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Quellen der Wiener Kirchenmusik: Einleitung

Reinhard Strohm

Die schriftliche Überlieferung der Wiener Kirchenmusik des 15. Jahrhunderts ist einerseits enttäuschend fragmentarisch, andererseits überraschend vielfältig. Denn wenn man alle Musik, die in den Kirchen, Klöstern und Privatkapellen Wiens praktiziert wurde, als „Wiener Kirchenmusik“ betrachten darf, so ergibt sich eine große Vielfalt musikalischer Gattungen – vom einstimmigen Kirchenchoral über Kirchenlieder und Orgelstücke bis zu mehrstimmigen Messen – und von allen diesen Gattungen sind in der Tat noch schriftliche Spuren vorhanden. Jedoch sind die erhaltenen Niederschriften oft bloße Handschriftenfragmente oder sie gehören zu Sammlungen, die für andere Orte bestimmt waren. Vollständige Wiener Musikhandschriften aus dieser Zeit sind mit wenigen Ausnahmen verloren. Auch die reale Herkunft und Zugehörigkeit solcher Quellen ist oft fraglich: Selbstverständlich war nicht alles, was heute in Wiener Bibliotheken und Archiven bereitliegt, auch schon im 15. Jahrhundert am Ort vorhanden bzw. praktisch verfügbar. Umgekehrt ist viel schriftliches Material, das damals dem örtlichen Musikleben diente, heute anderswo zu finden.[1]

Die Quellen geistlicher Musik, über die hier als Beispiele berichtet werden soll, sind nach zwei Kriterien ausgewählt: dass sie Musiknotation enthalten, und dass sie sich konkret mit Wiener Institutionen oder Privatpersonen des 15. Jahrhunderts in Verbindung bringen lassen.[2] Diese Auswahl ergibt kein vollständiges Panorama der Wiener Musikpraxis – aber sie ergänzt unser sonstiges Wissen über die Kirchenmusik, wie es z.B. aus Archivalien erschlossen werden kann (vgl. » E. Musik im Gottesdienst) durch wertvolle, manchmal überraschende Aspekte. Vor allem erlauben uns diese Quellen, der damals gehörten Musik selbst etwas näher zu kommen und ihre Bedeutung in der Praxis zu erfragen.

[1] Der Katalog musikalisch-liturgischer Quellen in der Datenbank Klugseder/Rausch 2012 http://www.cantusplanus.at/de-at/austriaca/HssAustria/index.php (Zugang 5. 8. 2017) nennt unter der Provenienz „Wien“ etwa 30 Handschriften geistlichen Inhalts aus dem 14.-15. Jahrhundert; von diesen sind die Mehrzahl Missalien oder Breviere, ohne nennenswerte musikalische Notation.

[2] Die in » E. Musikbücher der Universität erwähnten Signaturen beziehen sich z. T. auf Handschriften, die Musiktheorie oder andere verbale Hinweise auf Musik enthalten, oder deren Verbindung zu Wien derzeit nicht festgelegt werden kann. Zu anderen Wiener Musikhandschriften und -fragmenten des 15. Jahrhunderts vgl. » C. Ars antiqua und Ars nova» C. Medien mehrstimmiger Vokalmusik» E. Musiker an der Universität» F. Europäische Musik im Raum Österreich» K. Musikalische Quellenporträts.