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Vom Spruchsang zum Zeitungslied

Nicole Schwindt

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte sich ein gravierender Wandel in der Trägerschicht wie bei den Ausführenden des Liedes vollzogen, der auch die Art des Liedgesangs veränderte. Die Traditionen des Spruchsangs des 14. Jahrhunderts und der inzwischen aufgeblühten Meistersingerkunst waren in der Region Österreich um 1450 nebeneinander lebendig (» B. Traditionsbildungen des Liedes, » B. Minnesang und alte Meister, » B. Das Phänomen „Neidhart“). Gehobene einstimmige Lieder, die man „Vortragslieder“ nennen könnte, wurden noch von einer eigenen Berufsgruppe, den in den Akten aufscheinenden „Sprechern“, betrieben. Diese Bezeichnung markiert bereits den Akzent auf der literarischen Seite; dennoch wurde die musikalische Seite gelegentlich auch dokumentiert, allerdings als Einzelgesänge, von deren mehrstimmiger Realisierung durch etwelche instrumentale Begleitung sich keine schriftlichen Zeugnisse erhalten haben. Zu den prominentesten Sprechern zählt Michel Beheim, der auch in habsburgischen Diensten stand: nach 1454 bei Albrecht VI. in Freiburg, zwischen 1459 und 1465 am kaiserlichen Hof Friedrichs III. (» B. Das Phänomen „Neidhart“). Obwohl Nachfolger in seiner Funktion dem Namen nach bekannt sind – Mangolt Groenwald[21] und unter Maximilian der mal als „Sprecher“, mal als „Singer“ in den Akten geführte Georg Sayler –, gehörte bereits Beheim zu einer aussterbenden Spezies, was er an seinem Lebensende beklagte. Ab 1490 fusionierte der untergehende Berufszweig, der auch in Form fahrender Sänger (seltener Sängerinnen) zahlreiche adlige Landsitze bediente, mit den Kolporteuren des neu aufkommenden Gewerbes des Flugblattdrucks. Von wandernden Sängern wurden Lieddrucke umso leichter verkauft, wenn sie diese vorher vorgetragen hatten.[22] Der Übergang vom Spruchsang zum Zeitungslied, das auf bekannte Melodien gesungen wurde und daher keiner Noten bedurfte, vollzog sich schleichend. Gelegentlich gingen solche Lieder mit Schilderungen von historischen Ereignissen oder lokalen Begebenheiten eine Allianz mit komponierten Gesängen ein. Die dem bayerischen Sänger und nachmaligen Landrichter Hans Hesselloher zugeschriebene Geschichte einer aus dem Ruder gelaufenen Dorfauseinandersetzung war nicht nur seit etwa 1450 als vielstrophiger Text (Von üppiglichen Dingen) in Umlauf, sondern es erfuhren auch diverse Melodievarianten, die aber alle den markanten Quintsprung und die rezitierenden Tonwiederholungen am Anfang aufweisen, mehrere polyphone Aussetzungen. Eine dreistimmige Version, die mit ihrer unaufwändigen Mehrstimmigkeit und dem auf neutralen (durchaus nicht tänzerisch gemeinten) Textvortrag verweisenden Dreiermetrum auf die Tradition des solistischen Vortragslieds zurückgeht, erhielt sich in einer vor 1500 angelegten Handschrift, die einmal das Kloster Mondsee besessen hatte.[23] Dass auch Schmeltzl im Wiener Schottenstift darauf für eines seiner Quodlibets zurückgriff,[24] lässt eine benediktinische Kontaktroute vermuten und erinnert an die traditionsreiche gesellige Liedkultur in lebensfrohen monastischen Konventen, der sich bereits das „Glogauer Liederbuch“ verdankt.

[21] Sterl 1971, 24. Grünwald/Gruenwolt ist 1483–1487 als Persefant (Unterherold) in Regensburg nachweisbar.

[22] Grosch 2013, 48–54.

[23] A-Wn Cod. 3027 (Passau ca. 1492–1494), fol. 174v–177r: „Von yppliklichen dingen“. Partiturwiedergabe in Curschmann 1970, 22 f.

[24] Quodlibet Nr. XX zitiert mit dem Verspaar „Da schalt sie jhn ein trollen, ein truncken vnd ein vollen“ aus der Mitte der dritten Hesselloher-Strophe (Secunda pars, T. 133–137, der Rhythmus entspricht der Liedvorlage, die diastematische Führung ist leicht modifiziert, siehe DTÖ 147/148, 132).