Überlieferung der Wiener Kirchenmusik des 15. Jahrhunderts
Quellen der Wiener Kirchenmusik: Einleitung
Die schriftliche Überlieferung der Wiener Kirchenmusik des 15. Jahrhunderts ist einerseits enttäuschend fragmentarisch, andererseits überraschend vielfältig. Denn wenn man alle Musik, die in den Kirchen, Klöstern und Privatkapellen Wiens praktiziert wurde, als „Wiener Kirchenmusik“ betrachten darf, so ergibt sich eine große Vielfalt musikalischer Gattungen – vom einstimmigen Kirchenchoral über Kirchenlieder und Orgelstücke bis zu mehrstimmigen Messen – und von allen diesen Gattungen sind in der Tat noch schriftliche Spuren vorhanden. Jedoch sind die erhaltenen Niederschriften oft bloße Handschriftenfragmente oder sie gehören zu Sammlungen, die für andere Orte bestimmt waren. Vollständige Wiener Musikhandschriften aus dieser Zeit sind mit wenigen Ausnahmen verloren. Auch die reale Herkunft und Zugehörigkeit solcher Quellen ist oft fraglich: Selbstverständlich war nicht alles, was heute in Wiener Bibliotheken und Archiven bereitliegt, auch schon im 15. Jahrhundert am Ort vorhanden bzw. praktisch verfügbar. Umgekehrt ist viel schriftliches Material, das damals dem örtlichen Musikleben diente, heute anderswo zu finden.[1]
Die Quellen geistlicher Musik, über die hier als Beispiele berichtet werden soll, sind nach zwei Kriterien ausgewählt: dass sie Musiknotation enthalten, und dass sie sich konkret mit Wiener Institutionen oder Privatpersonen des 15. Jahrhunderts in Verbindung bringen lassen.[2] Diese Auswahl ergibt kein vollständiges Panorama der Wiener Musikpraxis – aber sie ergänzt unser sonstiges Wissen über die Kirchenmusik, wie es z.B. aus Archivalien erschlossen werden kann (vgl. » E. Musik im Gottesdienst) durch wertvolle, manchmal überraschende Aspekte. Vor allem erlauben uns diese Quellen, der damals gehörten Musik selbst etwas näher zu kommen und ihre Bedeutung in der Praxis zu erfragen.
Choralbücher aus Pfarren und Kapellen
Die Stadt Wien gehörte damals zur Diözese Passau in der Kirchenprovinz Salzburg; das gottesdienstliche einstimmige Choralrepertoire entsprach dieser Zuordnung. Somit sind mögliche Wiener Gradualien und Antiphonalien – d.h. mit Musiknotation versehene Choralbücher – in heutigen Bibliotheken als zum „Passauer“ Usus gehörig klassifizierbar, ohne Rücksicht auf den genauen Ort ihrer Verwendung, der nur von Quelle zu Quelle individuell bestimmbar ist. Obwohl 1469 eine eigene Wiener Diözese genehmigt und seit 1480 auch verwaltet wurde, hat sich danach am Passauer Choralrepertoire kaum etwas geändert; unter den wenigen lokalen Neuschöpfungen waren neukomponierte Gesänge zum Fest des 1485 kanonisierten Hl. Leopold (» F. Lokalheilige; » F. SL Leopold-Motette). Ein „Passauer“ Choralbuch ist das 1511 von Johannes Winterburger in Wien gedruckte » Graduale Pataviense, dessen Inhalt insofern, als er von älteren handschriftlichen Codices abweicht, nicht unbedingt auf Wiener Lokaltraditionen bezogen werden muss.[3]
Ein weiteres Zuordnungsproblem besteht bei der Unterscheidung zwischen Choralbüchern aus Klöstern und aus Weltkirchen (wie z. B. Pfarrkirchen): Obwohl sich der Ritus der Weltkirchen und auch der Bettelorden vom monastischen Ritus unterschied, wurden viele an Pfarrkirchen und Privatkapellen gebrauchte Bücher in Klöstern und Stiften angefertigt und zeigen bisweilen diese Beeinflussung. Ein Beispiel ist ein fragmentarisches Graduale aus dem 15. Jahrhundert, » A-Wn Cod. 13713 der österreichischen Nationalbibliothek, dessen Geschichte Robert Klugseder ermittelt hat.[4] Es wurde wahrscheinlich jahrhundertelang in der Pfarre Perchtoldsdorf gebraucht, dürfte aber in einem Augustiner-Chorherrenstift (St. Pölten? Klosterneuburg?) hergestellt worden sein. Es ist eines der seltenen weltkirchlichen Choralbücher aus dem Wiener Umland, das aus dieser Epoche erhalten ist. Ein Antiphonale aus der Zeit um 1400, das seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Maria-Magdalena-Kapelle neben dem Stephansdom gewesen war und sich heute in Ungarn befindet (Győr, R.K. Seminarium, Ms. A. 2), ist vom Choralrepertoire her ebenfalls als augustinisch klassifiziert worden, jedoch zu weltkirchlichem Gebrauch bestimmt.[5] Es könnte aus dem Augustiner-Chorherrenstift St. Dorothea in Wien gestammt haben. Vom Stephansdom selbst existiert kein eindeutig identifizierbares mittelalterliches Graduale oder Antiphonale mehr, obwohl die Messliturgie in dem berühmten „Turs-Missale“ des Domkapitels (um 1430) und dem Liber ordinarius » A-Wn Cod. 4712 (» E. Musik im Gottesdienst) zumindest textlich überliefert ist.[6]
Zwei Inventare
Wie viele Choralbücher sogar in weniger bekannten Kirchen und Kapellen Wiens bereitlagen, zeigen zwei Kapellinventare des 15. Jahrhunderts, die das Ausmaß der Gesamtverluste erahnen lassen. Aus dem Bürgerspital vor dem Kärntner Tor, das eine Lateinschule führte und selbstverständlich eine zugehörige Kapelle hatte, ist ein Inventar der Kleinodien einschließlich der Mess- und Gesangsbücher aus dem Jahr 1432 erhalten.[7] Neben zahlreichen liturgischen Texthandschriften (wie z.B. Missalien, Matutinale, Psalter) sind hier folgende Gesangsbücher genannt:
„Ain newr antiffner
Zwey antiphonar in pergamen
Drew gradwal in pergamen
Ain sanckpuch cum historia Kunigundis
Zwen altt antiphon, ain altz gradual…“Man hatte damals also je drei Gradualien für die Messe und drei Antiphonalien für das Stundengebet in Gebrauch; eines der letzteren war gerade neu angefertigt worden, während mehrere andere, als „alt“ bezeichnete Bücher vielleicht nicht mehr benützt wurden. Das Gesangbuch „cum historia Kunigundis“ enthielt wohl eine notierte Niederschrift des Offiziums der Hl. Kunigundis (975-1033), der deutschen Kaiserin und Schutzheiligen schwangerer Frauen und kranker Kinder, die im Spital offenbar verehrt wurde.
Die von Otto und Haymo gegründete Marienkapelle (später Salvatorkapelle) des alten Rathauses in der Wipplinger Straße[8] beschäftigte seit 1373 vier Chorschüler, die die Messen zu singen halfen (vgl. » E. Musik im Gottesdienst, Kap. Musikalische Stiftungen). Aber wie eine teilweise Umschrift eines Inventars vom 27. November 1431 erweist, war das musikalische Repertoire umfassender:
“Vermerkt die Ornement und/ klainad die beschriben sind/ worden in Otten und Haymen/ Capellen, Anno etc. Tricesimo/ primo an Eritag vor sand/ andres tag/
Von ersten drew messpuecher, und/ zway Gradual und zwen antiffner/ …
Item ain verprannts Cancional/ …
Item die Passion genotirt/
Item ain puch mit gesankch und Colletten/ …
Item ain alts Cancional in papir/…”(» Abb. Inventar der Rathauskapelle, 1431)
Auch hier wird zwischen alten und neuen Büchern unterschieden. Dass gerade von den Cantionalien eines als „alt“, ein anderes als „verbrannt“ bezeichnet wird, könnte auf einen Niedergang musikalischer Praxis deuten, denn „Cantional“ war der übliche Name für Handschriften mit Liedern und mehrstimmigen Gesängen. Immerhin verwendete man ein Buch mit Gesang und Gebetstexten (Colletten), vielleicht für Totenoffizien, und man hatte eine notierte Passion – was zumindest den gesungenen Vortrag der Passionslesungen, vielleicht sogar das Singen einer dramatisierten Fassung nahelegt.
Ein sapphischer Hymnus aus dem Himmelpfortkloster
Wiener Choralbücher und Musikfragmente aus Klöstern sind häufiger erhalten als weltkirchliche Quellen.[9] Eine Sammlung von Pergamentfragmenten im Wiener Stadt- und Landesarchiv (A-Wsa) ist aus ehemaligen Einbänden von Amtsbüchern des Wiener Bürgerspitals gebildet worden; diese Pergamentblätter stammen aus Choralhandschriften des 13.-16. Jahrhunderts und wurden von Wiener Buchbindern des 17. Jahrhunderts verarbeitet. Klaus Lohrmann identifizierte darunter Teile von Antiphonarien, Gradualien und notierten Chorpsaltern aus Wien bzw. der Passauer Diözese, meist in gotischer Choralnotation oder Quadratnotation.[10] Eine der von ihm vorgeschlagenen Provenienzen ist das Zisterzienserinnenkloster St. Niklas vor dem Stubentor (bzw. in der Singerstraße), eine andere das Praemonstratenserinnenkloster St. Agnes („Himmelpfortkloster“), das offenbar Beziehungen zu St. Stephan hatte (» E. Musik im Gottesdienst, Kap. Zwei polyphone Stiftungen).[11]
Auffallend ist ein großformatiges Blatt mit rhythmischer Notation (um 1480) in einem Sequentiar-Hymnar des Himmelpfortklosters, das für den Chorgesang der Nonnen bestimmt war. Das Blatt enthält nicht zufällig einen Hymnus für die Jungfrau und Märtyrerin St. Agnes: „Virginis proles opifexque matris“ (» Abb. Virginis proles). Der lateinische Text, der wohl in Rom im 8. oder 9. Jahrhundert entstand, ist eine korrekt skandierte sapphische Strophe. Der hier den Noten unterlegte Text der ersten Strophe ist:
Ad nocturnum. Ymnus.Virginis proles opifexque matris,/ Virgo quem gessit peperitque virgo,/ Virginis festum canimus tropheum,/ Accipe votum.[12]
(Zur Nokturn: Hymnus. Sohn der Jungfrau und Schöpfer der Mutter, den eine Jungfrau trug und eine Jungfrau gebar: Wir besingen das Siegesfest einer Jungfrau: Nimm unsere Bitte an.)
Die im Wiener Fragment notierte Melodie ist verschieden von den ausländischen Quellen; sie steht im E-Modus und wird syllabisch deklamierend vorgetragen (» Notenbsp. Virginis proles). Die Notation unterscheidet zwischen langen (quadratischen) und kurzen (rhombischen) Noten; dies bezeugt, dass der Hymnus rhythmisch im Chor gesungen wurde. Er ist ein Beispiel des rhythmischen Kirchenchorals (» A. Rhythmischer Choralgesang), wie er in Klöstern und Stiften geübt wurde; er ist auch nicht weit entfernt von den lateinischen, metrischen Gesängen der sogenannten „Humanistenode“, die in dieser Region um 1500 entwickelt wurde (» I. Odengesang). Freilich: Im Gegensatz zur humanistischen Metrik werden hier die langen und kurzen Noten nach den lateinischen Wortbetonungen verteilt, nicht nach den lateinischen Skansionsregeln, die im Text beachtet werden. Solchen rhythmischen Umdeutungen des sapphischen Strophenschemas diente die von Guido d’Arezzo (11. Jh.) bekanntgemachte Melodie „Ut queant laxis resonare fibris“, die ebenfalls in dieser Weise rhythmisch gesungen worden ist, als einprägsames Vorbild.
Vollständig erhaltene Klosterhandschriften
Selten beachtet wird eine ehemalige Musikhandschrift des Wiener Minoritenklosters aus dem 14. und frühen 15. Jahrhundert, die sich bis zum 2. Weltkrieg in der Preußischen Staatsbibliothek befand, dann an die Biblioteka Jagiellońska Kraków gelangte: » PL-Kj Berol. Mus. Ms. 40580.[13] Sie enthielt Ordinariumsgesänge mit Tropen, Sequenzen, Benedicamus domino, Alleluia, Antiphonen, Responsorien, Cantionen und sogar, als Nachträge auf dem Innendeckel, zwei deutsche Lieder. Nicht weniger als 16 Stücke sind in einfacher („klösterlicher“) Mehrstimmigkeit gesetzt (» A. Klösterliche Mehrstimmigkeit). Man hat hier vielleicht mehr gesammelt als in der täglichen rituellen Praxis der Minoriten verlangt war; es muss aber Musikunterricht erteilt worden sein, um die Stücke vortragen zu können. Sechs verschiedene Hände waren an der Herstellung der Handschrift beteiligt, sie interessierte somit mehr als ein Konventsmitglied.
Robert Klugseder bemerkte den Zusammenhang dieser Quelle mit dem Prozessionar der Österreichischen Nationalbibliothek, » A-Wn Cod. 1894, das vormals dem Büßerinnenkloster von St. Maria Magdalena vor dem Schottentor gehörte, wie der Besitzeintrag auf fol. 1r erklärt: „Daz puech gehort czu sant Maria Magdalen vor schotten tar czu wienn“. Auf fol. 95v steht die Jahreszahl 1489.[14] Im Unterschied zu anderen musikalischen Codices aus diesem Kanonissenkloster[15] enthält der kleine Band Prozessionsgesänge und Offizien des Dominikanerordens, weshalb er wohl erst nach seiner ursprünglichen Abfassung nach St. Maria Magdalena kam. Er wurde dort mit Nachträgen versehen. Bereits im früheren Zustand enthielt der Codex zwei zweistimmige >Lektionen< für Weihnachten, von denen eine („Vox clamantis“) auch in PL-Kj Berol. Mus. Ms. 40580, überliefert ist.[16] Und ähnlich wie dort steht auch hier auf dem hinteren Innendeckel ein deutsches geistliches Liebeslied, ohne Noten: „Maria aller engel ain clare chraune“ (Maria, leuchtende Krone aller Engel).
In Frauenklöstern waren deutschsprachige Gesänge beliebt – obwohl nicht angenommen werden darf, dass Klosterfrauen nicht lateinisch sangen, denn dafür gibt es unzählige Beispiele. Der 1477 datierte » Cod. 3079 der Österreichischen Nationalbibliothek[17] jedoch ist ein hervorragendes Monument der Eindeutschung des chorischen Gesangsrepertoires, wie sie sich gegen 1500 vor allem in Laiengemeinschaften durchsetzte – im Unterschied zu den älteren deutschen Übersetzungen solistischer Gesänge und geistlicher Lieder (vgl. » B. Traditionsbildungen des Liedes). In Cod. 3079 ist ein Großteil der chorischen Gesänge – vor allem Psalmen und Hymnen – des Passauer Diözesanbreviers ins Deutsche übersetzt und mit Noten versehen, wurde also vom Klosterchor gesungen. Ein Beispiel ist die Versübersetzung des Weihnachtshymnus A solis ortus cardine, die denselben Noten unterlegt ist (fol. 170v-172r; vgl. » Hörbsp. ♫ Von dem angell der sun auffgang). Die Handschrift wird aufgrund historischer Hinweise dem Büßerinnenkloster St. Hieronymus in der Weihburggasse zugeordnet; die erste Rubrik auf fol. 1r, erwähnt „die Singerin“ (Vorsängerin).[18] Auf derselben Seite steht ein Besitzvermerk Kaiser Friedrichs III. und dessen Devise „A.E.I.O.U.“ – vielleicht weil der Kaiser den Schreiber des Codex, der sich namentlich nennt (Erasmus Werdener aus Delitzsch), zugunsten des Klosters bezahlen ließ.
Kirchenlieder in Wiener Überlieferung
Die Kantoreiordnung von St. Stephan von 1460 sieht vor, dass der allgemeine Chor der Schulknaben „alles gesang, als cantum gregorianum, conducten, und auch ander gesang so zu ainer yeden hochczait gehöret“, vier oder fünf Tage lang vor jedem der Hochfeste („hochczaiten“) Weihnachten, Ostern und Pfingsten einstudieren sollte.[19] Die nicht als „cantus gregorianus“ bezeichneten Kategorien von Gesängen, die der allgemeine Chor lernen sollte, sind weniger eindeutig bestimmbar, doch sind unter „Conducten“ sicher jene Gesänge zu verstehen, die im 13. Jahrhundert als „conductus“ verbreitet waren und seit dem 14. Jahrhundert öfter als „cantiones“ bezeichnet wurden: strophische und meist gereimte, festliche Lieder. [20] Ein Beispiel ist das Weihnachtslied Nunc angelorum gloria, das im Seckauer Cantionarius von 1345 (» A-Gu Cod. 756) noch „conductus“ genannt wurde und im Moosburger Graduale von 1360 (» D-Mu Hs. 2°156) unter dem neueren Gattungsnamen „cantiones“ eingereiht ist (» A. Gesänge zu Weihnachten im Stift Seckau, Kap. Die Entstehung des Begriffes „cantio“). Wahrscheinlich sollte der Begriff „Conducten“ in der Wiener Kantoreiordnung neben lateinischen auch deutschsprachige Gesänge umfassen. Nach der Kantoreiordnung sollten die „dazu geeigneten Knaben“ auch >cantus figurativus< lernen: Zahlreiche mensurale Vertonungen geistlicher Lieder sind im » St.-Emmeram-Codex und den Trienter Codices » I-TRcap 93* und I-TRbc 88-91 erhalten. Hier sei jedoch von zwei Wiener Quellen einstimmiger geistlicher Lieder die Rede.
Die Institutionen, an denen solche Lieder einstudiert und öffentlich vorgetragen wurden, waren in der Region Österreich einerseits die Klöster und Stifte, andererseits auch Weltkirchen (»E. Kap. Das Bozner Ansingen). Gemeinsames Merkmal der Praxis war ihr Zusammenhang mit Erziehung und Schule. In Wien sind zwei frühe Quellen von „Conducten“ erhalten, die diesen Zusammenhang bezeugen dürften.
Drei Weihnachtsgesänge sind in einem Papierfragment (Fragment A.1) überliefert, das aus A-Ws Archiv Hs. 131 (Hübl 120), einer theologischen Handschrift des Wiener Schottenstifts, ausgelöst wurde und nach Heinz Ristory vermutlich noch aus dem 14. Jahrhundert stammt.[21] Die teilweise mensural zu verstehende Notation des Fragments unterscheidet zwei verschiedene Werte der Einzelnote (quadratische bzw. rhombische Noten) und verwendet dazu gestielte Noten als Auftakte.[22] Die Texte dieser Gesänge sind sonst nicht überliefert: Ihr artifizieller, mit biblischen Metaphern überladener Stil könnte aus dem Milieu einer Lateinschule (z. B. des Schottenklosters) stammen. Die erste Cantio, Rubus ignitur floridus, ist strophisch, in Virelai-Form mit dreizeiligen Stollen, einem vierzeiligen Refrain und einer den Stollen gleichgebauten Überleitung („Ergo dic, iube domine/ tu lector, benedicere/ et carmine proficere“). Der Text dieser Überleitung belegt die liturgische Bestimmung des Liedes als Lektionseinleitung in der Weihnachtsmatutin.[23] Interne melodische Wiederholungen ziehen sich durch alle Abschnitte hindurch. Das zweite Lied, Inulas merus scaturit, ist ebenfalls in Refrainform, ohne Überleitungsteil.[24] Das dritte Lied, Iam revirescunt arida, ist wieder in Virelai-Form mit Überleitung zwischen Strophe und Refrain. Die ersten beiden Lieder stehen im ersten Modus, das dritte jedoch auf C bzw. in einem transponierten 8. Modus.
Eine ebenfalls theologische Handschrift aus der alten Wiener Universitätsbibliothek, » A-Wn Cod. 4702 (ehemals Univ. 675), hat einen musikalischen Anhang, der aber nicht als Einbindematerial diente, sondern als Ganzes an den Hauptband angebunden wurde; in diesem Hauptband stehen die Daten 1398 und 1400.[25] Im Anhang finden wir drei kurze Musiktraktate (fol. 86r-88v); darauf folgen – stets in gotischer Choralnotation – Psalm- und Magnificat-Töne (fol. 88v-90v) sowie eine Sammlung von Gesängen für Festzeiten. Die Sequenz für einen Bekenner-Bischof, Ave gemma confessoris (fol. 91r) passt zum Nikolausfest, die tropierte Sanctusmelodie Rector celi zu Weihnachten. Das zweistimmige Lied Universi populi (fol. 91r) ist ebenso eine Lektionseinleitung zur Weihnachtsmatutin wie Rubus ignitur im Schottenstift-Fragment. Es folgen ein zweistimmiger Benedicamus-Tropus (Ad laudes Marie cantemus hodie), einstimmige Gesänge für St. Stephan und St. Katharina, ein dreistimmiges untropiertes Benedicamus domino, weitere Tropen und Weihnachtslieder (Puer natus in Bethlehem, Nunc angelorum gloria, Ewangelizo gaudium, Novus annus hodie, Nos respectu gracie), sowie ein Lied zu Mariae Himmelfahrt (Assumpta est hodie). Die Musikpraxis, aus der diese kleine Sammlung zu stammen scheint, ist an der Universität oder einer Pfarr- oder Klosterschule zu suchen.
Der „Wiener Codex“
Europäische Mehrstimmigkeit der Zeit um 1380-1415 ist in einem ehemaligen Wiener Codex gesammelt, dessen Fragmente heute in den Bibliotheken von Melk und Nürnberg verteilt liegen. Die ursprüngliche Handschrift befand sich höchstwahrscheinlich an der Bürgerschule zu St. Stephan in Wien, als sie um 1458-1461 als Bindematerial vermakuliert wurde (» K. Musikalische Quellenporträts).
An der Bürgerschule lehrten Professoren und Absolventen der Universität. Schulknaben und erwachsene Musiker der Bürgerschule sowie weitere Universitätsangehörige können die Musik des Codex aufgeführt haben. Die Kirchenmusik des Codex wurde wohl nicht in Gottesdiensten des Stephanskapitels, sondern eher in Privatmessen aufgeführt, wo Mitglieder der Schule und Kantorei gegen Bezahlung zu singen hatten.
Dass die Musik in der süddeutsch/österreichischen Region tatsächlich musiziert wurde, belegt die sprachliche Form der Hinweise “Sichs an” und “lug auff” – bei einer aus Nordfrankreich oder Flandern (ca. 1380) stammenden Motette in diesem Codex (» Abb. Motette Degentis vita).
„Sichs an“ und „Lug auff“ (witzige Markierungen, wie sie noch heute in Form eingezeichneter Brillen in Aufführungsstimmen gefunden werden können) sind hier im Tenor mit roter Tinte eingezeichnete Rubriken und stammen vom Schreiber der Musikstücke, der also auch mit deren Aufführung zu gehabt haben dürfte.
Der musikalische Inhalt des „Wiener Codex“ (» K. Musikalische Quellenporträts) ist durch zahlreiche Konkordanzen mit anderen Musikquellen der Epoche um 1380-1415 vernetzt, die von Mittelitalien bis nach England und Polen verstreut sind. Unter den elf Kompositionen des Fragments sind sechs Ordinariumsvertonungen (vier Glorias, zwei Credos) zum kirchlichen Gebrauch bestimmt. Die anderen sind drei Motetten und zwei weltliche Stücke, eines davon die weitberühmte Ballade „De petit peu“ des französischen Meisters Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377), das andere ein Virelai mit dem Titel “Bobik blazen” (tschechisch für „Robert der Spielmann“).[26]
Das Gloria von Johannes Ciconia (ca. 1370-1412) ist auch in zwei Paduaner Quellen des frühesten 15. Jahrhunderts überliefert, die aber ebenfalls fragmentarisch sind. Die Satzstruktur von zwei gleichhohen Oberstimmen und einem textlosen Tenor, die damals in Italien beliebt war, könnte mit Falsettisten oder Knabenstimmen und vielleicht Orgelpositiv für den Tenor ausgeführt worden sein. Der rhythmisch deklamierende Textvortrag und die kurzen, deutlich voneinander abgesetzten musikalischen Abschnitte sind typisch für den Stil des nach Italien eingewanderten Lütticher Komponisten (» Notenbsp. Et in terra pax, Ciconia).
Der St. Emmeram-Codex (D-Mbs Clm 14274)
Der St-Emmeram-Codex der Bayerischen Staatsbibliothek (» D-Mbs Clm 14274), mit 255 Musikstücken auf 158 Blättern, ist als wichtiges Monument der mehrstimmigen Musik des 15. Jahrhunderts schon lange bekannt und wurde nun durch die Forschungen von Ian Rumbold und Peter Wright vorbildlich erschlossen.[27] Rumbold und Dagmar Braunschweig ermittelten unabhängig voneinander den Hauptschreiber und ursprünglichen Besitzer der Handschrift, den Wiener Studenten und späteren Priester Hermann Pötzlinger aus Bayreuth (ca. 1410/1415-1469; vgl. » G. Hermann Pötzlinger).[28] Peter Wright identifizierte den zweitwichtigsten Schreiber als Wolfgang Chranekker, der 1441 als Organist von St. Wolfgang am Abersee (Wolfgangssee), und 1448 als Kaplan in Regensburg bezeugt ist. Pötzlinger selbst wurde 1448 Schulrektor des Benediktinerklosters St. Emmeram in Regensburg, wo er den Rest seines Lebens verbrachte; um 1459 übergab oder vermachte er seine für damals riesige Bibliothek von über 100 Bänden an das Kloster, von wo sie im 19. Jahrhundert an die Bayerische Staatsbibliothek gelangte.[29]
Die Zeitspanne der Herstellung von Clm 14274 ist durch Wasserzeichendatierungen für die Jahre zwischen 1430/1433 und 1441 gesichert. 1436-1439 war Pötzlinger als Student der freien Künste an der Wiener Universität immatrikuliert. Er erwarb am 14. April 1439 das Baccalaureat und am 1. Mai 1439 eine Lizenz zu wahrscheinlich vorübergehender Abwesenheit, dürfte aber bald nach Wien zurückgekehrt sein.[30] Absolventen der Artistenfakultät wurden damals nach dem Baccalaureat zu Lehrverpflichtungen herangezogen, sofern sie den Magistergrad anstrebten. Der weitaus größte Teil der Musikhandschrift wurde um 1439-1440, somit höchstwahrscheinlich in Wien, geschrieben. Damals entstanden auch mehrere andere Bände von Pötzlingers Bibliothek, die den Universitätsfächern Theologie und Freie Künste (besonders Grammatik und Rhetorik) gewidmet waren. Wolfgang Chranekker arbeitete an einigen dieser Bücher Pötzlingers mit, darunter an dessen Bibel. Er notierte auch Musikstücke in » A-Wn Cod. 5094,[31] was seine Anwesenheit in Wien um 1440-1445 wahrscheinlich macht. Zu Clm 14274 trug er vor allem die drei jüngsten Faszikel mit etwa 40 Kompositionen bei, die an den Anfang bzw. das Ende der ursprünglichen Handschrift gebunden wurden. Im Jahre 1440 änderte Pötzlinger seine Notationsweise von voller („schwarzer“) zu hohler („weisser“) Notation. Chranekker und ein anderer Assistent schrieben von vornherein in der moderneren Art.
Der Inhalt von Clm 14274 ist ausnahmslos geistlich, was ihn von vielen früheren mehrstimmigen Quellen unterscheidet, darunter dem „Wiener Codex“ (vgl. Kap. Der „Wiener Codex“). Zur Messliturgie gehört mehr als die Hälfte aller Stücke; in der chronologisch ältesten Schicht der Aufzeichnungen finden sich einstimmige, aber rhythmisierte Credo- und Kyriemelodien.[32] Diese Sektion war ursprünglich wohl größer: Unmittelbar vorher scheint ein erster Faszikel zu fehlen (vermutlich mit einstimmigen Gloria-Melodien), der später durch den jetzigen ersten, von Chranekker geschriebenen Faszikel mit mehrstimmigen Kompositionen ersetzt wurde.[33] Weiterhin dominieren mehrstimmige Messordinariumssätze; daneben finden sich Introiten, Sequenzen, Offertorien (aus dem Messproprium), 9 Offiziumsantiphonen, 7 Magnificat, 24 Offiziumshymnen, einzelne Psalmintonationen und Benedicamus domino. Alles Übrige erscheint „dazwischengestreut“: Motetten, geistliche Lieder und Cantionen, dazu geistliche Kontrafakturen weltlicher Lieder, auf deren französische Originalincipits auffallend oft und deutlich verwiesen wird (z. B. „Bon iour“ als Überschrift für „Ihesu iudex veritatis“ auf fol. 23v, usw.).
Zu Repertoire und Verwendung des St. Emmeram-Codex
Während das Repertoire von Hermann Pötzlingers Codex (» D-Mbs Clm 14274) durch die europäische Weite seiner Herkunft überrascht – immerhin stammen 106 Stücke von 23 namentlich ermittelten Komponisten aus England, Frankreich/Flandern und Italien, davon allein 39 von Du Fay, 15 von Binchois[34] – hat diese reiche Sammlung auch eine lokale bzw. regionale Komponente. Sie besteht aus Musikstücken von etwa 13 Komponisten, deren Namen mit Wien, Regensburg, München, Leipzig, sowie mit Böhmen und Polen verknüpft sind. Einige Autoren haben mit Pötzlingers Laufbahn zu tun, z. B. Peter Sweikl oder Sweiker (Bamberg? Wien, Regensburg) und der in Wien, Regensburg und München tätige Arzt Dr. Rudolf Volkhardt von Häringen.[35] Regionales Repertoire stammt wohl auch von zwei niederländischen Musikern: Johannes Brassart, dem Hofkapellmeister Albrechts II. und Friedrichs III. (» D. Hofmusik) mit vier Kompositionen, und Johannes Roullet, mit acht Kompositionen (davon sieben Unica); Musik des Letzteren kommt sonst nur in regionalen Quellen vor.[36] Von beiden Komponisten erscheinen in Clm 14274 auch deutschsprachige Lieder bzw. Texte (» B. Volkslieder?, Kap. Streuüberlieferung). Lokales Repertoire sind zweifellos die Kompositionen von Hermann Edlerawer, dem Schulkantor zu St. Stephan (ca. 1440-1445; » G. Hermann Edlerawer). Seine Vertonung der Fronleichnams-Sequenz Lauda Sion salvatorem ist das letzte Werk in der Handschrift und der Abschluss von Chranekkers Arbeit daran (» Abb. Edlerawer in D-Mbs Clm 14274). Die Sequenz, die auch im Codex Trient 93 (» I-TRcap 93*) überliefert ist, wurde vermutlich für die Kantorei von St. Stephan geschaffen, um am Fronleichnamsfest öffentlich vorgetragen zu werden. Wie in anderen Kompositionen Edlerawers und ausländischer Musiker in dieser Handschrift dominiert hier eine relativ einfach fließende, konsonante Dreistimmigkeit, die um 1440 modern war (» Notenbsp. Lauda Sion, Edlerawer; » Hörbsp. ♫ Lauda Sion Salvatorem, Edlerawer). Die beiden hier gezeigten Halbstrophen 1 und 2 haben dieselbe aus der Choralmelodie abgeleitete Oberstimme; die Unterstimmen sind geschickt variiert. Die je drei Verse jeder Halbstrophe sind auf 6+5+4 Takte abgemessen.
Praktische Verwendung der Musik ist in der Handschrift mehrfach impliziert, etwa in einigen Notaten einfachster Psalm-Intonationen, die nicht als eigenständige Kompositionen gedacht sind. Auch die häufig verwendete Technik des aus Westeuropa eingeführten fauxbourdon (nur zwei Stimmen sind notiert, die dritte wird nach einfachen Regeln extemporiert) hat aufführungspraktische Bedeutung. Die zahlreichen geistlichen Kontrafakte sind ausländische weltliche Musik, die man den örtlichen Kirchenmusikern, darunter Schulknaben, zum Singen geben wollte. Manche weltlichen Stücke sind textlos kopiert, sicher um passende geistliche Texte zu unterlegen, die erst ausgewählt oder neugedichtet werden sollten. Auch bestand ein Zusammenhang mit kompositorischer Praxis am Entstehungsort des Codex (» C. Kompositorische Lernprozesse). Doch wo und von wem konnte ein so weitgespanntes Repertoire überhaupt praktisch angewendet werden? Waren viele Stücke nur zum Studium, zur Erbauung oder zum Vergnügen gedacht? Kann die Artistenfakultät der Universität, wo Pötzlinger studierte, so viele musikalische Aufführungen benötigt haben? Daneben erhebt sich die Frage nach Pötzlingers Zugang zu diesem Repertoire, das in damaligen Wiener Kirchen vielleicht nicht in diesem Umfang verfügbar war.
Ian Rumbold (» G. Hermann Pötzlinger, Kap. Music Manuscripts and Education) erwägt, ob das Zusammenstellen solcher Musiksammlungen vielleicht normale Praxis von (kirchlichen) Schulmeistern war, bzw. von Studenten, die es werden wollten – und führt Parallelbeispiele aus der Region auf. Dass Pötzlinger sich mit seiner Sammlung für einen Schulmeisterposten qualifizieren wollte (den er unseres Wissens erst 1448 in Regensburg bekam), ist auch deshalb naheliegend, weil nur 15 Jahre später Johannes Wiser anscheinend genau dasselbe unternahm (Kap. Kontroversen um Tr 93 und 90). Die Vermutung liegt nahe, dass Pötzlinger aus verschiedenen Quellen seiner Umwelt schöpfte – darunter der Universität, der Hofmusik, der Kollegiatkirche, vielleicht örtlichen Klöstern –, um über deren jeweiligen Bedarf hinaus soviel Musik wie möglich für seine erhoffte Karriere zu sammeln.
Zeugnisse einer Wiener „Organistenwerkstatt“ in A-Wn, Cod. 5094
Eine merkwürdig bunte Sammlung musikalischer Aufzeichnungen befindet sich im Anhang der Handschrift » A-Wn Cod. 5094, die im Hauptteil eine Sammlung kirchenrechtlicher und kirchenpolitischer Texte ist. Letzteres Material stammt aus der Zeit von ca. 1420 bis ca. 1465; die musikalischen Teile sind in die 1440er Jahre zu datieren. (Zur Herkunft und Zusammengehörigkeit der beiden Sammlungen vgl. » A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs.) Während viele Dokumente und Traktate des Hauptteils mit dem Augustiner-Eremitenkloster München zu tun haben, ist der Musikanhang mit Wien bzw. der Region Österreich verbunden: Einer der wohl 12 verschiedenen Schreiber ist Wolfgang Chranekker, der 1441 belegte Organist und zweitwichtigste Schreiber von » D-Mbs Clm 14274 (vgl. Kap. Der St. Emmeram-Codex); außerdem finden sich hier, fragmentarisch, eine Komposition Oswalds von Wolkenstein mit lateinischem Kontrafakturtext und ein geistliches Liedkontrafakt des Mönchs von Salzburg. Der Text einer einstimmigen Sequenz für den Bekenner-Bischof St. Ulrich (von Augsburg) ist vom gleichen Schreiber auch für die Salzburger Diözesanheiligen Wolfgang und Rupert sowie für die Diözese Passau (und damit Wien) adaptiert worden (vgl. Inhaltsübersicht » K. A-Wn, Cod. 5094: Souvenirs.)
Da Chranekker und andere Schreiber Orgeltabulaturschrift und >Strichnotation< verwenden, wurde öfters vorgeschlagen, der Musikanhang stamme aus der Praxis von Organisten, ja geradezu einer „Organistenwerkstatt“ (vgl. » C. Orgeln und Orgelmusik, » C. Organisten und Kopisten).[37] Doch gibt es weitere Aspekte einer instrumental-vokalen Praxis geistlicher Musik, wie sie vermutlich in Wiener Kirchen und Klöstern von Organisten und anderen Musikern ausgeübt wurde. Die Sammlung enthält nämlich außer eigentlicher Tabulaturschrift sowie instrumental gedachter Partiturnotation und Strichnotation auch ein- und zweistimmige Messensätze in >cantus fractus< (rhythmisierter Choralschrift) oder in einer halbmensuralen Notation mit >Notenwertpunkten<: Diese Notationsweisen waren besonders für Sänger gedacht, die mit den Regeln der Mensuralnotation nicht vertraut waren. Solche Sänger dürften oft unter der Leitung von Organisten musiziert haben, vor allem in Klöstern, wo kein eigentlicher Kantor angestellt war. Ferner umfasst die Sammlung viele einstimmige Choralmelodien – meist dem Messproprium für Maria und anderen beliebten Heiligen zugehörig –, die von Organisten zusammen mit dem allgemeinen Chor oder alternierend ausgeführt werden konnten. Die mehrfache Niederschrift einer dreistimmigen Vertonung des Marienhymnus „Ave maris stella“ erinnert an kompositorische Versuche mit demselben Hymnus im St. Emmeram-Codex (» C. Kompositorische Lernprozesse).
Mensurale Vokalkompositionen finden sich auch als Kontrafakte oder textlos. Zwei stammen von Guillaume Du Fay: das verbreitete Rondeau Ce jour le doibt (textlos) und die Huldigungskomposition Seigneur Leon/Benedictus qui venit (nur Textincipits vorhanden) auf Marchese Lionello d’Este von Ferrara, 1442 (» Hörbsp. ♫ Seigneur Leon). Eine dritte Komposition, Vivat nobilis prosapie, deren Text vollständig unterlegt, jedoch gestrichen ist, hatte wohl ebenfalls einen zeremonialen Zweck. Die Kanzellierung verbirgt den Namen eines gefeierten Besuchers in Wien: des Augustinerbruders und Kanonisten Erasmus Gunther aus München (» K. A-Wn Cod. 5094: Souvenirs).
Kontroversen um die Herkunft der Trienter Codices 93 und 90
Zwei umfangreiche Musikhandschriften mit Hunderten mehrstimmiger Kompositionen, die zu den sieben „Trienter Codices“ des 15. Jahrhunderts gehören (» F. Europäische Musik), spielen in der Überlieferung der Wiener Kirchenmusik eine Rolle. Es sind die Handschriften Trient 93 (» I-TRcap 93*, eigentlich B.L.) und Trient 90 (» I-TRbc 90 = 1377). Der Hauptteil von Trient 93 (Tr 93-1) ist eine geordnete Sammlung von Vertonungen des Messpropriums und Messordinariums und wurde im Wesentlichen von zwei Schreibern um 1451-1454 notiert (» I-TRcap 93*: Eine zentrale Sammlung europäischer Messenmusik.) Diesen Hauptteil kopierte Johannes Wiser aus München, der 1455 als succentor (Gehilfe des Schulrektors) am Dom von Trient auftaucht, um 1453-1456 in einen neuen Band, Trient 90 (Tr 90-1).[38] Wiser und andere Kopisten fügten wenig später weitere Kompositionen am Ende beider Bände hinzu (Tr 93-2 bzw. 90-2).[39]
Eine Verbindung dieser Musikhandschriften mit Wien sah die ältere deutschsprachige Forschung vor allem in der Person von Johannes Hinderbach, Bischof von Trient 1465-1486, der nach mehrjährigem Wirken im Wiener Raum am 5. Oktober 1455 auf Vorschlag von Erzherzog Siegmund von Tirol zum Dompropst von Trient ernannt worden war. Wahrscheinlich aber residierte Hinderbach als Dompropst (1455-1465) noch nicht in Trient; selbst der damalige Bischof Georg Hack (1444-1465) verbrachte auf Grund von Konflikten mit der Trienter Bürgerschaft mehrere Jahre an anderen Orten der Diözese. Italienische Forscher betonten, dass zumindest die Handschriften Trient 90, » 88 und » 89 wegen der autoritativen Mitwirkung Johannes Wisers in Trient selbst entstanden sein müssten.[40] Dieses unabweisbare Argument verhindert freilich nicht, dass die Musik von anderswoher über Zwischenvorlagen nach Trient gelangt sein kann.
Wasserzeichenforschung ergab, dass das Papier der Handschriftenteile Tr 93-1 und 90-1 in den Trienter Codices sonst nicht vorkommt,[41] was entweder durch zeitliche Differenz bedingt sein oder auf fremde Herkunft deuten könnte. Peter Wright hat die Verbreitung dieser Papiere weiter erforscht: Die Wasserzeichen von Tr 90-1 konnte er fast ausschließlich in Süddeutschland nachweisen.[42] Dies führte ihn zu der These, Wiser habe Tr 93-1 in seiner Heimatstadt München kopiert, bevor er 1455 nach Trient berufen wurde. Unter dieser Voraussetzung hätte Wiser die Vorlage (Tr 93-1) zusammen mit der Kopie (Tr 90-1) an seinen neuen Trienter Arbeitsplatz mitgenommen. Ein anderer an der Niederschrift beider Codices beteiligter Schreiber wäre mitgereist. Wisers Vorlage, Tr 93-1, hätte sich um 1453-1455 in München befunden und wäre vielleicht auch dort entstanden;[43] trotzdem hätte man Wiser während oder nach der Kopienahme erlaubt, mitsamt dem noch ziemlich neuen Original davonzureisen (»Kap. Die Entstehung von Trient 90 nach Peter Wright).
Viel einfacher ist die Kopienahme an dem Ort zu vermuten, an dem sich sowohl das Original als auch die Abschrift heute befinden: Trient. Wiser kann Tr 93-1 dort bei seiner Ankunft vorgefunden haben. Die Motivation zu seiner Abschrift dürfte dann gewesen sein, eine Musiksammlung anzulegen, die seiner weiteren Karriere nützen würde.[44] Dass er die erhoffte Schulrektorstellung in Trient selbst erreichen sollte (1458) – weshalb seine Abschrift dort verblieben ist – konnte er damals noch nicht wissen.
Rudolf Flotzinger lehnte die „München-These“ aus methodologischen Gründen ab (Papiersorten wurden im Handel weit verbreitet) und schloss aus dem liturgischen Inhalt von Trient 93 auf dessen Bestimmung für St. Stephan in Wien.[45] Flotzinger vermutet, dass der 1455 erstmalig belegte Trienter Schulrektor Johannes Prenner – Wisers damaliger Vorgesetzter – mit einem in Wien seit 1446 belegten Kleriker Johannes Prenner aus Braunau identisch sei. Wiser selbst sei mit einem 1454 im Herbstsemester an der Universität immatrikulierten „Johannes organista de Monaco“ gleichzusetzen (was schon früher vermutet worden war).[46]
Das von Giulia Gabrielli entdeckte Bozner Fragment, das von denselben Kopisten geschrieben ist wie Tr 93-1 (» F. SL Das Bozner Fragment), wurde von Flotzinger noch nicht berücksichtigt. Es enthält, verblüffend genug, nur Kompositionen des Stundengebets (Antiphonen, Hymnen) sowie weltliche Musik, ist also inhaltlich ein Gegenstück zu Tr 93-1, mit dessen Papier es sogar ein Wasserzeichen gemeinsam hat. Kann Bozen der gemeinsame Herkunftsort von Tr 93-1 und dem Bozner Fragment sein?
Eine Hypothese der Entstehung und Bestimmung dieser Handschriften, die alle derzeit erreichbaren quellenkundlichen, liturgischen und kulturhistorischen Fakten berücksichtigt und die Hypothesen Wrights und Flotzingers entkräftet bzw. modifiziert, wird in » K. I-TRcap 93*: Eine zentrale Sammlung europäischer Messenmusik vorgelegt.
Wiener Kirchenmusik in den mittleren Trienter Codices (ca. 1450-1460)?
Die mittleren Trienter Codices (» I-TRcap 93*, I-TRbc 90 und I-TRbc 88) spielen in der Überlieferung der Wiener Kirchenmusik dann eine Rolle, wenn ihr Inhalt glaubwürdig mit Wiener Institutionen verbunden werden kann (vgl. Kap. Kontroversen um Tr 93 und Tr 90) – wenn auch nicht unbedingt als Bestimmungsort der Niederschriften, so doch vielleicht als früherer Aufführungsort oder gar Entstehungsort der Musik.
Tr 93-1 (der Hauptteil von I-TRcap 93*) überliefert 217 Kompositionen des Messpropriums und Messordinariums (7 Messantiphonen, 61 Introiten, 39 Kyries, 38 Glorias, 15 Sequenzen, 25 Credos, 20 Sanctus und 12 Agnus Dei). Johannes Wiser replizierte die Sammlung in Tr 90-1, wobei er die Sequenzvertonungen ausließ. Die Anordnung der Gesangsgattungen entspricht dem Ablauf der Messfeier, und innerhalb der einzelnen Gattungen dem Graduale und Kyriale: Die Sammlung als Ganzes war sicher für den Gottesdienst bestimmt. Die für damals außergewöhnliche Zahl der Messensätze, und das Zusammenhäufen oft mehrerer Vertonungen derselben Introitus-Texte (es gibt z. B. sieben verschiedene „Resurrexi“, fünf „Spiritus domini“, vier „Terribilis“) deutet auf eine musikalisch führende Institution als Bestimmungs- oder Herkunftsort: am ehesten die Hofmusik König Friedrichs III., deren Hauptstandorte außerhalb Wiens lagen. Die Pflege polyphoner Introiten und Sequenzen für Hochämter ist in älteren, mit Habsburg zusammenhängenden Quellen (» Codex Aosta (I-AO), » I-TRbc 87 und » I-TRbc 92) belegt; mit diesen hat Tr 93-1 relativ viele Konkordanzen.
Aber schon um 1440 wurden auch im Wiener universitären bzw. städtischen » St. Emmeram-Codex 15 Introitusvertonungen und 12 Sequenzen gesammelt. Da diese Gattungen zu Festtagen bestimmter Heiliger gehören (verzeichnet im Sanctorale bzw. Commune sanctorum), lässt sich ihr Gebrauch unter Vorbehalt auf Institutionen beziehen. Nach Rudolf Flotzinger käme für Trient 93 die Kantorei von St. Stephan in Frage; auch seien Festmessen für die Schutzpatrone der Wiener Universitätsfakultäten (Katharina, Cosmas und Damian, Apostel Johannes, Ivo) mit diesem Repertoire gut ausführbar.[47] Jedoch sind die vorhandenen Introiten und Sequenzen für jeweils mehrere Feste geeignet, oder die angesprochenen Heiligen sind allgemein beliebt (wie etwa im Fall der Katharinensequenz Sanctissime virginis, fol. 206v-207r): Die Stücke müssen also nicht unbedingt für Wiener Verhältnisse kopiert worden sein.
Der repertoriale Zusammenhang zwischen Tr 93-1 (und dessen Abschrift, Tr 90-1) und dem St. Emmeram-Codex ist eigentlich schwach: die 22 gemeinsamen Stücke sind mit drei Ausnahmen auch in den älteren habsburgischen Quellen vorhanden. Die Ausnahmen sind Edlerawers Sequenz „Lauda Sion Salvatorem“ (» Notenbsp. Lauda Sion, Edlerawer), dem letzten Stück des heutigen St. Emmeram-Codex, und zwei Kyries, deren eines von Petrus Wilhelmi stammt.[48]
Codex Trient 93 entstand mehr als ein Jahrzehnt später und enthält dementsprechend viel Musik vermutlich neueren Ursprungs. So sind 21 der 39 Kyries von Tr 93-1 und Tr 90-1 nicht in älteren Quellen vorhanden: Woher kamen sie?[49] Einige der in den Kyries verarbeiteten Choralmelodien könnten regionale Vorlieben reflektieren – allerdings ergibt sich gerade hier kein besonderer Zusammenhang mit Wien oder St. Stephan (vgl. » K. I-TRcap 93*).
Überraschender sind die zahlreichen Gloria-, Credo-, Sanctus- und Agnus Dei-Vertonungen über entlehnte cantus firmi („Fremdtenores“), mit denen Tr 93-1 geradezu ein neues Kapitel kontinentaler Messpolyphonie eröffnet. Denn diese in älteren Quellen gar nicht überlieferten Vertonungen stammen aus mindestens acht Messordinariumszyklen, deren Einzelsätze hier nur zertrennt aufgezeichnet wurden, und etwa zehn weiteren Gloria-Credo oder Sanctus-Agnus-Paaren. (Die Kyries von Tr 93-1 gehören nicht zu den Messzyklen und verwenden keine Fremdtenores.) Die Gattung des Ordinariumszyklus über Fremdtenor („cantus-firmus-Messe“) wurde um 1420-1440 in England entwickelt; in Tr 93-1 sind mehrere Zyklen oder Satzpaare englischer Herkunft ermittelbar.[50] Schon die ersten vier Zyklen der Sammlung – der erste ist die berühmte Missa Caput – stammen aus England; sie bilden mit den folgenden zwei niederländischen Zyklen eine Gruppe.[51] Von anderen westeuropäischen Komponisten, z. B. Du Fay, stammen etwa 10 weitere Messensätze. Eine Wiener Beteiligung an diesem Repertoire ist bei den Kompositionen bisher unbekannter Herkunft zu vermuten (alle Sätze sind anonym aufgezeichnet). Für einige davon wurde bereits regionale Herkunft vorgeschlagen.[52] Nicht nur die Hofmusik, sondern auch St. Stephan oder die Universität kämen dann als Entstehungsorte in Betracht.
Musik Wiener Herkunft scheint um 1450-1460 nicht nur in Trient 93 und Trient 90 (sowie im Bozner Fragment: » F. SL Bozner Fragment) vorzuliegen, sondern höchstwahrscheinlich auch in Trient 88; dieser Riesenband (mit 310 Kompositionen) wurde um 1456-1462 von Johannes Wiser in Trient geschrieben. Vieles dort Aufgezeichnete dürfte, oder muss sogar, zu bestimmten Zeiten in Wien erklungen sein (vgl. » E. Kap. Festlichkeiten). Jedoch ist bei dem zunehmend internationalen Repertoire zuerst vom Hof als wahrscheinlichstem Vermittler auszugehen. Bedeutende Neuerungen in der Gattungsauffassung, die in Tr 88 erstens in Niederschriften vollständiger Ordinariumszyklen, zweitens in zahlreichen Propriumszyklen zu Tage treten (» F. Geistliche Musik), können in Wiener Kirchen mitvollzogen worden sein.
Zwei Wiener (?) Musikfragmente um 1460
Die Musikstücke, die Johannes Wiser und seine Assistenten in den Anhängen der Handschriften Trient 93 (» I-TRcap 93*) und Trient 90 (» I-TRbc 90) sowie im Mittelteil von Trient 88 (» I-TRbc88) (etwa fol. 222-252) notierten, sind meist Hymnen und Antiphonen, die hier gedrängt zusammengestellt wurden, nachdem ansonsten das Messordinarium und Messproprium bevorzugt worden war.[53] Dass diese Stücke meist anonym geblieben sind, ist mit regionaler Herkunft vereinbar. Der vierstimmige Hymnus Pange lingua in Trient 88, fol. 231v-232r (notiert um 1456-1460), hat eine Konkordanz in » D-Mbs Mus.ms. 3225, einem aus zwei Papierblättern von ca. 28 x 21 cm Größe bestehenden Fragment, das als Bindematerial gedient hat. Es überliefert fünf Hymnenvertonungen (bei der dritten und vierten fehlen die Oberstimmen): Deus tuorum militum (Märtyrerfeste), Quos arte piscatoria (2. Vers von Exorta a Bethsaida, St. Andreas), Pange lingua (Fronleichnam), Exultet celum laudibus (Apostelfeste) und Vita sanctorum (Ostern). Die Kopistenschrift des Fragments kommt in den Trienter Codices nicht vor. Es gibt einen Anhaltspunkt dafür, dass es aus Wien stammen könnte: Die Trägerhandschrift (D-Mbs Clm 22098), die aus dem Kloster Wessobrunn in die Bayerische Staatsbibliothek gelangte, enthält verbreitete Schriften des Wiener Theologen Nicolaus von Dinkelsbühl und, was bedeutsamer ist, den Brieftraktat De quatuor novissimis (Über die vier letzten Dinge) Stephans von Landskron (Landskrana), der 1430 bis 1477 Chorherr am Augustiner-Chorherrenstift St. Dorothea in Wien, und ab 1458 dessen Prior war.
Die drei- oder vierstimmigen Hymnenvertonungen in D-Mbs Mus.ms. 3225 führen den cantus firmus meist in der Oberstimme oder im Tenor, jedoch ornamentiert, nicht in gleichlangen Notenwerten, wie es in Hymnen erst seit etwa 1460 beliebt wurde.[54] Imitation und stimmenreduzierte Abschnitte fehlen fast ganz. Diese Kompositionen könnten in Wien in den 1450er Jahren entstanden sein – ebenso wie viele freilich noch unidentifizierte Stücke in Codex Trient 88.
Ein auf den ersten Blick einleuchtender Zusammenhang mit der Kollegiatkirche von St. Stephan besteht bei einem Musikfragment im Wiener Erzbischöflichen Diözesanarchiv („VienD“), das zum Binden eines Codex theologischer Schriften gedient hatte (» A-Wda Cod. 4).[55] Die zwei großformatigen Papierblätter aus der Zeit um 1460 enthalten (nach Peter Wright) Teile von sechs liturgischen Kompositionen, von denen fünf zum Fronleichnamsfest gehören: Es sind die Sequenz Lauda Sion salvatorem, das Responsorium Discubuit Jesus, der Hymnus Pange lingua und zwei verschiedene Vertonungen des Responsoriums Homo quidam; dazu kommt die Marienantiphon Speciosa facta es. Auffallend ist an dem Fragment, dass die Vorder- und Rückseiten beider Blätter jeweils nur die Oberstimmen der Gesänge enthalten; somit liegt nicht die zu erwartende Chorbuchanordnung vor, sondern die Blätter gehörten zu einem wahrscheinlich ungebundenen Discantus-Stimmheft. Die Fronleichnamsgesänge haben gemeinsam, dass sie in zeitgenössischen liturgischen Quellen der Fronleichnamsprozession zugeordnet sind, nicht einfach dem Fest. Wright schließt daraus, dass die Blätter tatsächlich in der Prozession oder jedenfalls an deren Stationen als Musiziervorlage dienten.[56]
Die Wiener Herkunft des Fragments ist sehr wahrscheinlich: Der Inhalt des Trägerbandes, A-Wda Cod. 4, stammt von Wiener Autoren; die betreffenden Fronleichnamsgesänge kommen im Ritus von St. Stephan vor, nämlich in den von Friedrich III. gestifteten priesterlichen Versehgängen mit Singknaben (» Kap. Die Sakramentsstiftung König Friedrichs III.). Eine explizite Auflistung der in der Wiener Prozession vorgetragenen Gesänge ist allerdings nicht überliefert.[57] Schwieriger fällt es zu entscheiden, woher die Musik stammt und wer sie in Wien gesungen haben mag. Eine konkordante Niederschrift für die Responsoriumsvertonung Discubuit Jesus steht in Codex Trient 88 (fol. 335v-336r), aufgezeichnet um 1460: Das dreistimmige Stück verwendet die Choralmelodie als monorhythmischen Tenor (alle Noten von derselben Länge) – eine Kompositionstechnik, die u.a. bei den Sequenzen von Trient 93 vorkommt.[58] Die dreistimmige Antiphonvertonung Speciosa facta es hat hingegen eine Konkordanz in der englischen Quelle » GB-Lbl Add. MS 54324 (ca. 1460).[59] Dieser Zusammenhang wäre so zufällig nicht: Das englische Fragment enthält auch das Kyrie der Missa Caput, deren Mittelsätze die Serie der Messzyklen über Fremdtenores in Tr 93-1 eröffnen, und die auch in Trient 90, 88 und » 89 in verschiedenen Formen überliefert ist. Englische Musik ist in Quellen der Region Österreich von ca. 1430 bis ca. 1470 prominent vertreten (» F. Europäische Musik). Der Melodiestil aller Kompositionen im Fragment A-Wda Cod. 4 erscheint westeuropäisch beeinflusst: Etwa in den Synkopierungen, den schwankenden Phrasenlängen, den umherschweifenden Melodielinien. Ein Vergleich mit Edlerawers Vertonung des Lauda Sion (von ca. 1440; vgl. Notenbsp. Lauda Sion, Edlerawer) mit ihren gleichmäßig abgesteckten Einzelversen kann den moderneren, fließenden Melodiestil der anonymen Vertonung verdeutlichen (» Notenbsp. Lauda Sion, anon.).
Ob dieses Lauda Sion und andere Werke des Fragments ausländische Kompositionen waren oder einheimische Stilnachahmungen, lässt sich angesichts der Internationalität des damaligen österreichischen Musikrepertoires kaum entscheiden. Wer aber hat sie gesungen? Die Aufstellung der Prozessionsteilnehmer in » Cod. 4712 (» E. SL Fronleichnamsprozession) erwähnt zwar den gesamten Wiener Klerus sowie die Schulknaben, Studenten und Magister der Bürgerschule und Universität, jedoch nicht den Kantor oder Organisten, die vermutlich zur Aufführung so relativ komplizierter Mehrstimmigkeit erfordert waren. Sicher nahmen an der allgemeinen Wiener Fronleichnamsprozession auch andere Personen teil, die nicht der Jurisdiktion des Stephanskapitels unterstanden, wie z. B. Abgesandte und Gäste des Hofes oder der Stadt.[60] Es bleibt demnach offen, ob die Kompositionen dieses Fragments von Mitgliedern der Stephanskantorei, von Hofmusikern, oder etwa gar einer auswärtigen Delegation ausgeführt wurden.
Das Messenfragment des Schottenklosters
Die Handschrift » A-Ws Archiv Hs. 355 (Hübl 355) des Wiener Schottenklosters enthält einen Kommentar des 15. Jahrhunderts über die Marienantiphon Salve regina.[61] Im Einband des Codex wurden zwei Papierdoppelblätter gefunden, auf denen Musik zweier mehrstimmiger Messzyklen notiert ist. Diese Musik stammt nach Notation (hohle Mensuralnotation des späteren 15. Jahrhunderts) und Stil (imitativer Kontrapunkt) aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Zwar tragen die beiden Metallschließen des originalen Einbandes die Jahreszahlen 1455 bzw. 1477, doch können die Papierblätter sehr wohl noch später in die Innendeckel geklebt worden sein. Martin Staehelin, der das Fragment umfassend analysiert hat, weist zu Recht eine Hypothese von Walter Pass zurück, der zufolge die Papierblätter aus der Zeit um 1430 stammen und die Wiener Herkunft der Trienter Codices wahrscheinlich machen sollen.[62] Da nichts an diesen Fragmenten auf Verwandtschaft mit den Trienter Codices hinweist, ist vielmehr umgekehrt zu fragen, ob die Musik des Schotten-Fragments als Wiener polyphones Repertoire gelten darf. Die zwei darin vertretenen Schreiberhände wären aus der Ferne mit Teilen des Innsbrucker » Leopold-Codex sowie vielleicht mit böhmischen Handschriften (» Strahov-Codex, CZ-Ps D.G.47; Kuttenberg-Fragment) vergleichbar;[63] die Bassstimme einer der beiden Messen wäre nach Tonumfang (sichtbar ist Es-d‘) und melodischem Stil in niederländischen Werken, etwa von Jacob Obrecht, denkbar. Leider konnte bisher keine musikalische Konkordanz gefunden werden.
Seltsam ist an der Quelle, dass vom ersten der beiden Messzyklen nur anscheinend zweistimmige Abschnitte für Discantus und Tenor (Bicinien) notiert sind, vom zweiten Messzyklus überhaupt nur die Bassstimme. Auch vom Format her (ursprünglich ca. 28x22 cm) scheint es möglich, dass die Blätter als Stimmhefte für Chorsänger oder sogar Instrumentalisten fungierten. Es bestehen in dieser Hinsicht Analogien mit den Linzer Fragmenten (» A-LIb Hs. 529) und deshalb vielleicht ein Zusammenhang mit der habsburgischen Hofmusik.
[1] Der Katalog musikalisch-liturgischer Quellen in der Datenbank Klugseder/Rausch 2012 http://www.cantusplanus.at/de-at/austriaca/HssAustria/index.php (Zugang 5. 8. 2017) nennt unter der Provenienz „Wien“ etwa 30 Handschriften geistlichen Inhalts aus dem 14.-15. Jahrhundert; von diesen sind die Mehrzahl Missalien oder Breviere, ohne nennenswerte musikalische Notation.
[2] Die in » E. Musikbücher der Universität erwähnten Signaturen beziehen sich z. T. auf Handschriften, die Musiktheorie oder andere verbale Hinweise auf Musik enthalten, oder deren Verbindung zu Wien derzeit nicht festgelegt werden kann. Zu anderen Wiener Musikhandschriften und -fragmenten des 15. Jahrhunderts vgl. » C. Ars antiqua und Ars nova; » C. Medien mehrstimmiger Vokalmusik; » E. Musiker an der Universität; » F. Europäische Musik im Raum Österreich; » K. Musikalische Quellenporträts.
[3] Winterburger 1511 (Faksimile- Edition: Väterlein 1982).
[4] Klugseder 2014, 203-207.
[5] Schusser 1986, Nr. 33, 68-69 (Hartmut Möller).
[6] Zum Turs-Missale vgl. Schusser 1986, Nr. 56, S. 79; Flotzinger 2014.
[7] A-Wsa, Bürgerspital-Amtbuch Nr. 3 (1432), fol. 32v. Nach Gottlieb 1915, 267-268; Schusser 1986, S. 79 (Klaus Lohrmann).
[8] Lind 1860; Weiss 1861; zur Baugeschichte: Perger/Brauneis 1977.
[9] Zum Schottenkloster vgl. Schusser 1986, S. 21-26 (Niederkorn-Bruck/Pass). Zu Choralfragmenten im Archiv von St. Michael vgl. Schusser 1986, S. 20-21 (Walter Pass).
[10] Klaus Lohrmann und Laszlo Mezey, Die Handschriftenfragmente auf den Einbänden der Amtsbücher des Wiener Bürgerspitals, Masch.schr. und hs. Kommentar zur Fragmentensammlung aus Einbänden des Bürgerspitals, datiert 13.2.1984, A-Wsa. Schusser 1986, Nr.40, 70-71.
[11] Beide Klöster bespricht Stoklaska 1986, 127-160; Perger/Brauneis 1977, 179-194.
[12] Diese Textfassung weicht von der römischen Texttradition etwas ab, findet sich jedoch auch in der westeuropäischen Überlieferung (z. B. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8447768b/f1068.item).
[13] Die Handschrift ist jetzt verschollen; ein Mikrofilm ist erhalten. Vgl. DIAMM, http://www.diamm.ac.uk/jsp/Descriptions?op=SOURCE&sourceKey=24; Klugseder 2014, 146-147.
[14] Klugseder 2014, 146-147.
[15] » A-Wn Cod. 1915, » Cod. 1931 und » Cod. 1932: vgl. Klugseder 2014, 158-160 und 163-167, mit Abb. 48-51. Zur Geschichte des Klosters vgl. Stoklaska 1986, 84-103.
[16] Die andere zweistimmige Lektion, “Consolamini popule meus“ auf fol. 44v-45r (Klugseder 2014, Abb. 43), ist weithin überliefert, z. B. in » A-Iu Cod. 457, vgl. » A. Klösterliche Mehrstimmigkeit: Arten; » K. Musikalische Quellenporträts.
[17] » A-Wn Cod. 3079. Klugseder 2014, 167-173 mit Abbildungen.
[18] Vgl. Klugseder 2014, Abb. 52a-b. Zur Institution vgl. Stoklaska 1986, 104-110; Perger/Brauneis 1977, 230-233.
[19] Mantuani 1907, 286; vgl. » Kap. Die Kantoreiordnung von 1460 und die Pflege der Mehrstimmigkeit.
[20] Zu den Inhalten der Lieder und der Gattung insgesamt vgl. » B. Geistliches Lied.
[21] Ristory 1985b. Der Hauptband ist 1418 datiert.
[22] Vgl. auch » A. Rhythmischer Choralgesang. Ristory 1985b transkribiert die gestielten und geschwänzten Noten dieser Auftakte als 32tel (gegenüber Vierteln und Achteln der Hauptnoten), was musikalisch wenig Sinn ergibt: Diese Niederschrift ist nicht als orthodoxe Mensuralnotation lesbar.
[23] Vgl. Ristory 1985b, 153: Der Gang des Lektors zum Lesepult wurde traditionell mit zusätzlichen Gesängen „begleitet“, die dementsprechend „conductus“ hießen. Den drei Liedern folgt eine von Ristory nicht erwähnte Lektionseinleitung zur Weihnachtslesung, Laudem deo dicamus per secula, notiert in regulärer gotischer Choralnotation.
[24]„Inulas“ (Ristory 1985b, 162, liest „inulus“) betrifft die Alant-Pflanze „inula“, ein seit der Antike beliebtes Heilkraut, mit dem man u.a. an Weihnachten in der Steiermark die Ställe als Abwehr gegen Pest oder böse Geister ausräucherte (Wikipedia).
[25] Detaillierte (jedoch lückenhafte) Beschreibung des Musikanhangs: Zapke 2014, 365-369. Zur Musiktheorie vgl. daneben Smits van Waesberghe 1961 (RISM B III/1), 45; Smits van Waesberghe 2003 (RISM B III/6), 86. Zur Mehrstimmigkeit » Kap. Lesungen und Lektionseinleitungen; vgl. auch Reaney 1969 (RISM B IV/2), 106-17; Rosenthal 1925, 13; Flotzinger 1989, 51.
[26] Für Einzelheiten vgl. » K. Quellenporträts.
[27] Rumbold/Wright 2009; Welker 2006 (Haupttext von Rumbold und Wright). Vgl. auch Braunschweig 1982.
[29] Rumbold/Wright 2009, 201-248.
[30] Rumbold/Wright 2009, 24-31. Pötzlinger, der offenbar auch Priester geworden war, erhielt 1439 eine Pfarrei in Auerbach (Oberpfalz); weitere Benefizien konnte er später in Orten der Regensburger Region antreten.
[31] Ward 1981. Vgl. » Kap. Zeugnisse einer Wiener „Organistenwerkstatt“; » C. Organisten und Kopisten.
[32] Vgl. » Kap. Cantus fractus in verschiedenen liturgischen Gattungen; » Abb. Kyrie St. Emmeram-Codex; » Notenbsp. Kyrie St. Emmeram-Codex.
[33] Strohm 1983. Rumbold/Wright 2009, 87-90, vermuten, dass Pötzlinger die Blätter mit einstimmigen Melodien von deren Schreiber („E“) erwarb.
[34] Hierzu vgl. » F. Europäische Musik.
[35] Details in Welker 2006, 42-48; ergänzend dazu Rausch 2014. Letzterer weist den Wiener Aufenthalt von Rudolf Volkhardt (1433-1439) nach. Zu den möglichen Zeugnissen eines lokalen „Netzwerks“ gehört vielleicht auch ein Einzelblatt mit zwei Kompositionen, darunter eine von Du Fay, im Pfarrarchiv Weitra (A-WEI), Cod. 1/7: ebda. 131-134.
[36] Rumbold/Wright 2009, 64 Anm. 3. Vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern; » Abb. Codex Trient 87.
[37] Diese Charakterisierung wurde von Göllner 1967 eingeführt.
[38] Das Kopieverhältnis ermittelte Bent 1979 und Bent 1986. Unter „Band“ sei hier auch ein vielleicht ungebundenes Konvolut verstanden, das aber als zusammengehörig behandelt wurde. Wasserzeichendatierungen nach Wright 1996 und Wright 2003; vgl. auch Saunders 1989.
[39] Gozzi 1992 ediert und beschreibt die Kompositionen in Tr 90-2.
[40] Die Forschungsdiskussion ist ausführlich dargestellt bei Wright 2003, 247-251.
[43] Letzteres ist auch nach Wrights eigenem methodischem Ansatz unwahrscheinlich, da er die Papiere des Hauptteils von von I-TRcap 93* (Tr 93-1) fast nur in Tirol (Nord und Süd) nachweisen konnte.
[45] Flotzinger 2014. Vgl. Diskussion und Kritik von Flotzingers These in » Kap. War Trient 93 für St. Stephan in Wien bestimmt?
[46] Zuerst vermeldet bei Pietzsch 1971, 186 nach Matrikel II, 1967: 1454/II R 47.
[47] Flotzinger 2014, 44-45, 54-55.
[48] Zu Edlerawer vgl. » G. Hermann Edlerawer; » E. Musik im Gottesdienst. Zu Wilhelmi vgl. » F. Musiker aus fremden Ländern.
[49] Die Kyries von » I-TRcap 93* sind bei Chemotti 2014 ediert und kommentiert.
[51] Diese Gruppe dürfte um 1452 aus Ferrara importiert worden sein: Strohm 1993, 242.
[53] Zu den Trienter Hymnen vgl. Ward 1986. Editionen aus » Tr 90 bei Gozzi 1992.
[55] Lackner/Haidinger 2000; Wright 2009; Zapke 2013; (endgültig) Wright 2016, mit Edition der gesamten Musik.
[56] Wright 2016, 356-358.
[57] Zur personellen Ordnung der Fronleichnamsprozession von St. Stephan vgl. » E. SL Die Fronleichnamsprozession; Zapke 2012.
[58] Strohm 1993, 525.
[59] Wright 2016, 346-347.
[60] Im Jahre 1452 wurde der zu Besuch in Wien anwesende Münchner Organist Conrad Paumann in der Fronleichnamsprozession in einer Sänfte mitgetragen: vgl. » E. Kap. Ein prominenter Besucher.
[61] Beschreibung: http://manuscripta.at/m1/hs_detail.php?ID=28794.
[62] Staehelin 1986 (mit Abbildungen des gesamten Fragments und teilweiser Übertragung); Pass 1980.
[63] Zu diesen Quellen vgl. » K. Musikalische Quellenporträts (Leopold-Codex) bzw. » F. Europäische Musik.
Flotzinger 2004 | Wright 2010 | Wright 2013 | Wright 2009 | Gozzi 2004 | Gozzi 2013
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: “Überlieferung der Wiener Kirchenmusik des 15. Jahrhunderts”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/uberlieferung-der-wiener-kirchenmusik-des-15-jahrhunderts> (2018).