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Die geistliche Spieltradition

Andrea Grafetstätter

Tanz, Instrumentalspiel und Gesang

Zwar bestand eine dauerhafte Restriktion des Tanzes im Mittelalter,[7] aber es sind auch li­tur­gi­sche Tänze bzw. mit dem Kirchenraum oder mit liturgischen Anlässen und Prozes­sio­nen ver­bun­dene Tänze belegt.[8] Man könnte auch an die vor allem in der Mystik beliebten Vor­stel­lun­gen vom (himmlischen) Tanzen denken mit Jesus als Tanzmeister, der den himm­li­schen Rei­gen anführt.[9] Nach Richard Leighton Greene wurde zu Liedern wie Josef lieber nefe mein/Resonet in laudibus so­gar in der Kirche getanzt.[10] Der Tanz im Kirchenraum könnte also – nach entsprechenden Restriktionen seitens der Kirche – in die geistlichen Spiele verlagert worden sein. Bei Marias An­kunft im Himmel im Innsbrucker (Thüringischen) Maria Himmel­fahrts­spiel wird ein Tanz durch Raphael und Michael in Aussicht gestellt. Zunächst sagt Raphael: „Kunig aller gewaldiger herren,/ Wir wullen vil gerne dir czue eren/ tanczen unnd unser frawen czue prise/ und singenn manche suße wise“ (Mone 1841, 87, 2435a–2439). (König aller mächtigen Herren,/ wir wollen sehr gerne dir zu Ehren/ tanzen, und unserer Frauen (Maria) zum Lobe/ auch singen manche süße Weise.) Michael präzisiert: „nue tancz wir alle, daz ist myn rat“ (Mone 1841, 87,  2455). (Nun tanzen wir alle, das schlage ich vor.) Gegen Ende des Spiels kommen selbst Spiel­leute zum Einsatz: „Rex dicit: Nue schlat uff ir spellute,/ und pauck frolichen hute,/ und czyn wir alle hen mit salden,/ daz ez got von hymmel muz walden“ (Mone 1841, 104, 3084a–3088). (Der König sagt: Nun schlagt auf, ihr Spielleute, und paukt heute fröhlich, und ziehen wir alle von hinnen mit Segen, dass Gott vom Himmel es beschütze.) Die En­gel fungieren oft als Erklärer und Deuter des Spiels; diese Deu­tungen singen sie. Eine Regie­an­weisung zur Divisio Apostolorum (Diaspora) kann das Verfahren der Insze­nie­rung zeigen: „Deinde apostoli recedunt dividentes se in circulum. chorus interim/ cantat: cives apostolorum. hic apostoli separantur ab invicem. Angeli/ cantant ad laudem dei“ (Mone 1841, 29, 268a–c). (Danach ziehen sich die Apostel zurück, indem sie sich in einem Kreis verteilen. Inzwischen singt der Chor: Cives apostolorum. Hier trennen sich die Apostel voneinander. Die Engel singen zum Lobe Gottes.) Es werden so­gar die Gesangsarten bestimmt, wenn Simon zum Gesang aufruft: „und singet uwir leyse [also]“ (Mone 1841, 42, 766). Sogar Synagoga tritt singend auf: „Ad laudem vel synagoga cantat“ (Mone 1841, 37, 572a). (Zum Lob singt die Synagoge.) Nicht von ungefähr listet daher Peter Dinzel­bacher bei den Bestandteilen spät­mittel­alter­licher Religiosität die Musik als eigenen Punkt auf.[11] Der Gesang kann auch ko­mi­schen Zwecken dienen: Im Klosterneuburger Osterspiel singen die Grab­wäch­ter das Spott­lied Schowa propter insidias,[12] und eine abwer­tend-ver­spot­ten­de Funktion haben auch die Ju­den­gesänge einiger Spiele, die Cantica hebraica; diese Ge­sänge wurden oft separat eingeübt.[13]

 

Dramatische Funktionen der Gesänge

Die meisten Szenen des geistlichen Spiels wurden von Musik (in ihren verschiedenen Formen wie Antiphonen, Rezitationen, Chorgesängen) inhaltlich wie strukturell dominiert. Hierbei wurde auch oft die Zuschauergemeinde integriert, mit der Aufforderung, gemeinsam mit den Schauspielern Lieder zu singen. Als Beispiel kann das Trierer Osterspiel dienen, an dessen Ende die Aufforderung steht: „Hude van des dodes banden/ ist unßer here froelychen vff erstanden./ Mit deme sollen wyr froelychen syn/ Vnd laessen alle truren lygen. Et cum hoc incipiet cantor sequentiam Victime paschali etc“ (Mone 1841, 66, 176ff.).[14] (Heute ist von des Todes Banden/ unser Herr fröhlich auferstanden./ Mit ihm sollen wir fröhlich sein/ und alles Trauern liegen lassen. Und damit beginnt der Kantor die Sequenz Victimae paschali usw.) Hier ist davon auszugehen, dass die Zuschauer in das Lied eingestimmt haben. Häufig wurden solche bekannten Lieder in die geistlichen Spiele integriert. Sie sind oft nur mit dem Incipit in den Spieltexten vermerkt.

Mittelalterliche Autoren skizzieren ihre Sinneseindrücke bei der Rezeption von Musik: „Listening and singing, the experience of music, are portrayed as having a corporeal effect that produces sensations of an intense sensory and emotional character.“[15] Bernhard von Clairvaux fordert, dass ein Lied das Ohr liebkosen und das Herz erreichen müsse,[16] und Thomas von Aquin äußert, dass sowohl stimmliche als auch instrumentale Musik in der Lage sei, die Seele auf Gott auszurichten.[17] In eine ähnliche Richtung geht Roger Bacon, wenn er schreibt, dass eine Melodie die Macht habe, die christliche De­votion zu gewährleisten.[18] Resümierend hält Wolfgang Fuhrmann diese und vergleichbare Aussagen fest: „Wesent­lich für die christliche Musikanschauung ist die existen­ziel­le Verankerung des Singens: Man muss an die Inhalte des Gesungenen mit aller Inbrunst glauben, und das wiederum hat zur Folge, dass man sie auch in seinem Leben im Wortsinn beherzigen muss.“[19] Demnach konnten die geistlichen Spiele durch ihre oft zahl­rei­chen Lied­ein­lagen, die bisweilen auch die Zu­schauer­gemeinde mitgesungen hat, eine be­son­de­re emo­tio­na­le Wirkung erzeugen. Es scheint sogar, dass die Vermittlung von emotionalen und kognitiven Gehalten durch die Musik der Spiele derjenigen des Kirchenchorals an Fülle und Variabilität zu vergleichen war. Die Frage von Hansjürgen Linke, ob „man im Mit­tel­alter schon Affekte komponieren und so Melodien zu Bedeutungsträgern machen wollte und konnte“, darf bejaht werden.[20] Die Musik in den geistlichen Spielen ist dabei gewissermaßen als paralleles Erzählen aufzufassen: „Der differenzierte stimmliche Ausdruck des Gesangs kann Text­in­hal­te verständlich oder doch verstehbar machen, auch wenn das Wort nicht verstanden wird.“[21]

 

Ausdruckscharakter der Musik

Bei ihrer Untersuchung der Musik der in den Sterzinger Spielen überlieferten Marien­klage stellt Sabine Prüser fest, dass die Melismen­le­gung zur Betonung bestimmter Wörter die­­nen kann, denn durch die Setzung der Me­lis­men auf Wörtern wie wainen oder herczenlaid, die kurzzeitig den Quintraum erweitern oder die phrygische Halbtonfigur e-f-e-d-e verwenden, wird das Leid musikalisch versinnbildlicht.[22]

 

Notenbsp. Wainet vill liebe cristenheit

Notenbsp. Wainet vill liebe cristenheit

Eröffnendes Lied (zwei Strophen) von  „Prima“ und „Secunda persona”, aus Planctus beatae Mariae cum Prophetis (» Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. XVIII, 1511?), nach Lipphardt/Roloff, Bd. 3, 339.

(Erste Person. Weinet sehr, liebe Christenheit, beweinet unser großes Herzeleid, helft mir beklagen Jesu Christ, der von den Juden gemartert ist.)
(Zweite Person. Weinen will ich, das ist mir Not, beweinen will ich Gottes Tod, der mich von den Sünden hat erlöst.)

 

Auch bietet die Integration geläufiger Lieder die Mög­lichkeit des Einfühlens in präsentiertes Gesche­hen, was bis zur Evokation von Com­passio reichen kann.[23]

 

Notenbsp. O liebe kind

Dritte Strophe des eröffnenden Liedes aus Planctus beatae Mariae cum Prophetis (» Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. XVIII, 1511?), nach Lipphardt/Roloff, Bd. 3, 340. Die Marienklage O liben kind der cristenheit steht zusammen mit ihrer notierten lateinischen Vorlage O filii ecclesie im Innsbrucker Cantionarius A-Iu Cod. 457/II, fol. 102r, Nr. 47: Hörbsp. O filii ecclesie.

(Dritte Person. O liebe Kinder der Christenheit, helft mir zu klagen mein großes Herzeleid, die erde öffnet sich und die Steine, dazu die Gräber alle zusammen, von den großen bitteren Schmerzen, die die Juden meinem Kind angetan haben.)

 

Entsprechend werden in der Tiroler Spieltradition Gesang und Instrumentalmusik gleichermaßen genutzt: „Ibi tanguntur Instrumenta musicalia. Post hoc Saluator cantat“ (Lipphardt/Roloff, Bd. 1, 42, 732ab). (Hier werden Musikinstrumente gespielt. Danach singt der Erlöser.)  Dabei ergän­zen sich in mischsprachigen Spielen gesungene lateinische (canere / cantare) und im Sprech­gesang vorgetragene deutschsprachige (dicere) Passagen.

 

 

 

So wird „das Hin- und Herpendeln zwischen ritualisierter Feierlichkeit und lebensweltlicher Dramatik […] für ein lateinun­kun­di­ges Publikum zu einem ein­prägsamen Erleb­nis. Es erhält seine pastorale Sinn­ge­bung dadurch, daß die lateinischen Texte meistens von einer Gruppe (den Engeln, Marien, Aposteln), die deutschen Gegenstücke dagegen von einer Spielerfigur aus diesem En­semble vorgetragen werden: Durch sie kann sich jeder einzelne Zuschauer im Akt des Ver­ste­hens in das heilsgeschichtliche Geschehen integrieren, dessen Gültigkeit der Gruppengesang bei den liturgiesprachlichen Textpassagen versinnbildlicht.“[24]

In Rabers Passion wird die Grabwache mit großem korporalen und musikalischen Aufwand im Rahmen einer Sing-/Tanzprozession inszeniert: „Primus miles dicit volens ire: Wier varen dahin mit schalle,/ Wier rueffn vnd singen alle,/ […] Drummb tretet all auf mein gespor,/ Get mir nach, ich ge euch vor./ Et sic vadunt ad sepulchrum cantando: Wir sullen zu dem grabe gan [etc.]/ Secundus miles Waxring dicit ad primum: […] Gern tancz wir, nun sinng vnns vor./ Primus miles Vnuerczagt cantat vt prius vel aliud: Wier sullen vmb daz grabe gan/ vt supra” (Lipphardt/Roloff Bd. 3, 93–94, 2275a–2278a). (Der erste Kriegsmann, der abgehen will, singt: Wir fahren dahin mit Schalle/ wir rufen und singen alle: […] Darum tretet nach mir in meine Spur/ geht mir nach, ich geh euch vor. / So gehen sie zum Grab, singend: Wir sollen zu dem Grabe gehn […] Der zweite Kriegsmann, Waxring, sagt zum ersten: […] Wir tanzen gern, nun sing uns vor. Der erste Kriegsmann, Unverzagt, singt wie zuvor oder etwas anderes: Wir sollen um das Grabe gehn, wie oben.)

 

Ausrichtung auf die Zuhörer

Weit verbreitet in den Spielen ist der Gesang des Liedes Christ ist erstan­den, das vom Publikum  mitgesungen wurde,[25] das sich dadurch in das Spielge­sche­hen integrierte. Die er­zäh­len­den Gesänge können auch die Funktion eines Bühnen­bildes übernehmen, da sie den Hintergrund des Geschehens illustrieren.[26] Joerg Fichte wird durch die Anzahl von in Spielen integrierten Gesängen (er benennt u. a. im Sterzinger Passionsspiel 82, in Pfarrkirchers Passion 79, im Boze­ner Spiel 61 Gesänge im Laufe der Pas­sions­hand­lung) motiviert, diese in die Nähe von Sing­spie­len zu rücken.[27] Er nimmt überdies eine Milderung des grausamen Gesche­hens durch Mu­sik an, entweder, indem Jesus selbst singt oder indem von anderen gesungen wird.[28] Die gesungenen „Silete“(„Schweigt“)-Rufe, die oft vor einschneidenden Dar­stellungen stehen (z. B. im Wiener Osterspiel vor der Höllenfahrt Christi oder vor der Erschei­nungsszene) haben u. a. die Funktion, die aus den Szenen­wech­seln resultie­ren­de Unruhe im Pu­bli­kum zu besänf­tigen.

Die Zweck­­orien­tie­rung der geistlichen Spiele ist die religiöse Belehrung und Erbau­ung; dement­sprechend steht nicht un­be­dingt die künstlerische Elabo­riertheit im Vorder­grund, sondern die Allgemeinver­ständ­lich­keit im Sinne der Wir­kungs­absicht einer breit gestreuten religiösen Vermittlung von Heils­tatsachen.[29] Wie Linke darlegt, ist das geistliche Spiel „Mas­senmedium des Mittelalters“.[30] Eine Scheidewand zwischen geistlichem und weltli­chem Spiel zu etablie­ren, entspricht nicht mittelalterlicher Auffassung, gerade die Techniken der Theatra­li­­sierung sind aufgrund ähn­licher Voraus­setzungen vergleichbar. Dementsprechend leisten die geistlichen, genauso wie die weltlichen Spiele einen wichtigen Bei­trag zur städtischen Kultur.

[7] Vgl. Baumgartner 1974, 102–107, 111–112; Daniels 1981, 24, 33, 49; Berger 1985, 29; Hammerstein 1974, 45–47; Hammerstein 1990, 48.

[8] Vgl. bereits Spanke 1930, 143–170; Spanke 1932, 1–22; Chailley 1969, 357–380, mit Bildmaterial; Baumgartner 1974, 102–112; Daniels 1981, 22–336; Berger 1985, 29–31, 34; Hammerstein 1990, 48. Besonders die Springprozession von Echternach ist zu nennen, vgl. van Baaren 1964, 112; Chailley 1969, 357; Baumgartner 1974, 111.

[9] Beispielsweise spricht Heinrich Seuse vom (himmlischen) Tanz in positiver Weise, vgl. Bihlmeyer 1907, 21. Zum Leben Seuses siehe Bihlmeyer 1907, Kap. XXIII, 69 und zu dem  grossen Briefbuch, IX. Brief, 432–433. Siehe auch die bei Banz 1908, 99–100 angeführten Stellen, z. B. „J e s u s   i s t   T a n z m e i s t e r. […] ‚Do  fFrt Ihesus den tancze mit aller megde schar‘“ ( 99); „J e s u s  s p i e l t  u n d  t a n z t  v o r […] ‚Jesus der tanzer maister ist, Zu swanzet hat er hohen list, Er wendeth sich hin, er wendet sich her, Si tanzent alle nach sîner ler …“ ( 99); „H i m m e l s t a n z.  a)  a l l g e m e i n. […] ‘Si (die jungfräuliche Seele) wurd dort [in der Ewigkeit] iren gemahel schowen .., Und für an der megde schar, Da nieman mer an getar, An der junkfrowen tanz‘ […] b)  J e s u s  f ü h r t  d e n  h i m m l i s c h e n  R e i g e n  a n“ (99–100).

[10] Vgl. Greene 1977.

[11] Vgl. Dinzelbacher 1990, 22–23.

[12] Vgl. Pfeiffer 1908, 25ff.

[13] Vgl. Thoran 1996, 252–253.

[14] Zum Trierer Osterspiel vgl. Hennig/Traub 1990Traub 1988.

[15] Largier 2003, 9. Siehe auch Davidson/Davidson 1998. Hier werden als Werkstattbericht praktische Aufführungs­beipiele der Neuzeit beschrieben, z. B. die Visitatio Sepulchri (Fleury), das Sponsus-Spiel von St. Martial, das Lazarusspiel (Fleury), das Peregrinusspiel, der Ludus Danielis (beide Beauvais) und der Ordo Virtutum von Hildegard von Bingen.

[16] Vgl. Schueller 1988, 357.

[17] Vgl. Schueller 1988, 385.

[18] Vgl. Loewen 2004,  248.

[19] Fuhrmann 2004, 13.

[20] Linke 1985, 61.

[21] Henkel 2004,  42.

[22] Vgl. Prüser 1994, 151.

[23] Vgl. Prüser 1994, 157.

[24] Janota 2004, 357. Vgl. auch Mehler 1981, 247–259, der Differenzierung empfiehlt und präzisiert, dass dicere oft diejenige Vortragsart hervorruft, die in der Liturgie an dieser Stelle gefordert war.

[25] Vgl. Schuler 1951, 13.

[26] Vgl. Schuler 1951, 43.

[27] Vgl. Fichte 1993, 285.

[28] Vgl. Fichte 1993, 285–286.

[29] Vgl. Bergmann 1989, 419.

[30] Linke 1971, 358.