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„Tenorlied“ und Stimmfunktionen

Nicole Schwindt

Der Usus, eine – wenn nicht faktisch als solche gesungene, so doch als singbar anmutende – Weise zum strukturellen Kern einer Komposition zu machen, bestimmte das deutsche Renaissancelied in stärkerer und anhaltenderer Weise als Kompositionen andernorts, so dass von manchen Vorlagen, meist den prägnanteren, ganze Liedfamilien entstanden. In Übereinstimmung damit, dass isolierte Melodien bereits von den Zeitgenossen als „Tenores“ bezeichnet wurden, erfand die Forschung das Label „Tenorlied“ für die betreffende satztechnische Struktur.[31] Dies geschah anfangs nicht ohne ideologische Nebenabsichten, nämlich zur unterschwelligen Bewertung als einer Art deutscher Tenorgesinnung. Nach neuerem Verständnis ist die Tenor-Orientierung der „Gattung Tenorlied“ jedoch eine charakteristische Art, mit musikalischem Material generell umzugehen. Insbesondere beim Vergleich von Liedern, die an verschiedenen Stellen unterschiedlicher Regionen auftauchen, ist der eingeschränkte Textstatus der Überlieferungen erkennbar. Der Wunsch, ein vorhandenes Lied als Impulsgeber für weitere produktive Beschäftigung zu behandeln, überwiegt oft die Absicht, unveränderliche Werke zu schaffen. Es ging vor allem darum, Material für neue Bearbeitungen zu haben.

Wenn Lieder im 15. Jahrhundert ganz offensichtlich wanderten, dann kursierten sie nur ausnahmsweise als gleichbleibende Liedsätze. Meist blieb nur die Hauptmelodie einigermaßen stabil und erfuhr andernorts eine je abweichende polyphone Einkleidung. Die Hauptmelodie lag in der Regel im Tenor, was ebenso die Stimmfunktion im mehrstimmigen Satzverband (Ténor), als auch die natürliche männliche Stimmlage (Tenór) meinte. Für das deutsche Lied blieb diese Disposition länger der Normalfall als für andere europäische Liedtraditionen, in denen mit der Verbreitung des franko-flämischen Stils die Oberstimme zum Melodieträger wurde. Dass es aber auch weitere Optionen gab, illustrieren verschiedene Fälle im „Glogauer Liederbuch“ (Saganer Stimmbücher, PL-Kj Berol. Mus. ms 40098). Das auch im Innsbrucker Leopold-Kodex bearbeitete Lied Ich sachs einsmals wird in einer dreistimmigen Version mit Liedmelodie in der Mittelstimme präsentiert. Im Altus-Stimmbuch erscheint die Weise aber nochmals separat in anderer Mensur und in halbierten Notenwerten, dazu der Vermerk „Tenor“. Diese Eintragung wirkt wie eine Aufforderung, dazu eine Fassung mit anderer Verteilung der Stimmfunktionen zu ersinnen. Auch zum Tenorliedsatz von In feuers hitz (der zudem mit dem lateinischen Text Mole gravati criminum mater unterlegt wurde) wird an anderer Stelle in der Saganer Quelle im Diskant-Stimmbuch die einstimmige Melodie vorgelegt, allerdings ohne in einer „Sopran“-Region notiert zu sein. Doch beim dreistimmigen Saganer Lied Wes mich leydt trägt tatsächlich die höchste Stimme den Lied-Cantus firmus vor. Das ist sein Platz auch in der Paraphrase im Leopold-Kodex, wo es auf den Text O dulcis Maria den Abschluss einer sechsteiligen Motette bildet. Es findet sich auch in den beiden von Bernhard Rem in Augsburg geschriebenen ‚antiquarischen‘ Liedersammlungen, allerdings wird dort der Saganer Satz als Ganzes wiedergegeben, lediglich mit einer eingepassten Alt-Stimme auf modernen Stand gebracht und einem gewissen Hans Sygler (dem Autor der Ergänzungsstimme?) zugewiesen.

Selbst wenn das kontrapunktische Diskant-Tenor-Gerüst bei einer Lied-Wanderung intakt blieb, wurde die dritte Stimme, der Contratenor, regelmäßig ausgetauscht. Das allerdings ist im 15. Jahrhundert Brauch, in italienischen und französischen Kompositionen verhält es sich nicht anders. Man kann das Verfahren beim Vergleich der Saganer und der Schedelschen Fassung von In feuers hitz beobachten; es charakterisiert auch die zwei Varianten von Mein hertz in staten trewen.

[31] Zur Geschichte des Terminus siehe Grosch 2013, 23–33. Vgl. auch » B. Minnesang und alte Meister zur Begriffstradition der „tenores“, die zunächst keineswegs mit Mehrstimmigkeit verknüpft war.