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Das Messenfragment des Schottenklosters

Reinhard Strohm

Die Handschrift » A-Ws Archiv Hs. 355 (Hübl 355) des Wiener Schottenklosters enthält einen Kommentar des 15. Jahrhunderts über die Marienantiphon Salve regina.[61] Im Einband des Codex wurden zwei Papierdoppelblätter gefunden, auf denen Musik zweier mehrstimmiger Messzyklen notiert ist. Diese Musik stammt nach Notation (hohle Mensuralnotation des späteren 15. Jahrhunderts) und Stil (imitativer Kontrapunkt) aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Zwar tragen die beiden Metallschließen des originalen Einbandes die Jahreszahlen 1455 bzw. 1477, doch können die Papierblätter sehr wohl noch später in die Innendeckel geklebt worden sein. Martin Staehelin, der das Fragment umfassend analysiert hat, weist zu Recht eine Hypothese von Walter Pass zurück, der zufolge die Papierblätter aus der Zeit um 1430 stammen und die Wiener Herkunft der Trienter Codices wahrscheinlich machen sollen.[62] Da nichts an diesen Fragmenten auf Verwandtschaft mit den Trienter Codices hinweist, ist vielmehr umgekehrt zu fragen, ob die Musik des Schotten-Fragments als Wiener polyphones Repertoire gelten darf. Die zwei darin vertretenen Schreiberhände wären aus der Ferne mit Teilen des Innsbrucker » Leopold-Codex sowie vielleicht mit böhmischen Handschriften (» Strahov-Codex, CZ-Ps D.G.47; Kuttenberg-Fragment) vergleichbar;[63] die Bassstimme einer der beiden Messen wäre nach Tonumfang (sichtbar ist Es-d‘) und melodischem Stil in niederländischen Werken, etwa von Jacob Obrecht, denkbar. Leider konnte bisher keine musikalische Konkordanz gefunden werden.

Seltsam ist an der Quelle, dass vom ersten der beiden Messzyklen nur anscheinend zweistimmige Abschnitte für Discantus und Tenor (Bicinien) notiert sind, vom zweiten Messzyklus überhaupt nur die Bassstimme. Auch vom Format her (ursprünglich ca. 28x22 cm) scheint es möglich, dass die Blätter als Stimmhefte für Chorsänger oder sogar Instrumentalisten fungierten. Es bestehen in dieser Hinsicht Analogien mit den Linzer Fragmenten (» A-LIb Hs. 529) und deshalb vielleicht ein Zusammenhang mit der habsburgischen Hofmusik.

 

[61] Beschreibung: http://manuscripta.at/m1/hs_detail.php?ID=28794.

[62] Staehelin 1986 (mit Abbildungen des gesamten Fragments und teilweiser Übertragung); Pass 1980.

[63] Zu diesen Quellen vgl. » K. Musikalische Quellenporträts (Leopold-Codex) bzw. »  F. Europäische Musik.

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