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Vom „Dörper“ zum „Gebauren“

Marc Lewon

Neidharts bekanntestes Erfolgsrezept war die Einführung antihöfischer Gegenspieler in den Minnesang: seine „Dörper“. Mit diesem niederdeutschen Begriff für „Dorfbewohner“ – einem Fremdwort in Neidharts oberdeutscher Sprache – sorgte er dafür, dass seine Lieder trotz scheinbar oberflächlich burlesker Handlungen tief geschichtet waren und von Kennern wohl auch so verstanden wurden. Die Dörper waren bei ihm demnach nicht einfach nur Bauern. Hinter der Chiffre verbarg sich vielmehr der Inbegriff unhöfischer Verhaltensweisen, die man, wenn man Neidharts Szenerien unter Beibehaltung des Personals an den Hof versetzt hätte, dort durchaus hätte wiedererkennen können. Somit hielt Neidharts ursprünglicher Sang der höfischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Diese immanente Sozialkritik wich im Laufe der Rezeptionsgeschichte der schlichten und unvereinbaren Gegenüberstellung von Adel und Bauernstand und führte in den späten Neidhartliedern und -schwänken zur Vergröberung des „Dörpers“ zum „Gebauren“. Solche grobianischen Bauerngestalten trafen den Nerv des Spätmittelalters. Einzelne vom originalen Neidhart bereits angelegte Motive wurden breit ausgebaut und entwickelten sich zu den Hauptthemen der Lieder und Geschichten: Dazu gehörten z. B. Dörper- oder Bauernversammlungen, dörfliche Tanzveranstaltungen, blutige Dörperkämpfe, Streitgespräche, Mutter-Tochter-Dialoge und der sogenannte „Spiegelraub“.[20] Besonders beliebt war die Schilderung vom Tanz der Bauern, bei dem unzählige, halberfundene Bauernnamen in ganzen Katalogen aufgelistet wurden, darunter federführend „Engelmar“ als Erzfeind des Protagonisten „Neidhart“.

Die offen bauernfeindliche Rhetorik gerade in den späten Überlieferungen hatte aber nicht nur Freunde und Anhänger bei Adel und Bürgertum; sie traf auch den Nerv der dadurch Geschmähten und barg somit gesellschaftlichen Zündstoff.

„In seinem vor 1452 entstandenen ,Tractatus de quinque sensibus‘ warnte Thomas Ebendorfer (1387–1464), Wiener Gelehrter und Diplomat, der an der Wiener Universität Theologie las, vor Liedern, die den Zorn der Zuhörer erregen könnten vel ad irritandum ut Neithart (oder zum Erzürnen wie bei Neidhart). Es sind vor allem Bauern, die diese Lieder sehr verärgern, sicut patet in cantilenis Neidhart ad quas rustici passionantur et irridentur (wie es in den Neidhart-Liedern der Fall ist, in denen Bauern zu Opfern gemacht und verlacht werden). Diese Bemerkungen beziehen sich zwar auf die Lieder und nicht auf die Spiele, aber der Stoff ist in beiden Gattungen im Großen und Ganzen derselbe und weist wohl in der handschriftlichen Tradition denselben Namen und dieselben Züge auf.“[21]

Diese Aussagen bestätigen und unterstreichen die Tatsache, dass es sich bei den Neidharten ursprünglich um höfische Unterhaltungsmusik handelte, die im Laufe der Jahrhunderte auch von einem aufstrebenden Bürgertum assimiliert wurde, und nicht um Lieder der niederen Stände oder gar der Bauern selbst, wie gerade in der Neidhartrezeption des 20. Jahrhunderts gelegentlich und missverständlich angenommen wurde.[22]

[20] Engelmar habe der Maid Friederun einen Spiegel geraubt, gemäß späteren Zitaten auch zerbrochen – wobei die Bedeutung dieses Spiegels und des Raubes stets bewusst mehrdeutig bleibt.

[21] Margetts 1982, 267f.

[22] Eine Beobachtung von Felix Diergarten zu den kleineren „madrigalischen“ Gattungen des 16. Jahrhunderts kann fast identisch auf die Neidharte des 13.–15. Jahrhunderts und deren Verhältnis zum höfischen Minnesang übertragen werden: „Fern davon, tatsächliche ‚Volksmusik‘ zu sein, hatten diese leichten Gattungen in einer immer verfeinerten Kultur des literarisch hochstehenden Madrigals und in einem Umfeld der höfischen Selbststilisierung, deren Teil sie selbst sind, wohl eine Art Ventilfunktion […]. Sie stellten der verfeinerten Welt des Madrigals eine (auf ihre Art nicht weniger stilisierte) Nähe zur Sprache und Lebenswelt der ‚Unterschichten‘ entgegen, die teilweise regelrecht als Parodie der hohen Welt des Madrigals erscheinen konnte und etwa auch den Gebrauch von Quintparallelen und anderen Satzfehlern beinhaltete.“ (Diergarten 2014, 172)