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Eine studentische Neidhartsammlung aus Wien

Marc Lewon

Parallel zu den im 15. Jahrhundert immer beliebteren Neidhartspielen wurde auch das Liedrepertoire weiter gepflegt. Bedeutendstes Zentrum dieser Pflege blieb Wien und die Lieder wurden dort offenbar nicht nur von Adel und Bürgertum geschätzt, sondern auch in universitären Kreisen verbreitet, wie die Liedersammlung des Liebhard Egkenvelder (A-Wn S.n. 3344) belegt.[23] Egkenvelder stammte aus dem bayerischen Eggenfelden, studierte in Wien und erhielt dort am 3. Januar 1429 den Grad eines Baccalaureus. Anschließend, in den Jahren zwischen 1431 und 1435, war er im 50 km östlich von Wien gelegenen Hainburg als Schulmeister tätig. Er fertigte unter anderem die Abschrift einer Sammlung von Liedern für die Familie des Jörg Rukkendorfer an, die er vermutlich während seiner Wiener Studienjahre zusammengestellt hatte. Sie ist heute unter dem Namen „Egkenvelder-Liedersammlung“ bekannt und nur in dieser Reinschrift erhalten. In ihrem Grundstock enthält sie 30 Liedtexte, von denen 20 mit musikalischer Notation versehen sind. Die übrigen wurden für Melodien eingerichtet, die Noten aber nicht eingetragen. Alle Lieder sind einstimmig, größtenteils in Choralnotation geschrieben und stammen aus höfischen Repertoires der vorangegangen zwei Jahrhunderte mit einem Schwerpunkt auf dem Spruchsang (» Vom Spruchsang zum Zeitungslied). Es befinden sich darunter auch elf Neidhartlieder, neun davon mit Melodie (» Abb. Inhalt der Egkenvelder-Liedersammlung). Diese stehen größtenteils als Block beieinander, wurden von einer zweiten Notationshand mit mensuralen Notenzeichen niedergeschrieben und zum Teil mit einem musikalischen Rhythmus versehen.

Die Neidharte in der Egkenvelder-Liedersammlung sind Teil einer lebendigen Aufführungspraxis in Wien, wie die direkten Bezüge zur Stadt und Region in mehr als der Hälfte ihrer Liedtexte bezeugen: Explizit wird dabei Österreich als Land und als Herzogtum („Herzog von Österreich“) genannt sowie die Stadt Wien und Orte in ihrer näheren Umgebung, wie Zeiselmauer, Leobendorf, das Marchfeld und Tulln. Von besonderem Interesse für den vorliegenden Gegenstand sind aber noch spezifischere Angaben innerhalb von Wien, wie „Burg“, „Brücke“ und „Bürgerhaus“. Es bleibt unklar, welches Haus oder ob überhaupt ein bestimmtes Haus damit gemeint war, es kommen aber zwei ganz spezifische in Betracht: das Neidhart-Haus, das sich auf die heutige Parzelle Petersplatz 11 lokalisieren lässt[24] und möglicherweise Neidhart Fuchs gehörte, sowie das Haus Tuchlauben 19, in dem bis heute die sogenannten Neidhart-Fresken (» Abb. Dörperkampf der Tuchlaubenfresken, » Abb. Dörpertanz der Tuchlaubenfresken) zumindest fragmentarisch erhalten sind. Um 1407 entstanden, schmückten die Neidhart-Fresken den Tanz- oder Festsaal des Tuchhändlers Michel Menschein. Im „Mönchs-“ oder „Kuttenschwank“ der Egkenvelder-Liedersammlung (» Abb. Inhalt der Egkenvelder-Liedersammlung: Egk 30 = w11) wird außerdem ein „neu gestiftetes Bürgerhaus“ mit einem markanten Ofen in Strophe 30 als Aufführungsort genannt:

„Ich wais ein newes purgerhaus gestiphet,
darzu ein swarczer ofen mit weis bestrichen
darinne solt ir singen unde sagen.“

Vielleicht ist diese selbstreferentielle Textstelle bereits eine Reaktion auf eine bestehende Aufführungstradition in Wien. In jedem Fall gibt es zahlreiche Bezüge zwischen den in Wien erhaltenen Bildzeugnissen zur Neidhart-Tradition und den Neidharten der Egkenvelder-Liedersammlung. So findet sich in einer Handschrift der Universität von ca. 1370 (A-Wn Cod. 5458, fol. 226r) die Tuschezeichnung eines Reihentanzes mit vier Personen (» Abb. Neidhartsche Figuren im Dörpertanz der Wiener Tuschezeichnung), die stark an eine Abbildung des Dörpertanzes in den späteren Tuchlaubenfresken (um 1407; » Abb. Dörpertanz der Tuchlaubenfresken) erinnert. Beide Bildzeugnisse zeigen Figuren der Neidhart-Tradition, die auch in Liedern der Egkenvelder-Liedersammlung erwähnt sind.

Die Tuschezeichnung zeigt drei Männer und eine Frau. Der als Engelmar bezeichnete Anführer des Tanzes (ganz rechts) hält einen liliengekrönten Persevantenstab, der zugleich mit seiner Blumenverzierung auf den Veilchenschwank hinweisen könnte. Er hat außerdem links ein Holzbein, das in einem Löffel steht: ein Hinweis auf den Fassschwank. Die beiden anderen männlichen Dörper, Gunprecht und Snabelrúsh (was soviel heißt wie „Schwätzer“) – diese beiden Dörpernamen sind im Neidhartœuvre selten –, sind ebenfalls bekanntes Personal aus einigen wenigen Liedern, die sich u. a. in der Egkenvelder-Liedersammlung sogar mit musikalischer Notation finden. Die Abbildung des Dörpertanzes in den etwas späteren Tuchlaubenfresken zeigt rechts den Tanzführer, der – wie Engelmar in der Wiener Tuschezeichnung – einen mit einer Lilie gekrönten Persevantenstab in der Hand hält. Die Gruppe der Tänzer besteht aus Männern und Frauen, wobei mindestens einer der Dörper sichtbar einen Dolch trägt. Ganz links ist ein Schalmeispieler – ein „Pfeifer“ – zu erkennen, eine Besetzung, die mit den Regieanweisungen für die Tanzmusik in den Neidhartspielen übereinstimmt.

 

Abb. Dörpertanz der Tuchlaubenfresken

Abb. Dörpertanz der Tuchlaubenfresken

Ausmalung des Tanz- oder Festsaals des Tuchhändlers Michel Menschein (um 1407) im Haus Tuchlauben 19 in Wien mit den sogenannten Neidhart-Fresken, die größtenteils nur fragmentarisch erhalten sind. Die Fresken zeigen zahlreiche, teils generische, teils spezifische Szenen aus Neidhartliedern, -schwänken und -spielen. © Wienmuseum. Mit Genehmigung.

» Abb. Neidhart-Fresken Tuchlauben

Neben den Dörpernamen enthält die Wiener Tuschezeichnung Hinweise auf bestimmte Neidhartlieder oder -Geschichten, nämlich den sogenannten Fassschwank und den Veilchenschwank. Beide gehören zur Gattung der Schwanklieder, die erst spät, vermutlich durch Neidhart Fuchs, Eingang in die Neidhartüberlieferung gefunden haben (siehe » H. Musik und Tanz in Spielen). Die beiden Schwänke bildeten zugleich die Grundlage für die Neidhartspiele, die wegen der vielen Tanzszenen auch als „Neidharttänze“ bezeichnet wurden. Einiges spricht dafür, dass der Dörpertanz in den Tuchlauben-Fresken und in der Tuschezeichnung nicht die konkrete Illustration eines bestimmten Liedes ist, sondern eine Reaktion auf die Neidhartspiele darstellt, zu denen neben Schauspiel auch Tänze, (instrumentale) Tanzmusik und gesungene Lieder gehörten. Auf diese Weise könnte der mit einer Blume gekrönte Persevantenstab des Vortänzers (in der Tuschezeichnung: Engelmar) mit dem aus den Spielen und der Ikonographie bekannten Bild des Tanzes um das Veilchen (» Abb. Tanz der Herzogin, » Abb. Tanz um den Veilchenstab) zu einem einzigen Motiv verschmolzen sein – im Veilchenschwank ist nur von einem Tanz die Rede, nicht aber vom Tanz um das (erbeutete) Veilchen. Außerdem zeigt die Abbildung in Tuchlauben einen Schalmeibläser, der den Tanz begleitet – eine Inszenierung des Tanzgeschehens, die in den erhaltenen Neidhartspieltexten explizit angewiesen, aber im Lied nicht erwähnt wird: „Da hayst aber auff pfeyffen vnd die pawren heben aber an zu tantzen“ (Dann aber hieß es aufzupfeifen, und die Bauern fangen an zu tanzen).[25]

Die Wiener Tuschezeichnung erhält weitergehende Bedeutung durch den Kontext ihrer Handschrift.[26] Der Zusammenhang dieser Zeichnung mit der gegenüberliegenden Abbildung einer Unterrichtsszene innerhalb der universitären Handschrift und deren inhaltliche Nähe zur Liedersammlung des Studenten Liebhard Egkenvelder zeigen, wie eng die Neidhartüberlieferung mit den universitären und studentischen Kreisen in Wien verknüpft ist. Dass der Einband dieser Handschrift obendrein noch musikalische Notizen einstimmiger weltlicher Lieder enthält, verstärkt die Verbindung zusätzlich.[27]

Die Dörperfiguren Gunprecht und Snabelrúsh treten in gleich drei der Lieder bei Egkenvelder auf, darunter in Der sunnen glanst (» Abb. Inhalt der Egkenvelder-Liedersammlung: Egh 15 = w6)[28], wo neben Snabelrúsh auch Friederun, Engelmar, der Spiegelraub, ein Bauerntanz, ein Dörperkampf und ein „Vogt von Österreich“ vorkommen – das volle Programm also (» Abb. Der sunnen glanst, Egkenvelder-Liedersammlung; » Hörbsp. ♫ Der sunnen glanst).

[23] Eine eingehende Studie zur Egkenvelder-Liedersammlung findet sich bei Lewon 2014. Vgl. auch Schusser 1986, 127-128 (Ingmar Rainer); Knapp 2004, 345-350.

[24] Perger 2000, 112. Die Erstnennung dieses Hauses fällt in das Jahr 1370.

[25] Das große Neidhartspiel (Margetts 1982), Vs. 924f. Vgl. » H. Musik und Tanz in Spielen.

[26] Siehe https://musikleben.wordpress.com/2013/07/22/neidhart-in-vienna.

[27] Siehe https://musikleben.wordpress.com/2013/07/07/a-wn-cod-5458-musical-scribbles-from-vienna-university/.

[28] » A-Wn Cod. S.n. 3344, fol. 107r–v.