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Der „originale“ Neidhart

Marc Lewon

Der Name „Neidhart“ wird bis in die Gegenwart mit keinem Ort so eng assoziiert wie mit der Stadt Wien. Motive, die mit seinem Namen verbunden sind, finden sich dort immer noch an und in Bauwerken, darunter das Neidhart-Grab am Stephansdom und die Neidhart-Fresken im Haus Tuchlauben 19 (» Abb. Dörperkampf der Tuchlaubenfresken, » Abb. Dörpertanz der Tuchlaubenfresken). Dass beides jedoch erst aus dem 14. Jahrhundert datiert, während der Minnesänger dieses Namens, auf den die Zeugnisse zurückgehen, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts tätig war, zeigt schon, dass das Phänomen „Neidhart“ langlebiger war als die Person „Neidhart“.[1]

Zwar war „Neidhart“ im ganzen deutschsprachigen Raum bekannt und beliebt, wie die Überlieferung seiner Lieder vom niederdeutschen Raum über Wien und Basel bis nach Südtirol sowie die Abbildungen von Neidhart-Motiven zwischen Meißen, Zürich und Wien zeigen. Eine lebendige Neidhart-Praxis, wie sie von den Melodiehandschriften und den Belegen für Neidhartspiele angedeutet wird,[2] scheint sich dabei aber auf den süddeutschen und v. a. österreichischen Raum konzentriert zu haben, in dem der eigentliche Urheber und seine wichtigsten Nachahmer tätig waren – mit Schwerpunkten in Nürnberg, Vorderösterreich, Tirol und Wien.

Die Lebensdaten des „originalen“ Dichter-Sängers Neidhart lassen sich nur durch Hinweise aus seinen eigenen Liedern und durch die Erwähnung seines Namens in Werken von Zeitgenossen[3] grob auf ca. 1190 bis ca. 1240 eingrenzen.[4] Nennungen Neidharts in historischen nicht-literarischen Zeugnissen sind bisher nicht bekannt. Das ist für einen höfischen Sänger des 13. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich. Selbst der berühmte Walther von der Vogelweide wird nach heutigem Wissenstand nur einmal im nicht-literarischen Kontext erwähnt: in einem Rechnungsbuch des Bischofs Wolfger von Erla im Jahre 1203. Im Laufe seines Lebens muss Neidhart, der ursprünglich aus dem bayerischen Raum stammte, in den österreichischen übergesiedelt sein und in der Region um Wien eine neue Wirkungsstätte gefunden haben. Die Erwähnung von regionalen Flurnamen und weitere Anspielungen in seinen späten Liedern lassen vermuten, dass er zunächst am Wiener Hof eine Anstellung fand und schließlich vom Babenberger Herzog Friedrich II. (der Streitbare, 1211–1246) ein Lehen erhielt. Freilich sind biographische Rückschlüsse aus Liedern, die ihrer Natur gemäß einen hohen Grad an Stilisierung enthalten und als literarisches Spiel sogar reine Fiktion sein können, äußerst problematisch. Dennoch wurde für Neidhart der ernsthafte und ambitionierte Versuch einer Biographie anhand seiner Lieder unternommen.[5] Wenn das Verhältnis von Selbsterlebtem zu literarischer Verarbeitung am (zwar viel späteren) Beispiel Oswalds von Wolkenstein (» B. Oswalds Lieder, » G. Oswald von Wolkenstein) als exemplarisch gelten kann, dann lassen sich aus Neidharts Liedern tatsächlich zahlreiche Rückschlüsse auf sein Leben ziehen. Ein Großteil der Schlussfolgerungen muss jedoch als spekulativ eingestuft werden, weil man die aus den Liedtexten gezogenen Daten nicht mit archivalischen Belegen abgleichen kann, und selbst wenn man annimmt, dass Neidhart laufend autobiographische Details in seine Lieder einfließen ließ, bleiben große Unwägbarkeiten bestehen, weil seine Lieder nicht in autornahen Quellen, sondern erst in viel später entstandenen Handschriften erhalten sind. Der Grad von Veränderung, Anpassung und Umformung der Liedtexte über den langen Zeitraum von ihrer Entstehung bis zu ihrer Niederschrift, die vielen möglichen Abwandlungen und der Anteil mündlicher Überlieferungsstufen auf ihrem Weg dorthin sind kaum nachvollziehbar und schwer einzuschätzen – besonders wenn man dabei in Betracht zieht, dass sein Werk fortgeführt und durch Nachahmer am Leben gehalten wurde, sich verselbständigte und im 15. Jahrhundert vielleicht sogar breiteren Schichten bekannt war als noch zu Lebzeiten des ersten Sängers dieses Namens (vgl. auch » B. Traditionsbildungen des Liedes).

[1] Ein einleitender Überblick zu Neidhart, zur Überlieferung seiner Lieder, deren Formen, Inhalte und Nachwirkungen sowie eine vorwiegend germanistische Bibliographie, finden sich bei Schweikle 1990. Die Aussagen zur Melodienüberlieferung, zu Musik und Performanz sind dort jedoch sehr knapp. Die Vielzahl von Text- und Melodienausgaben des 19. und 20. Jahrhunderts fand mit der Salzburger Neidhart-Edition (Müller/Bennewitz/Spechtler 2007) einen vorläufigen krönenden Abschluss. Diese neue Ausgabe aller Neidhartlieder gibt den Wortlaut der verschiedenen Quellen inklusive der Melodien in parallelem Abdruck wieder. 2017 erschien ein neuer Studienband zu Neidhart, der zukünftig als Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit dem Dichter-Sänger dienen wird und auch der Melodienüberlieferung einen größeren Platz einräumt (Springeth/Spechtler 2017).

[2] Zur Melodieüberlieferung siehe Lewon 2017. Belege für Aufführungen von Neidhartspielen sind gelistet bei Simon 1969 und Simon 1977. Patricia Harant zeigt die zeitliche und räumliche Streuung belegter Neidhartspiele auf: „Sie reicht von Arnhem in Holland (1395) bis Salzburg (1558) und Baden in der Schweiz (1432).“ (Harant 2000, S. 220).

[3] Zu zeitgenössischen Erwähnungen von Dichtern in der Literatur des Mittelalters siehe Schweikle 1970.

[4] Ältere Datierungen geben meist einen Rahmen zwischen ca. 1180–ca. 1240 an. Aufgrund der Altersbestimmung seiner vermuteten Skelettreste aus dem Neidhartgrab am Stephansdom auf 45–55 Jahre sollte man die Geburt aber ca. zehn Jahre später – gegen 1190 – ansetzen (siehe dazu Großschmidt 2000).

[5] Bleck 1998. Die detektivische Finesse dieser Arbeit beeindruckt. Zugleich aber gemahnen die scheinbare Genauigkeit der erschlossenen biographischen Details und deren gegenseitige Abhängigkeit voneinander zur Vorsicht. Sollten sich einzelne Fakten als unhaltbar erweisen, würden große Teile dieses Kartenhauses in sich zusammenfallen. Ein plausibler Kern an Aussagen ist zu finden bei Schweikle 1990, 57–63.