Vom Spruchsang zum Zeitungslied
In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte sich ein gravierender Wandel in der Trägerschicht wie bei den Ausführenden des Liedes vollzogen, der auch die Art des Liedgesangs veränderte. Die Traditionen des Spruchsangs des 14. Jahrhunderts und der inzwischen aufgeblühten Meistersingerkunst waren in der Region Österreich um 1450 nebeneinander lebendig (» B. Traditionsbildungen des Liedes, » B. Minnesang und alte Meister, » B. Das Phänomen „Neidhart“). Gehobene einstimmige Lieder, die man „Vortragslieder“ nennen könnte, wurden noch von einer eigenen Berufsgruppe, den in den Akten aufscheinenden „Sprechern“, betrieben. Diese Bezeichnung markiert bereits den Akzent auf der literarischen Seite; dennoch wurde die musikalische Seite gelegentlich auch dokumentiert, allerdings als Einzelgesänge, von deren mehrstimmiger Realisierung durch etwelche instrumentale Begleitung sich keine schriftlichen Zeugnisse erhalten haben. Zu den prominentesten Sprechern zählt Michel Beheim, der auch in habsburgischen Diensten stand: nach 1454 bei Albrecht VI. in Freiburg, zwischen 1459 und 1465 am kaiserlichen Hof Friedrichs III. (» B. Das Phänomen „Neidhart“). Obwohl Nachfolger in seiner Funktion dem Namen nach bekannt sind – Mangolt Groenwald[21] und unter Maximilian der mal als „Sprecher“, mal als „Singer“ in den Akten geführte Georg Sayler –, gehörte bereits Beheim zu einer aussterbenden Spezies, was er an seinem Lebensende beklagte. Ab 1490 fusionierte der untergehende Berufszweig, der auch in Form fahrender Sänger (seltener Sängerinnen) zahlreiche adlige Landsitze bediente, mit den Kolporteuren des neu aufkommenden Gewerbes des Flugblattdrucks. Von wandernden Sängern wurden Lieddrucke umso leichter verkauft, wenn sie diese vorher vorgetragen hatten.[22] Der Übergang vom Spruchsang zum Zeitungslied, das auf bekannte Melodien gesungen wurde und daher keiner Noten bedurfte, vollzog sich schleichend. Gelegentlich gingen solche Lieder mit Schilderungen von historischen Ereignissen oder lokalen Begebenheiten eine Allianz mit komponierten Gesängen ein. Die dem bayerischen Sänger und nachmaligen Landrichter Hans Hesselloher zugeschriebene Geschichte einer aus dem Ruder gelaufenen Dorfauseinandersetzung war nicht nur seit etwa 1450 als vielstrophiger Text (Von üppiglichen Dingen) in Umlauf, sondern es erfuhren auch diverse Melodievarianten, die aber alle den markanten Quintsprung und die rezitierenden Tonwiederholungen am Anfang aufweisen, mehrere polyphone Aussetzungen. Eine dreistimmige Version, die mit ihrer unaufwändigen Mehrstimmigkeit und dem auf neutralen (durchaus nicht tänzerisch gemeinten) Textvortrag verweisenden Dreiermetrum auf die Tradition des solistischen Vortragslieds zurückgeht, erhielt sich in einer vor 1500 angelegten Handschrift, die einmal das Kloster Mondsee besessen hatte.[23] Dass auch Schmeltzl im Wiener Schottenstift darauf für eines seiner Quodlibets zurückgriff,[24] lässt eine benediktinische Kontaktroute vermuten und erinnert an die traditionsreiche gesellige Liedkultur in lebensfrohen monastischen Konventen, der sich bereits das „Glogauer Liederbuch“ verdankt.
[21] Sterl 1971, 24. Grünwald/Gruenwolt ist 1483–1487 als Persefant (Unterherold) in Regensburg nachweisbar.
[22] Grosch 2013, 48–54.
[23] A-Wn Cod. 3027 (Passau ca. 1492–1494), fol. 174v–177r: „Von yppliklichen dingen“. Partiturwiedergabe in Curschmann 1970, 22 f.
[24] Quodlibet Nr. XX zitiert mit dem Verspaar „Da schalt sie jhn ein trollen, ein truncken vnd ein vollen“ aus der Mitte der dritten Hesselloher-Strophe (Secunda pars, T. 133–137, der Rhythmus entspricht der Liedvorlage, die diastematische Führung ist leicht modifiziert, siehe DTÖ 147/148, 132).
[1] Beispielsweise So lanc so meer als So lang si mir (in I-TRbc 90, fol. 344v) oder Een vraulic wesen als Ein frölich wesenn (im Liederbuch des Johannes Heer, CH-SGs Ms. 462, fol. 28v–30r).
[2] Binchois’ Dueil angoisseux wird in I-TRbc 88, fol. 204v, zu De langwesus; von der Frottolazeile „Tente a l’ora, ruzinente, ch’io vo’ cantar“ bleibt im vom Augsburger Johann Wüst geschriebenen Manuskript CH-Bu F X 1–4 (fol. 97) noch „Dentelore“ übrig; ein Quodlibet der Saganer Stimmbücher (Nr. 118) zitiert die Lieder Rabaßkadol und Panny, pany, baby („Frau, Frau, alte Frau“).
[4] Es handelt sich um die RISM-Nummern 1512/1, 1513/2, [1513]/3, [1513]/3 (1517 in Mainz erschienen) und [1519]/5 (als xylographischer Reprint eines verschollenen um 1510 in Augsburg publizierten Liederbuchs 1514/1515 gedruckt, s. Schwindt 2008).
[5] Zu allen drei Handschriften vgl. Strohm 1993, 492–503.
[8] Nach Strohm 1993, 519, und Strohm 2001, 23, ist die Handschrift von vornherein im Besitz der Chorschule von St. Jakob, Innsbruck, gewesen, deren Kräfte zum musikalischen Hofdienst herangezogen wurden. Vgl. auch » G. Nicolaus Krombsdorfer.
[10] I-TRbc 89, fol. 388v–389r; I-Fn, B.R. 229, fol. 174v–175r; » Guter seltzamer und kunstreicher teutscher Gesangk; Nürnberg 1544, Nr. 8: „Heyaho nun wie sie grollen dort auff dem Ritten die geschwollen“ in der Secunda pars, T. 76–85; Textanspielung am Satzbeginn, T. 1–13: „Woll wir aber heben an den Danhauser zu singen“ (DTÖ 147/148, 63 und 69 f.).
[11] Bienenfeld 1904/1905, 96, Anm. 2.
[12] CH-Zz, Ms. G 438 (geschrieben um 1524); Pfisterer 2013.
[13] A-Wn Mus.Hs. 18810 (um 1524) und D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527), auch „Welser-Liederbuch“ genannt.
[14] Auch „Herwart-“ oder „Augsburger Liederbuch“ genannt.
[15] Birkendorf 1994, Bd. 1, 98.
[16] Schwindt 2013, 126–130.
[17] D-W, Cod. Guelf. 78.Quodl.4 (Süddeutschland um 1505); D-Mbs Mus. ms. 4483 (Süddeutschland um 1515); A-Wn Cod. 4337 (Wien, Anfang 1520er Jahre); D-W Cod. Guelf. 292 Musica hdschr. (Konstanz?, um 1525).
[18] CH-Bu F X 10 (1510); CH-Bu F X 5–9 (Faszikel I: ca. 1510); CH-Bu F X 1–4 (Faszikel I: ca. 1517/1518, Faszikel II: ca. 1524); CH-Bu F VI 26 (1. Viertel 16. Jahrhundert); CH-SGs Ms. 462 (1510–1516, 1530), auch „Heer-Liederbuch“ genannt.
[19] Siehe oben Anm. 4.
[20] RISM 1534/17: » Der erst teil. Hundert vnd ainundzweintzig newe Lieder…, hrsg. von Johann Ott, Nürnberg 1534.
[21] Sterl 1971, 24. Grünwald/Gruenwolt ist 1483–1487 als Persefant (Unterherold) in Regensburg nachweisbar.
[22] Grosch 2013, 48–54.
[23] A-Wn Cod. 3027 (Passau ca. 1492–1494), fol. 174v–177r: „Von yppliklichen dingen“. Partiturwiedergabe in Curschmann 1970, 22 f.
[24] Quodlibet Nr. XX zitiert mit dem Verspaar „Da schalt sie jhn ein trollen, ein truncken vnd ein vollen“ aus der Mitte der dritten Hesselloher-Strophe (Secunda pars, T. 133–137, der Rhythmus entspricht der Liedvorlage, die diastematische Führung ist leicht modifiziert, siehe DTÖ 147/148, 132).
[25] A-Whh RR V (1489-1492): Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Reichsregister Bd. V (1489–1492), fol. 60r.
[26] „Die situationsbasierten Thematisierungsverfahren lassen die Liebe vor allem als kulturelles Handeln in konventionalisierten Umständen erscheinen“: Hübner 2013, 107.
[27] Die älteste verfügbare Quelle zum mehrstimmigen Elslein-Lied sind die Saganer Stimmbücher (PL-Kj Berol. Mus.ms. 40098). Es gibt in der Tat eine frühere, von ca. 1455 stammende Überlieferung in Form einer einstimmigen Melodie, allerdings handelt es sich um einen lateinischen Text Gaudeamus pariter (CZ-Pnm Vysehrad 376, fol. 39v; Digitalisat in der Datenbank Melodiarum hymnologicum Bohemiae:http://tinyurl.com/gaudeamuspariter). Es ist sehr gut möglich oder sogar wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine geistliche Kontrafaktur des weltlichen einstimmigen Elslein-Liedes handelt. Dieses ist aber bislang nicht dokumentierbar.
[28] Die ältesten Quellen zu diesem populären Lied sind ein Einblattdruck des Textes von Albert Kunne (Memmingen, ca. 1501, siehe http://tinyurl.com/Ich-stund-Kunne, Metadaten unter http://tinyurl.com/Kunne-meta) und eine freie paraphrasierende Bearbeitung von Melodiebestandteilen unter der Textmarke im Tenor „Ich stund an einem Morgen“, die um 1499/1500 auf fol. 221v–222r in den Berliner Mensuralkodex D-B Mus. ms. 40021 eingetragen wurde. Beide legen einen Bezug zu einer allgemein bekannten Liedmelodie nahe, ohne dass diese heute als ältere Niederschrift nachweisbar wäre.
[29] D-B Ms. germ. oct. 280, fol. 48b–49b (Nr. 33): Ich sien den morgenssterren.
[30] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Geheimes Hausarchiv, 601, XXVI, Brief Herzog Philipps an seinen Vater Wilhelm V. vom 13.10.1593.
[31] Zur Geschichte des Terminus siehe Grosch 2013, 23–33. Vgl. auch » B. Minnesang und alte Meister zur Begriffstradition der „tenores“, die zunächst keineswegs mit Mehrstimmigkeit verknüpft war.
[32] Vollständige Transkription beider Lieder und weitere Bemerkungen in Strohm 1993, 496–499.
[34] Strohm 1989; Leverett 1995; Höink 2012. Dem Überblick wäre noch die von Nicolas Champion dit Liegeois komponierte Missa Ducis Saxsoniae Sing ich nit wol hinzuzufügen, deren Liedbasis bereits vor dem süddeutschen Manuskript D-WGl Lutherhalle Ms. 403/1048 (um 1535/1536) in Bernhard Rems Stimmbuchsatz D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527) festgehalten ist.
[35] D-Mbs Mus. ms. 3154, fol. 53v: Tannhauser Ihr seid mir lieb (3v), fol. 151r: Veni creator spiritus und Thanhauser jr seit mir lieb. Heidrich 2005, 54 ff.
[36] Klüpfel; Karl (Hrsg.): Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes (1488–1533), Bd. 1, Stuttgart 1846, 24.
[37] Zur Autorschaft siehe Leverett 1995, zum musikalischen Stil im Umfeld Friedrichs III. siehe Schmalz 1987, zum Titel siehe Strohm 1989.
[38] Schwindt 2006, 51–56.
[40] Vgl. Schwindt 2013, 127 und 133.
[41] Ediert in Adler/Koller 1900, 269. Näheres zu diesem Lied und seinem Text bei Schwindt 1999, 58–62.
[42] Hübner 2013, 107.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: „Lieder in der Region Österreich, ca. 1450–ca. 1520“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/lieder-der-region-osterreich-ca-1450-ca-1520> (2016).