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Streuüberlieferung

Nicole Schwindt

Charakteristischer für das deutsche mehrstimmige Lied ist für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts die Streuüberlieferung, die auch Aussagen über den damaligen Status des mehrstimmig aufgeschriebenen Liedes macht. Die alte Tradition des primär literarisch konzipierten höfischen Sololieds, das zu großen Liedsammlungen (mit und – meist – ohne Noten) führte, ließ sich nicht umstandslos auf das polyphone Lied übertragen. Vielmehr erweisen sich mehrstimmig zu Papier gebrachte Lieder in deutschen Landen vorerst als „Fußnote“ zu geistlicher Musik. Die sogenannten „Gemischten Quarthandschriften“ bzw. „kleinen Folio-Handschriften“, wie sie für die Musiküberlieferung im deutschsprachigen Raum bis zum Ende des 15. Jahrhunderts kennzeichnend sind, fügen Liedgut dem vorherrschenden sakralen Repertoire bei, teils mengen sie es ihm regelrecht unter: nämlich auf dem Wege der Kontrafaktur, der Unterlegung mit lateinischen Texten für Gottesdienst und Privatandacht. Auf jeden Fall sind in den betreffenden Quellen die deutschsprachigen Lieder eine periphere Erscheinung. Das gibt sich nicht selten dadurch zu erkennen, dass man es kodikologisch mit Nachträgen an freien Stellen zu tun hat. Von einem gezielten Zusammentragen von Vertretern einer funktionalen oder gattungsmäßigen Spezies Lied zeugen die Quellen nicht.

Im Einzelnen sind folgende Manuskripte aussagekräftig: Die Tausende von Seiten umfassenden Trienter Codices mit den Nummern » I-TRbc 90, » I-TRcap 93*, » I-TRbc 88 und » I-TRbc 89, die etwa zwischen 1455 und 1470 vorwiegend von dem aus München stammenden Succentor und Domschulrektor Johannes Wiser an der Domschule von Trient mit Musik angefüllt wurden, beherbergen ganze acht Lieder, ebenso viele Leisen (» B. Geistliches Lied) und in der gleichen Menge Messen über Cantus firmi, die aus Liedern gewonnen sind.[6] Ähnlich ist die Ausbeute in einem anderen Depotkodex, dem Chorbuch des Innsbrucker Magisters Nikolaus Leopold (» D-Mbs Mus. ms. 3154), das sich zeitlich an die in Trient entstandenen Quellen anschließt.[7] Dieses Chorbuch, an dem viele Hände beteiligt waren, wurde etwa 1466 begonnen und erst um 1511 mit den letzten Nachträgen beendet. Es lässt sich annehmen, aber nicht mit letzter Gewissheit behaupten, dass das über 800-seitige Manuskript den Repertoirefundus der verschiedenen habsburgisch-tirolischen Kapellformationen im Weichbild von Augsburg und Innsbruck widerspiegelt, bevor es in den Besitz des Schulmeisters kam.[8] Lieder spielen eine ähnlich marginale Rolle wie in den Trienter Handschriften: Im 1476 beendeten Faszikel hat ein Schreiber eine Traube von fünf Liedsätzen und ein einzelstehendes Lied eingetragen (vgl. » Hörbsp. ♫ Ich sachs einsmals; » Hörbsp. ♫ Gespile, liebe gespile gút; » Hörbsp. ♫ Es sassen höld in ainer Stuben; » Hörbsp. ♫ So steh ich hie; » Hörbsp. ♫ Tannhauser). Vermutlich am Ende der 1480er Jahre kamen drei Messen dazu, die sich auf Liedmaterial zu stützen scheinen (zu dem Lied, das der Missa O Österreich zugrunde liegt, vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern). Mehrere motettische Sätze sind mit Liedmelodien kombiniert; drei weitere Lieder sind als Marginalien notiert. Die Spärlichkeit des Befundes deckt sich übrigens mit Zeugnissen aus anderen Regionen: Der aus Prag stammende Strahov-Kodex (» CZ-Ps D.G. IV. 47; » F. Bohemian Sources) verzeichnet drei deutsche Lieder; die mutmaßlich bzw. definitiv aus Leipzig stammenden umfangreichen Musikkollektionen aus der Zeit vor und um 1500, die man mit dem Berliner Mensuralkodex » D-B Mus. ms. 40021 und dem Nikolaus-Apel-Kodex (» D-LEu Ms. 1494) verbindet, beschränken sich ebenfalls auf jeweils eine Handvoll Liedbelege.

Es ist nicht leicht zu ermessen, wann sich das Blatt zu wenden begann und mehrstimmige Lieder weltlicher Natur im süddeutsch-österreichischen Raum zu einem eigenen Sammlungsgegenstand wurden, da sich aus den 1480/1490er Jahren weitere Handschriften mit Liedelementen nur torsohaft erhalten haben (sie sind alle noch nicht im Stimmbuchformat angelegt worden): so etwa das Augsburger Fragment (» D-As Cod. 4° Mus. 25, um 1492/93), das isolierte Tridentiner Faszikel (» I-TRc Ms. 1947-4, um 1495 bis vor 1500) oder, besonders interessant, das Linzer Fragment (» A-LIb Hs. 529, um 1490) mit seinen drei Liedern und weiteren zugehörigen Fragmenten. Aufgrund seiner Provenienz könnte das Letztgenannte durchaus Aufenthalten des Habsburger-Hofs im öfters angesteuerten Residenzort Linz zu verdanken sein. Die Beziehungen zum Hoflager gehen speziell aus dem Lied Heya, heya nun wie sie grollen hervor (» Hörbsp. ♫ Heya, heya und » Hörbsp. ♫ Heya ho, nun wie si grollen). Der vierzeilige Fehdeaufruf, der vielleicht sogar noch auf Oswald von Wolkenstein zurückgeht oder jedenfalls eine Episode seines Lebens betrifft (um 1442–43),[9] ist nämlich nicht nur in einem der Trienter Codices (I-TRbc 89) schon um 1465 überliefert, sondern auch im Braccesi-Chansonnier (» I-Fn B.R. 229), der 1492 in Heinrich Isaacs Wohnort Florenz entstand, sodann im Linzer Fragment und zuletzt als Zitat in einem Quodlibet aus der Sammlung Wolfgang Schmeltzls.[10] Der Schulmeister des Wiener Schottenstifts versorgte sich für seinen Druck von 1544 ganz stark mit altem Material, das bis in die frühmaximilianische Zeit zurückreichte und im Schottenkloster lagerte.[11] So kombinierte er Heya heya auch mit dem Tannhäuser-Lied aus dem Nikolaus-Leopold-Kodex. Diese Überlieferungskonfiguration deutet darauf hin, dass man in engeren oder weiteren Hofkreisen über viele Jahrzehnte hinweg etwas mit der ungestümen Brixener Ritter-Bauern-Affäre anfangen konnte (» Notenbsp. Heya, heya, nun wie si grollen).

 

[6] Vgl. » F. Geistliche Mehrstimmigkeit.

[7] D-Mbs Mus. ms. 3154.

[8] Nach Strohm 1993, 519, und Strohm 2001, 23, ist die Handschrift von vornherein im Besitz der Chorschule von St. Jakob, Innsbruck, gewesen, deren Kräfte zum musikalischen Hofdienst herangezogen wurden. Vgl. auch » G. Nicolaus Krombsdorfer.

[9] Strohm 1986/1987.

[10] I-TRbc 89, fol. 388v–389r; I-Fn, B.R. 229, fol. 174v–175r; » Guter seltzamer und kunstreicher teutscher Gesangk; Nürnberg 1544, Nr. 8: „Heyaho nun wie sie grollen dort auff dem Ritten die geschwollen“ in der Secunda pars, T. 76–85; Textanspielung am Satzbeginn, T. 1–13: „Woll wir aber heben an den Danhauser zu singen“ (DTÖ 147/148, 63 und 69 f.).

[11] Bienenfeld 1904/1905, 96, Anm. 2