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Vom Minnesänger zum Bauernfeind

Marc Lewon

Viel bedeutender als Neidharts möglicher Lebensweg waren für sein Nachwirken die Inhalte und die Motive seiner Lieder, das dort auftretende Personal und sicherlich nicht zuletzt deren Melodien. Möglicherweise war auch sein Vortrag so begeisternd, dass er das daran gebundene Œuvre werbewirksam unterstützte. Jedenfalls muss Neidhart schon zu Lebzeiten weithin bekannt gewesen sein, wie ein Zitat bei seinem Dichterkollegen Wolfram von Eschenbach[6] und eine Kontrafaktur über eines seiner Lieder im Codex Buranus (um 1230)[7] bezeugen.

Mehrere andere Sänger griffen Neidharts Vorbild auf, sangen vermutlich auch seine Lieder weiter, aktualisierten sie und fügten eigene in ähnlichem Stil hinzu, sodass bereits in frühen Überlieferungen nicht immer sauber zwischen „Original“ und „Neidhartiana“ getrennt werden kann. Unter die Lieder des Basler Sängers Göli (2. Hälfte 13. Jahrhundert)[8] beispielweise mischte sich im Codex Manesse (» D-HEu cpg 848) allerlei Neidhartsches (siehe z. B. » Abb. Die Neidhartminiatur im Codex Manesse), und einzelne Strophen sowie ganze Lieder finden sich bisweilen unter die Œuvres anderer Minnesänger sortiert.[9] Daher wird die seit Moritz Haupt[10] bis ins späte 20. Jahrhundert übliche Trennung des unter dem Namen „Neidhart“ überlieferten Œuvres in „echte“ und „unechte“ Lieder mittlerweile generell vermieden.

Für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts gibt es Hinweise auf einen ritterlichen „Neidhart Fuchs“ am Wiener Hof,[11] der das Erbe des Minnesängers weitergetragen und für eine wahre Flut neuer „Neidharte“ gesorgt haben soll. Dieser Annahme zufolge war für die späte Blüte des Œuvres v. a. dieser Nachfolger verantwortlich, durch den das Repertoire auf vielfältige Weise seinen Weg ins spätmittelalterliche Musikleben des österreichischen Raums fand und sich heute an zahlreichen Parametern ablesen lässt: Dazu gehört an erster Stelle die Überlieferungswelle im 15. Jahrhundert, die eine Reihe von Melodiequellen einschließt und bis weit in die Zeit des Buchdrucks hineinragte (der letzte „Neidhart Fuchs“-Druck erschien 1566 in Frankfurt am Main [» Abb. Dörperkampf im letzten Neidhart Fuchs-Druck]). Ferner äußert sich die Beliebtheit des Stoffes im Spätmittelalter in der Ausschmückung adeliger wie bürgerlicher Fest- und Tanzsäle  mit Motiven aus Neidhartliedern.[12] Neidhartspiele, die wohl im 14. Jahrhundert aus Keimzellen seiner Schwanklieder entstanden, fanden weite Verbreitung und die Geschichten von und um „Neidhart“ waren selbst Kaiser Maximilian I. noch ein Begriff.[13]

Die Neidhartspiele gehören zu den frühesten erhaltenen weltlichen Schauspielen des Mittelalters und sind in mehreren Spieltexten aus dem 14. und 15. Jahrhundert aus dem süddeutschen und Tiroler Raum überliefert (» H. Musik und Tanz in Spielen, » H. Sterzinger Spielarchiv). Sie bestehen aus szenischen Darstellungen der Handlungen von Neidhart-Schwankliedern, darunter an erster Stelle und als früheste Keimzelle der Veilchenschwank (» Hörbsp. ♫ Vyol – Urlaub hab der wintter). Die Geschichte des Veilchenschwanks ist in mehreren, leicht unterschiedlichen Liedfassungen erhalten, davon zweimal mit Melodie.[14] Darin geht es darum, dass wer im Frühling das erste Veilchen findet, damit den Sommer entdeckt und das Wohlwollen der Herzogin von Bayern oder je nach Quelle auch der von Österreich (gemeint ist vermutlich Elisabeth von Bayern, Gattin Herzog Ottos von Österreich) erlangt. Neidhart, als Protagonist des Liedes, zieht aus, entdeckt das erste Veilchen und stülpt seinen Hut darüber, um es als seinen Fund zu kennzeichnen. Zwei Bauern beobachten ihn dabei, heben den Hut, pflücken das Veilchen und setzen stattdessen einen Kothaufen darunter. Derweil ist Neidhart zum Hof geeilt, hat von seinem Fund berichtet und führt den gesamten Hofstaat mit Musikanten und Gefolge unter der Führung der Herzogin zu seinem Hut. Er bittet sie, den Hut aufzuheben, um darunter den Sommer zu finden. Sie tut wie geheißen und verflucht Neidhart für diesen vermeintlichen, üblen Streich. Der begibt sich anschließend zu den Bauern, die in den ausgeschmückteren Versionen der Geschichte, besonders der Neidhartspiele, gerade einen Tanz um das erbeutete Veilchen veranstalten und rächt sich brutal, vorzugsweise durch das Abschlagen der linken Beine. Zu den Spielen gehörten nachweislich musikalische Aufführungen, meist von Tanzmusik. Dass bei ihrer Aufführung auch Neidhartlieder erklangen ist zwar möglich, aber weder belegt noch zwingend notwendig. Dass Neidhartlieder im 15. Jahrhundert jedoch allgegenwärtig und dabei auch in Spielen präsent waren, zeigt die Verarbeitung des Aufgesangs von „May hat wuniglichen entsprossen“ (Die zerreyssen haub, c6)[15] in der Melodie von Groter klage ýs mýr not aus der Bordesholmer Marienklage.[16]

Der anfängliche Autorname „Neidhart“ war in der Zwischenzeit zu einem Markenzeichen, einem Stereotypen, einer Gattung geworden, wie die häufig anzutreffende Liedüberschrift „ain neidhart“ durch den beigefügten, unbestimmten Artikel bezeugt.[17] Gleichzeitig wurde Neidhart mit dem lyrischen Ich seiner Lieder identifiziert und konnte jetzt auch als Gast in anderen Geschichten erscheinen, z. B. als „Bauernfeind“ in Heinrich Wittenwilers Ring, einer Lehrdichtung mit schwankhaften Elementen (Verspottung der Bauern, die in einen Dorfkrieg verwickelt sind), die Anfang des 15. Jahrhunderts in Konstanz im Vor- oder Umfeld des Konzils entstand.[18] Über die Rolle des Protagonisten in den Neidhartschwänken und -spielen mutierte die Figur des „Neidhart“ im 16. Jahrhundert schließlich zum Universal-Neider, Zwietrachtstifter und letztlich zu einer Art „Hofnarr“.[19]

[6] Siehe Schweikle 1970, 80f. Zum Zeitpunkt der Erwähnung in Wolframs Willehalm (ca. 1215) wäre Neidhart dann in etwa 25 Jahre alt gewesen. Die übrigen sechs Erwähnungen seines Namens stammen sämtlich aus dem mittleren bis späten 13. Jahrhundert (Schweikle 1970, 4, 33, 38f., 88–91, 101f.), z. T. mit Hinweis auf seinen Tod.

[7] Die erste Strophe des Kreuzliedes Nu gruonet aver diu heide (CB 168a) steht im Anhang an die neumierte lateinische Kontrafaktur Anno novali mea (CB 168) über die gleiche Melodie. Mit diesem Eintrag in den Carmina Burana (» D-Mbs Clm 4660/4660a, fol. 67v–68r) liegt zugleich die früheste Melodieüberlieferung zu einem Lied Neidharts vor.

[8] Bärmann 1995.

[9] Schweikle 1990, 3, 5, 9, 30–32.

[10] Haupt 1858.

[11] Zu Neidhart Fuchs siehe Perger 2000. Die Angabe, dass sein eigentlicher Vorname „Otto“ war, ist erst in Quellen ab dem mittleren 16. Jahrhundert enthalten und vermutlich eine spätere Hinzudichtung (Perger 2000, 118). Die Existenz dieses Neidhart Fuchs wird von Fritz Peter Knapp sehr in Frage gestellt (Knapp 1999, 470f.; Knapp 2004, 337–351).

[12] Zu den erhaltenen Bildzeugnissen der Neidhartrezeption, siehe Blaschitz 2000. John Margetts schreibt: „Weitere Beweise der Verwendung dieses Stoffes für Wandmalereien in Privathäusern finden sich dann in zwei Predigten vom Ende des 15. Jahrhunderts. […] Gottschalk Hollen (gest. 1481) aus Osnabrück, Prediger an der dortigen Augustinerkirche, spricht von der Verzierung von Häusern und Kirchen durch die Abbildung der Taten von Heiligen, wogegen die Taten der Narren oft in Häusern dargestellt sind: sed nunc pinguntur gesta fatuorum: chorea nithardi in thalamis [„Aber nun malen sie Taten von Narren: Neidharttänze in Schlafzimmern“], Nicolaus Russ aus Rostock redet von der Vorliebe der Bürger für Bilder mit weltlicher Thematik: in de stede des lidendes christi malen se den strid van troye unde in de stede der apostele malen se nyterdes dantz effte (or) andere nakede untuchtige wivesbilde unde meerwunder mit bloten brüsten [„Anstelle des leidenden Christus malen sie den Kampf um Troja und anstelle der Apostel malen sie Neidharttanz-Torheiten oder andere nackte, unzüchtige Frauen oder Meerjungfrauen mit bloßen Brüsten.“]. Simon führt aus, daß der Inhalt der chorea nithardi bzw. des nyterdes dantz sehr wahrscheinlich aus einer Darstellung des Veilchenschwankes besteht.“ (Margetts 1982, 270f.).

[13] Ersichtlich aus einem Brief Maximilians I. vom 8. März 1495, in dem er die Niederschlagung eines Bauernaufstandes zynisch mit einem „Neidhart-Tanz“ vergleicht – ein Begriff, der zur Bezeichnung der „Neidhartspiele“ verwendet wurde. (Der Brief ist erstmals abgedruckt bei Kraus 1875, 101–103 [die betreffende Textstelle auf S. 103] und dann noch einmal bei Simon 2003, 392, Nr. 154). Alle bekannten Spieltexte zu Neidhartspielen stammen aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Aufführungen lassen sich aber noch bis ins 16. Jahrhundert nachweisen, siehe Margetts 1982, 272f.; Simon 1969Simon 1977. Der letzte Nachweis für eine Aufführung betrifft das Neidhartspiel von Hans Sachs im Jahr 1557 (Harant 2000, 219).

[14] Einmal in der Sterzinger Miszellaneen-Handschrift als Lied s4 (» I-VIP o. Sign., südbairisch [Tirol/ Brixen?], 1. Viertel 15. Jahrhundert, fol. 47v–48r) und einmal in der Riedschen Neidhart-Handschrift als Lied c17 (» D-B Ms. germ. Fol. 779, Nürnberg, ca. 1460, fol. 148v–149v).

[15] » D-B Ms. germ. 779, fol. 136r–v.

[16] Bordesholmer Marienklage in » D-KIu Cod. ms. Bord. 53/3 (Johannes Reborch, Bordesholm, Niederschrift beendet 23.12.1476), fol. 13v–14r. Zur Identifikation, siehe Abert 1948, 96f.

[17] Margetts 1982, 262.

[18] Einzige Quelle ist » D-Mbs Cgm 9300 (Heinrich Wittenwiler, Konstanz, ca. 1408/10). Vgl. Heinrich Wittenwiler, Der Ring, Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg. von Horst Brunner, Stuttgart: Reclam, 1991.

[19] Siehe dazu v. a. Jöst 2000, bes. 202–207. Die Entwicklung vom Minnesänger zur Neidhartlegende brachte Richard Moriz Meyer auf den Punkt: „zuerst erzählt man als N(eidhart), dann erzählt man wie N., endlich erzählt man von N.“ (Meyer 1887, 66).