kerzen gehen, gleich nach ihnen die Trompeter, “die ja zu ihnen gehören”.[84]

Musiker bürgerlichen Standes waren oft Mitglieder anderer Bruderschaften. Die Gebetsbruderschaft des hl. Hippolytus am Chorherrenstift zu St. Pölten, der auch Henricus Isaac angehörte (» Abb. Isaac und St. Pölten), hatte um 1500 einen “dominus Johannes Deperis” [?] “presbiter et organista” zum Mitglied.[85] Isaac war auch Mitglied der Bruderschaft des Augustiner-Chorherrenstifts Neustift/Novacella bei Brixen. Die Wiener Liebfrauenzeche (Marienbruderschaft) an St. Stephan verzeichnet in ihrem Bruderschaftsbuch (A-Wda Cod. 2) neben Goldschmieden, Apothekern, Zinngießern usw. auch “Sigmund kunigswiser, cantor” (fol. 6v), der 1430 als Schulkantor der Bürgerschule zu St. Stephan belegt ist, und einen “Steffan orgelmaister & uxor” (fol. 7v): vielleicht Steffan Schabenke, 1430 in Wien als Orgelbauer nachgewiesen.[86] Die Nürnberger Mendelsche Zwölfbrüderstiftung, eine Art Seniorenheim, verzeichnet unter ihren Mitgliedern seit der Gründung 1388 zwei Stadttrompeter:

Abb. Turmtrompeter in Nürnberg

Turmtrompeter in Nürnberg

Stadtbibliothek Nürnberg (D-Nst), Amb. 2° 317, fol. 6r: „Der XVII Bruder, der do starb der hieß Peter und was ein Turner.“ Hausbuch (Obituarium) der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung im Kartäuserkloster (gegründet 1388), Beginn des 16. Jahrhunderts. Der 17. Bruder müsste in den 1390er Jahren verstorben sein. Auch der 255. Bruder (gest. 1509), der ein städtischer Türmer war, ist im Hausbuch abgebildet: vgl. Green 2011, fig. 3. Wiedergabe mit Genehmigung der Stadtbibliothek Nürnberg.

Die Magdalenenkapelle auf dem Wiener Stephansfriedhof (über dem “Neuen Karner” und der Erasmus- bzw. Virgilkapelle) gehörte der einflussreichen Wiener Schreiberzeche, also der Genossenschaft der Beamten und Notare. Vielleicht waren auch Musiker von Stand hier zugelassen: Es mag kein Zufall sein, dass die Stephanskantorei um 1440 direkt an die Magdalenenkapelle angebaut wurde (» Abb. Kantorei und Magdalenenkapelle), was den Mitgliedern der Schreiberzeche vielleicht nicht unlieb war.[87] In gewissem Sinn war die gesamte Örtlichkeit nahe der Südwestecke des Stephansdomes – der Stephansfriedhof – musikalisch konnotiert:[88] Hier befindet sich das “Singertor”, mit Beziehung auf das gegenüberliegende Schulgebäude bzw. die Kantorei, von woher die Chorschüler in die Kirche einzogen, und gleich daneben das Neidhartgrab mit den angeblichen Überresten des Minnesängers Neidhart und seines Nachahmers Neidhart Fuchs (» B. Kap. Das Neidhartgrab; » Abb. Das Neidhartgrab).

Seit dem 13. Jahrhundert existierten in verschiedenen Gegenden Europas überörtliche Musikergesellschaften. Sie waren einerseits Strukturen der Selbstverwaltung oder Ständevertretungen, andererseits Herrschaftsinstrumente, durch die die besondere zivil- und strafrechtliche Stellung der Musiker reguliert werden konnte. Die “Spielmannskönige” oder “Spielgrafen” hatten Exekutivgewalt über die Spielleute ganzer Territorien, unterstanden aber selbst den Fürsten. So war der “roy des ménéstrels” der Pariser Spielmannszunft (1321), obwohl von den Zunftmitgliedern gewählt, dem König als ständischer Sprecher verantwortlich. Nichtsdestoweniger genossen Spielgrafen oder Spielmannskönige hohes Ansehen und wurden Gegenstand von Zeremonien und sogar “Krönungen”.[89] Kaiser Karl IV. verlieh 1355 Johann dem Fidler den Titel eines “Königs aller Spielleute im gesamten Heiligen Römischen Reich” (rex omnium histrionum per totum sanctum imperium).[90] Im Herzogtum Österreich unter der Enns unterstanden (seit 1354?) die Spielleute dem obersten Kämmerer des Landes (einem der Freiherrn von Ebersdorf). Es gab einen Spielgrafen in Wien, der der Nikolausbruderschaft angehörte, und sieben weitere in verschiedenen Sprengeln des Landes; jedoch ist eine “Zusammenführung” oder gar Identifizierung zwischen Nikolausbruderschaft und dem “landesfürstlichen Erbamt”[91] des Spielgrafen nicht sicher nachgewiesen.[92] Das Spielgrafenamt und das Amt des Zechmeisters (Vorsitzenden) der Nikolausbruderschaft wurden “turnusmäßig” von Vertretern verschiedener Berufssparten ausgeübt.[93] Im Jahre 1459 war Peter Temerly Spielgraf und Laurenz Wildfang Zechmeister (» Abb. Urkunde der Nikolausbruderschaft).

Über die Spielmannskönige im habsburgisch verwalteten Elsass hat Hans Joachim Moser berichtet.[94] 1468 wurde in Innsbruck Hans Lang aus Überlingen, der wie die meisten Innsbrucker Musiker im Dienst des Herzogs stand, Spielgraf der Innsbrucker Spielmannszeche; er hatte einen Trompeterknecht zum Diener.[95]

[77] Hartung 2003, 267–274.

[78] Strohm 1985, 90.

[79] Schwab 1982, 46–51. Spielleuteschulen in der Region Österreich sind bisher nicht bekanntgeworden. Vgl. aber » F. Musiker aus anderen Ländern.

[80] Kreutziger-Herr 1991, 109, nach Cattin 1981, 281. Für die Übersetzung “cithara” = “cetra” danke ich Marc Lewon und R. Crawford Young. » Instrumentenmuseum Cetra.

[81] Perger 1988, 29–30.

[82] St. Michael Kollegsarchiv Abt. II, 4b. Siegel und Petschaft sind erhalten. Nach Malecek 1947, 22, soll die Urkunde das Datum 1288 als Gründungsjahr der Bruderschaft erwähnt haben, was aber nicht der Fall ist.

[83] Perger 1988, 29.

[84] Tiroler Landesarchiv Innsbruck (A-Ila), Hs. 497: Bruderschaftsbuch der St.-Barbara-Bruderschaft (Abschrift um 1590); Steinegger 1954, 23.

[85] A-SP Hs. 55 (Necrologium Sanhippolitanum), S. 1.

[86] Czernin 2011, 102.

[87] Zum Antiphonar der Magdalenenkapelle (heute Győr, R.K. Seminarium, Ms. A. 2) vgl. Schusser 1986, 68–69; ich danke David Merlin für weitere Auskünfte.

[88] Freundlicher Hinweis von Marc Lewon.

[89] Hartung 2003, 286–287.

[90] Hartung 2003, 287.

[91] Czernin 2011, 104.

[92] Schusser 1986, 121–122 (Richard Perger).

[93] Schusser 1986, 121 (Richard Perger).

[94] Moser 1910.

[95] Senn 1954, 4.