Wandel der höfischen und städtischen Liedpraxis
Deutliche Veränderungen vollzogen sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der höfischen Liedpraxis, die ihre ehedem klerikale Basis immer mehr gegen eine weltliche Orientierung am Hofleben eintauschte. Während Vergleichbares vom Hof Friedrichs III. nicht überliefert ist, hatte Maximilian nachweislich schon in seiner burgundischen Zeit um 1480 die Gewohnheit angenommen, sich privat von den Kapellsängern vorsingen und vom Organisten vorspielen zu lassen, was er in seiner süddeutschen Regierungszeit mit anderem Personal offenbar bis ins Alter hinein beibehielt. Manch einen Musiker, wie den französischen Sänger Philipp de Passagio, übernahm er aber auch aus den Niederlanden als vertraulichen Begleiter („suum Carissimum cantori et Commensali continuo“).[25] Er beschäftigte seinen Organisten Paul Hofhaimer und seine Sänger neben offiziellen Anlässen auch für seine ganz private „Kurzweil“, ließ sie teils in kleinen Formationen auf seinen permanenten Regierungsreisen und selbst zu Kuraufenthalten nachkommen (vgl. auch » D. Hofmusik. Innsbruck). Bei seiner persönlichen Rekreation, desgleichen bei den kleineren und größeren Zusammenkünften des mobilen Hofstaats war dem mehrstimmigen Lied eine ideale Plattform gegeben. Thematisch dominierte die Liebeslyrik in all den Facetten (wie Liebesversicherungen und Anzüglichkeiten), die dem mittleren und niederen Stilregister zugänglich waren,[26] aber auch die Tugendlehre eroberte zunehmend das Feld; sie wurde kontrapunktiert von spöttischen Inhalten wie der Bauernsatire, die ein beliebtes Motiv bei Zusammenkünften des Adels war und nicht nur bei den Kostümbällen der sogenannten „Mummereien“ für Spaß sorgte, sondern ihren Reflex in zahlreichen Liedern der Zeit fand. Es verwundert nicht, dass diese Situation die komponierenden Kapellmitglieder zu einer regen Produktion anspornte. Die oft monate- und jahrelange Stationierung der habsburgischen Kapellmitglieder in den verschiedenen Städten des Reichs machte aber auch die Grenzen zwischen der höfischen und der stadtbürgerlichen Musikpflege durchlässig, so dass die Liedlust – ausgehend vom Herrscher und der Hofgesellschaft – leicht in das Patriziat und gebildete Bürgertum der Städte proliferieren konnte. Wirtschaftliche Prosperität, sozialer Aufstieg und zivilisatorische Ambitionen – etwa im Umkreis der Augsburger Fugger –, intellektuelles Streben – wie bei der Basler Familie Amerbach – in Verbindung mit einer zunehmenden Selbstverständlichkeit im unverkrampften Umgang mit der deutschen Sprache stellten hier den kulturellen Humus für die aufblühende Gattung dar. Als reine Vokalmusik, als variabel vokal und instrumental zu besetzende Kleinkunst und als Vorlage für Lauten- und Tasteninstrumentintavolierungen bot sie ein breit gefächertes Angebot für die unterschiedlichsten Niveaus und Lebenslagen. Insbesondere die jugendliche Stadtbevölkerung, darunter in Bursen lebende Studenten, und nicht weniger die Edelknaben bei Hofe dürften eine wichtige Zielgruppe gewesen sein.
Gerade die beflissene Herstellung von Einblatt-Drucken und Flugschriften mit Liedern, die kurz vor der Jahrhundertwende vor allem an den klassischen süddeutschen Druckorten einsetzte, bekundet auch in materialer Hinsicht das (wohl a priori) große Interesse breiter Bevölkerungsschichten am Liedersingen. Die Kommunikation von und mit Liedern mag sich durch das innovative Medium verändert haben. Lieder (gegebenenfalls nur als gedruckte Texte) zu sammeln wurde möglicherweise eine weitere Verhaltensweise und ergänzte so das Singen von Liedern, das zweifellos nach wie vor im Mittelpunkt stand. Dass Liederauf bestimmte Melodien gesungen wurden und man diese Weisen im Kopf hatte, wird eindrücklich durch die entsprechenden Paratexte der meisten Flugblatterzeugnisse beglaubigt. Neue Lieddichtungen wurden unter dem Hinweis auf bekannte Melodien angeboten, z. B. „In dem Ton Ich stund an einem Morgen“. Es lässt sich so ein gar nicht so kleiner Vorrat an Melodien rekonstruieren, von deren Bekanntheit man damals ausgehen konnten.
[25] A-Whh RR V (1489-1492): Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Reichsregister Bd. V (1489–1492), fol. 60r.
[26] „Die situationsbasierten Thematisierungsverfahren lassen die Liebe vor allem als kulturelles Handeln in konventionalisierten Umständen erscheinen“: Hübner 2013, 107.
[1] Beispielsweise So lanc so meer als So lang si mir (in I-TRbc 90, fol. 344v) oder Een vraulic wesen als Ein frölich wesenn (im Liederbuch des Johannes Heer, CH-SGs Ms. 462, fol. 28v–30r).
[2] Binchois’ Dueil angoisseux wird in I-TRbc 88, fol. 204v, zu De langwesus; von der Frottolazeile „Tente a l’ora, ruzinente, ch’io vo’ cantar“ bleibt im vom Augsburger Johann Wüst geschriebenen Manuskript CH-Bu F X 1–4 (fol. 97) noch „Dentelore“ übrig; ein Quodlibet der Saganer Stimmbücher (Nr. 118) zitiert die Lieder Rabaßkadol und Panny, pany, baby („Frau, Frau, alte Frau“).
[4] Es handelt sich um die RISM-Nummern 1512/1, 1513/2, [1513]/3, [1513]/3 (1517 in Mainz erschienen) und [1519]/5 (als xylographischer Reprint eines verschollenen um 1510 in Augsburg publizierten Liederbuchs 1514/1515 gedruckt, s. Schwindt 2008).
[5] Zu allen drei Handschriften vgl. Strohm 1993, 492–503.
[8] Nach Strohm 1993, 519, und Strohm 2001, 23, ist die Handschrift von vornherein im Besitz der Chorschule von St. Jakob, Innsbruck, gewesen, deren Kräfte zum musikalischen Hofdienst herangezogen wurden. Vgl. auch » G. Nicolaus Krombsdorfer.
[10] I-TRbc 89, fol. 388v–389r; I-Fn, B.R. 229, fol. 174v–175r; » Guter seltzamer und kunstreicher teutscher Gesangk; Nürnberg 1544, Nr. 8: „Heyaho nun wie sie grollen dort auff dem Ritten die geschwollen“ in der Secunda pars, T. 76–85; Textanspielung am Satzbeginn, T. 1–13: „Woll wir aber heben an den Danhauser zu singen“ (DTÖ 147/148, 63 und 69 f.).
[11] Bienenfeld 1904/1905, 96, Anm. 2.
[12] CH-Zz, Ms. G 438 (geschrieben um 1524); Pfisterer 2013.
[13] A-Wn Mus.Hs. 18810 (um 1524) und D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527), auch „Welser-Liederbuch“ genannt.
[14] Auch „Herwart-“ oder „Augsburger Liederbuch“ genannt.
[15] Birkendorf 1994, Bd. 1, 98.
[16] Schwindt 2013, 126–130.
[17] D-W, Cod. Guelf. 78.Quodl.4 (Süddeutschland um 1505); D-Mbs Mus. ms. 4483 (Süddeutschland um 1515); A-Wn Cod. 4337 (Wien, Anfang 1520er Jahre); D-W Cod. Guelf. 292 Musica hdschr. (Konstanz?, um 1525).
[18] CH-Bu F X 10 (1510); CH-Bu F X 5–9 (Faszikel I: ca. 1510); CH-Bu F X 1–4 (Faszikel I: ca. 1517/1518, Faszikel II: ca. 1524); CH-Bu F VI 26 (1. Viertel 16. Jahrhundert); CH-SGs Ms. 462 (1510–1516, 1530), auch „Heer-Liederbuch“ genannt.
[19] Siehe oben Anm. 4.
[20] RISM 1534/17: » Der erst teil. Hundert vnd ainundzweintzig newe Lieder…, hrsg. von Johann Ott, Nürnberg 1534.
[21] Sterl 1971, 24. Grünwald/Gruenwolt ist 1483–1487 als Persefant (Unterherold) in Regensburg nachweisbar.
[22] Grosch 2013, 48–54.
[23] A-Wn Cod. 3027 (Passau ca. 1492–1494), fol. 174v–177r: „Von yppliklichen dingen“. Partiturwiedergabe in Curschmann 1970, 22 f.
[24] Quodlibet Nr. XX zitiert mit dem Verspaar „Da schalt sie jhn ein trollen, ein truncken vnd ein vollen“ aus der Mitte der dritten Hesselloher-Strophe (Secunda pars, T. 133–137, der Rhythmus entspricht der Liedvorlage, die diastematische Führung ist leicht modifiziert, siehe DTÖ 147/148, 132).
[25] A-Whh RR V (1489-1492): Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Reichsregister Bd. V (1489–1492), fol. 60r.
[26] „Die situationsbasierten Thematisierungsverfahren lassen die Liebe vor allem als kulturelles Handeln in konventionalisierten Umständen erscheinen“: Hübner 2013, 107.
[27] Die älteste verfügbare Quelle zum mehrstimmigen Elslein-Lied sind die Saganer Stimmbücher (PL-Kj Berol. Mus.ms. 40098). Es gibt in der Tat eine frühere, von ca. 1455 stammende Überlieferung in Form einer einstimmigen Melodie, allerdings handelt es sich um einen lateinischen Text Gaudeamus pariter (CZ-Pnm Vysehrad 376, fol. 39v; Digitalisat in der Datenbank Melodiarum hymnologicum Bohemiae:http://tinyurl.com/gaudeamuspariter). Es ist sehr gut möglich oder sogar wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine geistliche Kontrafaktur des weltlichen einstimmigen Elslein-Liedes handelt. Dieses ist aber bislang nicht dokumentierbar.
[28] Die ältesten Quellen zu diesem populären Lied sind ein Einblattdruck des Textes von Albert Kunne (Memmingen, ca. 1501, siehe http://tinyurl.com/Ich-stund-Kunne, Metadaten unter http://tinyurl.com/Kunne-meta) und eine freie paraphrasierende Bearbeitung von Melodiebestandteilen unter der Textmarke im Tenor „Ich stund an einem Morgen“, die um 1499/1500 auf fol. 221v–222r in den Berliner Mensuralkodex D-B Mus. ms. 40021 eingetragen wurde. Beide legen einen Bezug zu einer allgemein bekannten Liedmelodie nahe, ohne dass diese heute als ältere Niederschrift nachweisbar wäre.
[29] D-B Ms. germ. oct. 280, fol. 48b–49b (Nr. 33): Ich sien den morgenssterren.
[30] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Geheimes Hausarchiv, 601, XXVI, Brief Herzog Philipps an seinen Vater Wilhelm V. vom 13.10.1593.
[31] Zur Geschichte des Terminus siehe Grosch 2013, 23–33. Vgl. auch » B. Minnesang und alte Meister zur Begriffstradition der „tenores“, die zunächst keineswegs mit Mehrstimmigkeit verknüpft war.
[32] Vollständige Transkription beider Lieder und weitere Bemerkungen in Strohm 1993, 496–499.
[34] Strohm 1989; Leverett 1995; Höink 2012. Dem Überblick wäre noch die von Nicolas Champion dit Liegeois komponierte Missa Ducis Saxsoniae Sing ich nit wol hinzuzufügen, deren Liedbasis bereits vor dem süddeutschen Manuskript D-WGl Lutherhalle Ms. 403/1048 (um 1535/1536) in Bernhard Rems Stimmbuchsatz D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527) festgehalten ist.
[35] D-Mbs Mus. ms. 3154, fol. 53v: Tannhauser Ihr seid mir lieb (3v), fol. 151r: Veni creator spiritus und Thanhauser jr seit mir lieb. Heidrich 2005, 54 ff.
[36] Klüpfel; Karl (Hrsg.): Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes (1488–1533), Bd. 1, Stuttgart 1846, 24.
[37] Zur Autorschaft siehe Leverett 1995, zum musikalischen Stil im Umfeld Friedrichs III. siehe Schmalz 1987, zum Titel siehe Strohm 1989.
[38] Schwindt 2006, 51–56.
[40] Vgl. Schwindt 2013, 127 und 133.
[41] Ediert in Adler/Koller 1900, 269. Näheres zu diesem Lied und seinem Text bei Schwindt 1999, 58–62.
[42] Hübner 2013, 107.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: „Lieder in der Region Österreich, ca. 1450–ca. 1520“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/lieder-der-region-osterreich-ca-1450-ca-1520> (2016).