Zu Repertoire und Verwendung des St. Emmeram-Codex
Während das Repertoire von Hermann Pötzlingers Codex (» D-Mbs Clm 14274) durch die europäische Weite seiner Herkunft überrascht – immerhin stammen 106 Stücke von 23 namentlich ermittelten Komponisten aus England, Frankreich/Flandern und Italien, davon allein 39 von Du Fay, 15 von Binchois[34] – hat diese reiche Sammlung auch eine lokale bzw. regionale Komponente. Sie besteht aus Musikstücken von etwa 13 Komponisten, deren Namen mit Wien, Regensburg, München, Leipzig, sowie mit Böhmen und Polen verknüpft sind. Einige Autoren haben mit Pötzlingers Laufbahn zu tun, z. B. Peter Sweikl oder Sweiker (Bamberg? Wien, Regensburg) und der in Wien, Regensburg und München tätige Arzt Dr. Rudolf Volkhardt von Häringen.[35] Regionales Repertoire stammt wohl auch von zwei niederländischen Musikern: Johannes Brassart, dem Hofkapellmeister Albrechts II. und Friedrichs III. (» D. Hofmusik) mit vier Kompositionen, und Johannes Roullet, mit acht Kompositionen (davon sieben Unica); Musik des Letzteren kommt sonst nur in regionalen Quellen vor.[36] Von beiden Komponisten erscheinen in Clm 14274 auch deutschsprachige Lieder bzw. Texte (» B. Volkslieder?, Kap. Streuüberlieferung). Lokales Repertoire sind zweifellos die Kompositionen von Hermann Edlerawer, dem Schulkantor zu St. Stephan (ca. 1440-1445; » G. Hermann Edlerawer). Seine Vertonung der Fronleichnams-Sequenz Lauda Sion salvatorem ist das letzte Werk in der Handschrift und der Abschluss von Chranekkers Arbeit daran (» Abb. Edlerawer in D-Mbs Clm 14274). Die Sequenz, die auch im Codex Trient 93 (» I-TRcap 93*) überliefert ist, wurde vermutlich für die Kantorei von St. Stephan geschaffen, um am Fronleichnamsfest öffentlich vorgetragen zu werden. Wie in anderen Kompositionen Edlerawers und ausländischer Musiker in dieser Handschrift dominiert hier eine relativ einfach fließende, konsonante Dreistimmigkeit, die um 1440 modern war (» Notenbsp. Lauda Sion, Edlerawer; » Hörbsp. ♫ Lauda Sion Salvatorem, Edlerawer). Die beiden hier gezeigten Halbstrophen 1 und 2 haben dieselbe aus der Choralmelodie abgeleitete Oberstimme; die Unterstimmen sind geschickt variiert. Die je drei Verse jeder Halbstrophe sind auf 6+5+4 Takte abgemessen.
Praktische Verwendung der Musik ist in der Handschrift mehrfach impliziert, etwa in einigen Notaten einfachster Psalm-Intonationen, die nicht als eigenständige Kompositionen gedacht sind. Auch die häufig verwendete Technik des aus Westeuropa eingeführten fauxbourdon (nur zwei Stimmen sind notiert, die dritte wird nach einfachen Regeln extemporiert) hat aufführungspraktische Bedeutung. Die zahlreichen geistlichen Kontrafakte sind ausländische weltliche Musik, die man den örtlichen Kirchenmusikern, darunter Schulknaben, zum Singen geben wollte. Manche weltlichen Stücke sind textlos kopiert, sicher um passende geistliche Texte zu unterlegen, die erst ausgewählt oder neugedichtet werden sollten. Auch bestand ein Zusammenhang mit kompositorischer Praxis am Entstehungsort des Codex (» C. Kompositorische Lernprozesse). Doch wo und von wem konnte ein so weitgespanntes Repertoire überhaupt praktisch angewendet werden? Waren viele Stücke nur zum Studium, zur Erbauung oder zum Vergnügen gedacht? Kann die Artistenfakultät der Universität, wo Pötzlinger studierte, so viele musikalische Aufführungen benötigt haben? Daneben erhebt sich die Frage nach Pötzlingers Zugang zu diesem Repertoire, das in damaligen Wiener Kirchen vielleicht nicht in diesem Umfang verfügbar war.
Ian Rumbold (» G. Hermann Pötzlinger, Kap. Music Manuscripts and Education) erwägt, ob das Zusammenstellen solcher Musiksammlungen vielleicht normale Praxis von (kirchlichen) Schulmeistern war, bzw. von Studenten, die es werden wollten – und führt Parallelbeispiele aus der Region auf. Dass Pötzlinger sich mit seiner Sammlung für einen Schulmeisterposten qualifizieren wollte (den er unseres Wissens erst 1448 in Regensburg bekam), ist auch deshalb naheliegend, weil nur 15 Jahre später Johannes Wiser anscheinend genau dasselbe unternahm (Kap. Kontroversen um Tr 93 und 90). Die Vermutung liegt nahe, dass Pötzlinger aus verschiedenen Quellen seiner Umwelt schöpfte – darunter der Universität, der Hofmusik, der Kollegiatkirche, vielleicht örtlichen Klöstern –, um über deren jeweiligen Bedarf hinaus soviel Musik wie möglich für seine erhoffte Karriere zu sammeln.
[34] Hierzu vgl. » F. Europäische Musik.
[35] Details in Welker 2006, 42-48; ergänzend dazu Rausch 2014. Letzterer weist den Wiener Aufenthalt von Rudolf Volkhardt (1433-1439) nach. Zu den möglichen Zeugnissen eines lokalen „Netzwerks“ gehört vielleicht auch ein Einzelblatt mit zwei Kompositionen, darunter eine von Du Fay, im Pfarrarchiv Weitra (A-WEI), Cod. 1/7: ebda. 131-134.
[36] Rumbold/Wright 2009, 64 Anm. 3. Vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern; » Abb. Codex Trient 87.
[1] Der Katalog musikalisch-liturgischer Quellen in der Datenbank Klugseder/Rausch 2012 http://www.cantusplanus.at/de-at/austriaca/HssAustria/index.php (Zugang 5. 8. 2017) nennt unter der Provenienz „Wien“ etwa 30 Handschriften geistlichen Inhalts aus dem 14.-15. Jahrhundert; von diesen sind die Mehrzahl Missalien oder Breviere, ohne nennenswerte musikalische Notation.
[2] Die in » E. Musikbücher der Universität erwähnten Signaturen beziehen sich z. T. auf Handschriften, die Musiktheorie oder andere verbale Hinweise auf Musik enthalten, oder deren Verbindung zu Wien derzeit nicht festgelegt werden kann. Zu anderen Wiener Musikhandschriften und -fragmenten des 15. Jahrhunderts vgl. » C. Ars antiqua und Ars nova; » C. Medien mehrstimmiger Vokalmusik; » E. Musiker an der Universität; » F. Europäische Musik im Raum Österreich; » K. Musikalische Quellenporträts.
[3] Winterburger 1511 (Faksimile- Edition: Väterlein 1982).
[4] Klugseder 2014, 203-207.
[5] Schusser 1986, Nr. 33, 68-69 (Hartmut Möller).
[6] Zum Turs-Missale vgl. Schusser 1986, Nr. 56, S. 79; Flotzinger 2014.
[7] A-Wsa, Bürgerspital-Amtbuch Nr. 3 (1432), fol. 32v. Nach Gottlieb 1915, 267-268; Schusser 1986, S. 79 (Klaus Lohrmann).
[8] Lind 1860; Weiss 1861; zur Baugeschichte: Perger/Brauneis 1977.
[9] Zum Schottenkloster vgl. Schusser 1986, S. 21-26 (Niederkorn-Bruck/Pass). Zu Choralfragmenten im Archiv von St. Michael vgl. Schusser 1986, S. 20-21 (Walter Pass).
[10] Klaus Lohrmann und Laszlo Mezey, Die Handschriftenfragmente auf den Einbänden der Amtsbücher des Wiener Bürgerspitals, Masch.schr. und hs. Kommentar zur Fragmentensammlung aus Einbänden des Bürgerspitals, datiert 13.2.1984, A-Wsa. Schusser 1986, Nr.40, 70-71.
[11] Beide Klöster bespricht Stoklaska 1986, 127-160; Perger/Brauneis 1977, 179-194.
[12] Diese Textfassung weicht von der römischen Texttradition etwas ab, findet sich jedoch auch in der westeuropäischen Überlieferung (z. B. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8447768b/f1068.item).
[13] Die Handschrift ist jetzt verschollen; ein Mikrofilm ist erhalten. Vgl. DIAMM, http://www.diamm.ac.uk/jsp/Descriptions?op=SOURCE&sourceKey=24; Klugseder 2014, 146-147.
[14] Klugseder 2014, 146-147.
[15] » A-Wn Cod. 1915, » Cod. 1931 und » Cod. 1932: vgl. Klugseder 2014, 158-160 und 163-167, mit Abb. 48-51. Zur Geschichte des Klosters vgl. Stoklaska 1986, 84-103.
[16] Die andere zweistimmige Lektion, “Consolamini popule meus“ auf fol. 44v-45r (Klugseder 2014, Abb. 43), ist weithin überliefert, z. B. in » A-Iu Cod. 457, vgl. » A. Klösterliche Mehrstimmigkeit: Arten; » K. Musikalische Quellenporträts.
[17] » A-Wn Cod. 3079. Klugseder 2014, 167-173 mit Abbildungen.
[18] Vgl. Klugseder 2014, Abb. 52a-b. Zur Institution vgl. Stoklaska 1986, 104-110; Perger/Brauneis 1977, 230-233.
[19] Mantuani 1907, 286; vgl. » Kap. Die Kantoreiordnung von 1460 und die Pflege der Mehrstimmigkeit.
[20] Zu den Inhalten der Lieder und der Gattung insgesamt vgl. » B. Geistliches Lied.
[21] Ristory 1985b. Der Hauptband ist 1418 datiert.
[22] Vgl. auch » A. Rhythmischer Choralgesang. Ristory 1985b transkribiert die gestielten und geschwänzten Noten dieser Auftakte als 32tel (gegenüber Vierteln und Achteln der Hauptnoten), was musikalisch wenig Sinn ergibt: Diese Niederschrift ist nicht als orthodoxe Mensuralnotation lesbar.
[23] Vgl. Ristory 1985b, 153: Der Gang des Lektors zum Lesepult wurde traditionell mit zusätzlichen Gesängen „begleitet“, die dementsprechend „conductus“ hießen. Den drei Liedern folgt eine von Ristory nicht erwähnte Lektionseinleitung zur Weihnachtslesung, Laudem deo dicamus per secula, notiert in regulärer gotischer Choralnotation.
[24]„Inulas“ (Ristory 1985b, 162, liest „inulus“) betrifft die Alant-Pflanze „inula“, ein seit der Antike beliebtes Heilkraut, mit dem man u.a. an Weihnachten in der Steiermark die Ställe als Abwehr gegen Pest oder böse Geister ausräucherte (Wikipedia).
[25] Detaillierte (jedoch lückenhafte) Beschreibung des Musikanhangs: Zapke 2014, 365-369. Zur Musiktheorie vgl. daneben Smits van Waesberghe 1961 (RISM B III/1), 45; Smits van Waesberghe 2003 (RISM B III/6), 86. Zur Mehrstimmigkeit » Kap. Lesungen und Lektionseinleitungen; vgl. auch Reaney 1969 (RISM B IV/2), 106-17; Rosenthal 1925, 13; Flotzinger 1989, 51.
[26] Für Einzelheiten vgl. » K. Quellenporträts.
[27] Rumbold/Wright 2009; Welker 2006 (Haupttext von Rumbold und Wright). Vgl. auch Braunschweig 1982.
[29] Rumbold/Wright 2009, 201-248.
[30] Rumbold/Wright 2009, 24-31. Pötzlinger, der offenbar auch Priester geworden war, erhielt 1439 eine Pfarrei in Auerbach (Oberpfalz); weitere Benefizien konnte er später in Orten der Regensburger Region antreten.
[31] Ward 1981. Vgl. » Kap. Zeugnisse einer Wiener „Organistenwerkstatt“; » C. Organisten und Kopisten.
[32] Vgl. » Kap. Cantus fractus in verschiedenen liturgischen Gattungen; » Abb. Kyrie St. Emmeram-Codex; » Notenbsp. Kyrie St. Emmeram-Codex.
[33] Strohm 1983. Rumbold/Wright 2009, 87-90, vermuten, dass Pötzlinger die Blätter mit einstimmigen Melodien von deren Schreiber („E“) erwarb.
[34] Hierzu vgl. » F. Europäische Musik.
[35] Details in Welker 2006, 42-48; ergänzend dazu Rausch 2014. Letzterer weist den Wiener Aufenthalt von Rudolf Volkhardt (1433-1439) nach. Zu den möglichen Zeugnissen eines lokalen „Netzwerks“ gehört vielleicht auch ein Einzelblatt mit zwei Kompositionen, darunter eine von Du Fay, im Pfarrarchiv Weitra (A-WEI), Cod. 1/7: ebda. 131-134.
[36] Rumbold/Wright 2009, 64 Anm. 3. Vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern; » Abb. Codex Trient 87.
[37] Diese Charakterisierung wurde von Göllner 1967 eingeführt.
[38] Das Kopieverhältnis ermittelte Bent 1979 und Bent 1986. Unter „Band“ sei hier auch ein vielleicht ungebundenes Konvolut verstanden, das aber als zusammengehörig behandelt wurde. Wasserzeichendatierungen nach Wright 1996 und Wright 2003; vgl. auch Saunders 1989.
[39] Gozzi 1992 ediert und beschreibt die Kompositionen in Tr 90-2.
[40] Die Forschungsdiskussion ist ausführlich dargestellt bei Wright 2003, 247-251.
[43] Letzteres ist auch nach Wrights eigenem methodischem Ansatz unwahrscheinlich, da er die Papiere des Hauptteils von von I-TRcap 93* (Tr 93-1) fast nur in Tirol (Nord und Süd) nachweisen konnte.
[45] Flotzinger 2014. Vgl. Diskussion und Kritik von Flotzingers These in » Kap. War Trient 93 für St. Stephan in Wien bestimmt?
[46] Zuerst vermeldet bei Pietzsch 1971, 186 nach Matrikel II, 1967: 1454/II R 47.
[47] Flotzinger 2014, 44-45, 54-55.
[48] Zu Edlerawer vgl. » G. Hermann Edlerawer; » E. Musik im Gottesdienst. Zu Wilhelmi vgl. » F. Musiker aus fremden Ländern.
[49] Die Kyries von » I-TRcap 93* sind bei Chemotti 2014 ediert und kommentiert.
[51] Diese Gruppe dürfte um 1452 aus Ferrara importiert worden sein: Strohm 1993, 242.
[53] Zu den Trienter Hymnen vgl. Ward 1986. Editionen aus » Tr 90 bei Gozzi 1992.
[55] Lackner/Haidinger 2000; Wright 2009; Zapke 2013; (endgültig) Wright 2016, mit Edition der gesamten Musik.
[56] Wright 2016, 356-358.
[57] Zur personellen Ordnung der Fronleichnamsprozession von St. Stephan vgl. » E. SL Die Fronleichnamsprozession; Zapke 2012.
[58] Strohm 1993, 525.
[59] Wright 2016, 346-347.
[60] Im Jahre 1452 wurde der zu Besuch in Wien anwesende Münchner Organist Conrad Paumann in der Fronleichnamsprozession in einer Sänfte mitgetragen: vgl. » E. Kap. Ein prominenter Besucher.
[61] Beschreibung: http://manuscripta.at/m1/hs_detail.php?ID=28794.
[62] Staehelin 1986 (mit Abbildungen des gesamten Fragments und teilweiser Übertragung); Pass 1980.
[63] Zu diesen Quellen vgl. » K. Musikalische Quellenporträts (Leopold-Codex) bzw. » F. Europäische Musik.