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Aufschwung der Liedkunst unter Maximilian I.

Nicole Schwindt

Mit Maximilians intensivierter Musikpatronage, die auch sehr stark das private oder zumindest nicht-repräsentative Musizieren miteinschloss, und anlässlich seiner Rückkehr in deutsche Lande 1490 veränderte sich auch die Aufmerksamkeit, die dem komponierten Lied entgegengebracht wurde. Ablesbar ist dies an der neuen Art, wie größere Mengen an Liedern aus seinem direkten musikalischen Umfeld in gebündelter Form gespeichert wurden. Der wohl älteste Zeuge dieses neuen Interesses ist nur noch indirekt und zudem lediglich unvollständig fassbar: Die 45 anonymen Lieder des Züricher Tenor-Stimmbuchs, das als einziges von einer dreistimmigen Stimmbuchgarnitur erhalten blieb, wurde zwar in den 1520er Jahren von dem Augsburger Fugger-Organisten Bernhard Rem geschrieben, aber das Repertoire, das als überhaupt einzige Konkordanzen zwei Übereinstimmungen mit den Saganer Stimmbüchern (“Glogauer Liederbuch”) aufweist, stammt stilistisch aus den 1490er Jahren.[12] So wie Rems zwei sonstige Liedermanuskripte dieses Zeitraums[13] scheint es Teil eines antiquarischen Programms zu sein, bei dem nach Maximilians Tod aktuelle Kopien von alten Vorlagen angefertigt oder aus diesen kompiliert wurden. Während die beiden anderen Manuskripte über Liedsätze der Hofkomponisten Isaac, Hofhaimer, Rener, Senfl u. a. eindeutig Maximilians musikalischer Entourage zuzuordnen sind, muss diese kollektive Autorschaft für das in Zürich liegende Manuskript spekulativ bleiben. Doch die Überlieferungskonstellation legt nahe, dass es aus dem Fundus der Kapelle stammt – man ging mit diesen Liedern um, seien es die eigenen oder vorerst noch fremde gewesen.

Dieser Wandel ist bezeichnend für die neue Funktion des polyphonen Liedes, das nun zur intensiv von den Kapellmitgliedern sowie deren Assoziierten wie Wolfgang Grefinger in Wien oder Hans Buchner und Sixt Dietrich in Konstanz und Freiburg in Angriff genommenen Kompositionsaufgabe wurde. Dass deutsche Lieder und franko-flämische Chansons ebenso fraglos nebeneinander standen wie heimische und internationale Motetten und als solche in ein musikalisches „Reisebuch“ aufzunehmen waren, illustriert das Augsburger Chorbuch (» D-As Cod. 2° 142a, ca. 1512–1514),[14] an das zuletzt 1514 Hand angelegt wurde. Es steht in Beziehung zu Maximilians Augsburger Kammersekretär, Rat und Chefdiplomat Matthäus Lang,[15] der selbst eine Sozialisation als Sängerknabe genossen hatte. Ebenfalls in enger Verbindung zur königlichen bzw. kaiserlichen Kanzlei steht schließlich das umfangreiche und nun gattungsreine Münchner Liedmanuskript » D-Mbs Mus. ms. 3155  (kurz nach 1519), dessen kompositorischer Löwenanteil von Isaacs Nachfolger, dem jungen Senfl, beigesteuert wurde.[16] Die kalligraphische Textschrift der Gedichte gehört einem der Sekretäre, die an Maximilians großen literarischen Projekten beteiligt waren, vielleicht Marx Treitzsaurwein. Schätzungsweise kurz vor der Wiener Fürstenhochzeit 1515 (» D. Royal Entry) angelegt, stellt es als Nachhut des unterdessen fast anachronistischen Chorbuch-Layouts den repräsentativen Höhepunkt der Dokumentation höfischer Liedkultur im Habsburgerreich dar.

Ableger des um und nach 1500 aufgeflammten Geschmacks am polyphonen Lied sind vielerorts zu registrieren, wenngleich wegen der nun generell verbreiteten Notierungsweise in Stimmbüchern die Überlieferung viele Opfer gefordert hat. Immerhin beglaubigen die diversen lückenhaft überlieferten Liedhandschriften aus dem unscharfen bayerisch-österreichischen Raum[17] und namentlich die nun mit großer Nachhaltigkeit einsetzenden Schweizer Quellen[18] mit ihren handgreiflichen Indizien für wechselseitige Beziehungen nach Augsburg, Freiburg und Konstanz, dass das mehrstimmige Lied aus dem städtischen und gebildeten Milieu nicht mehr wegzudenken war.

[12] CH-Zz, Ms. G 438 (geschrieben um 1524); Pfisterer 2013.

[13] A-Wn Mus.Hs. 18810 (um 1524) und D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527), auch „Welser-Liederbuch“ genannt.

[14] Auch „Herwart-“ oder „Augsburger Liederbuch“ genannt.

[15] Birkendorf 1994, Bd. 1, 98.

[16] Schwindt 2013, 126–130.

[17] D-W, Cod. Guelf. 78.Quodl.4 (Süddeutschland um 1505); D-Mbs Mus. ms. 4483 (Süddeutschland um 1515); A-Wn Cod. 4337 (Wien, Anfang 1520er Jahre); D-W Cod. Guelf. 292 Musica hdschr. (Konstanz?, um 1525).

[18] CH-Bu F X 10 (1510); CH-Bu F X 5–9 (Faszikel I: ca. 1510); CH-Bu F X 1–4 (Faszikel I: ca. 1517/1518, Faszikel II: ca. 1524); CH-Bu F VI 26 (1. Viertel 16. Jahrhundert); CH-SGs Ms. 462 (1510–1516, 1530), auch „Heer-Liederbuch“ genannt.