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Wandel der höfischen und städtischen Liedpraxis

Nicole Schwindt

Deutliche Veränderungen vollzogen sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der höfischen Liedpraxis, die ihre ehedem klerikale Basis immer mehr gegen eine weltliche Orientierung am Hofleben eintauschte. Während Vergleichbares vom Hof Friedrichs III. nicht überliefert ist, hatte Maximilian nachweislich schon in seiner burgundischen Zeit um 1480 die Gewohnheit angenommen, sich privat von den Kapellsängern vorsingen und vom Organisten vorspielen zu lassen, was er in seiner süddeutschen Regierungszeit mit anderem Personal offenbar bis ins Alter hinein beibehielt. Manch einen Musiker, wie den französischen Sänger Philipp de Passagio, übernahm er aber auch aus den Niederlanden als vertraulichen Begleiter („suum Carissimum cantori et Commensali continuo“).[25] Er beschäftigte seinen Organisten Paul Hofhaimer und seine Sänger neben offiziellen Anlässen auch für seine ganz private „Kurzweil“, ließ sie teils in kleinen Formationen auf seinen permanenten Regierungsreisen und selbst zu Kuraufenthalten nachkommen (vgl. auch » D. Hofmusik. Innsbruck). Bei seiner persönlichen Rekreation, desgleichen bei den kleineren und größeren Zusammenkünften des mobilen Hofstaats war dem mehrstimmigen Lied eine ideale Plattform gegeben. Thematisch dominierte die Liebeslyrik in all den Facetten (wie Liebesversicherungen und Anzüglichkeiten), die dem mittleren und niederen Stilregister zugänglich waren,[26] aber auch die Tugendlehre eroberte zunehmend das Feld; sie wurde kontrapunktiert von spöttischen Inhalten wie der Bauernsatire, die ein beliebtes Motiv bei Zusammenkünften des Adels war und nicht nur bei den Kostümbällen der sogenannten „Mummereien“ für Spaß sorgte, sondern ihren Reflex in zahlreichen Liedern der Zeit fand. Es verwundert nicht, dass diese Situation die komponierenden Kapellmitglieder zu einer regen Produktion anspornte. Die oft monate- und jahrelange Stationierung der habsburgischen Kapellmitglieder in den verschiedenen Städten des Reichs machte aber auch die Grenzen zwischen der höfischen und der stadtbürgerlichen Musikpflege durchlässig, so dass die Liedlust – ausgehend vom Herrscher und der Hofgesellschaft – leicht in das Patriziat und gebildete Bürgertum der Städte proliferieren konnte. Wirtschaftliche Prosperität, sozialer Aufstieg und zivilisatorische Ambitionen – etwa im Umkreis der Augsburger Fugger –, intellektuelles Streben – wie bei der Basler Familie Amerbach – in Verbindung mit einer zunehmenden Selbstverständlichkeit im unverkrampften Umgang mit der deutschen Sprache stellten hier den kulturellen Humus für die aufblühende Gattung dar. Als reine Vokalmusik, als variabel vokal und instrumental zu besetzende Kleinkunst und als Vorlage für Lauten- und Tasteninstrumentintavolierungen bot sie ein breit gefächertes Angebot für die unterschiedlichsten Niveaus und Lebenslagen. Insbesondere die jugendliche Stadtbevölkerung, darunter in Bursen lebende Studenten, und nicht weniger die Edelknaben bei Hofe dürften eine wichtige Zielgruppe gewesen sein.

Gerade die beflissene Herstellung von Einblatt-Drucken und Flugschriften mit Liedern, die kurz vor der Jahrhundertwende vor allem an den klassischen süddeutschen Druckorten einsetzte, bekundet auch in materialer Hinsicht das (wohl a priori) große Interesse breiter Bevölkerungsschichten am Liedersingen. Die Kommunikation von und mit Liedern mag sich durch das innovative Medium verändert haben. Lieder (gegebenenfalls nur als gedruckte Texte) zu sammeln wurde möglicherweise eine weitere Verhaltensweise und ergänzte so das Singen von Liedern, das zweifellos nach wie vor im Mittelpunkt stand. Dass Liederauf bestimmte Melodien gesungen wurden und man diese Weisen im Kopf hatte, wird eindrücklich durch die entsprechenden Paratexte der meisten Flugblatterzeugnisse beglaubigt. Neue Lieddichtungen wurden unter dem Hinweis auf bekannte Melodien angeboten, z. B. „In dem Ton Ich stund an einem Morgen“. Es lässt sich so ein gar nicht so kleiner Vorrat an Melodien rekonstruieren, von deren Bekanntheit man damals ausgehen konnten.

[25] A-Whh RR V (1489-1492): Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Reichsregister Bd. V (1489–1492), fol. 60r.

[26] „Die situationsbasierten Thematisierungsverfahren lassen die Liebe vor allem als kulturelles Handeln in konventionalisierten Umständen erscheinen“: Hübner 2013, 107.