Sie sind hier

Der „Referenzrhythmus“ bei Neidhart

Marc Lewon

Eine weitere Besonderheit von Do man den gumpel gampel sank ist der in der Aufzeichnung der Egkenvelder-Liedersammlung notierte Rhythmus: Ein regelmäßiger Wechsel zwischen relativer Länge und Kürze (hier: Semibrevis und Minima). Dieser ergibt bei syllabischer Vertonung eines alternierenden Textmetrums einen sehr typischen Vortragsrhythmus, der besonders häufig in deutschsprachiger Einstimmigkeit des Spätmittelalters anzutreffen ist.

In der Sekundärliteratur wurde der alternierende Rhythmus „lang-kurz“ meist als „tänzerischer Dreier“ beschrieben und als ein Beleg für den Tanzcharakter von Neidharts Liedern herangezogen. Sein Aufscheinen gerade in Liedern, die inhaltlich nur wenig oder nichts mit Tanz zu tun haben, dafür aber einen besonders erzählerischen Charakter aufweisen, widerspricht dieser These. Der notierte Rhythmus ist in diesen Fällen prinzipiell als Nachschrift eines Vortragsprinzips zu verstehen und nicht als genau zu befolgende Vorschrift für die Aufführung, weshalb die entsprechenden Notate auch nicht im Detail präzise, sondern oft nur semimensural sind.

Dieser Rhythmus eignet sich besonders für erzählende Lieder und stellt dabei einen vorantreibenden Puls für die Interpretation zur Verfügung, ohne die Feinstruktur des Vortrags zu beherrschen. Gelegentlich ist er auch als Tanzzitat geeignet, um den Textinhalt zu illustrieren. Aufgrund dieser flexiblen Eigenschaften habe ich dafür den Begriff des „Referenzrhythmus“ eingeführt.[32] In der Melodieüberlieferung zu Neidhart kommt er bei insgesamt 72 notierten Melodien nur sechsmal vor. Dennoch scheint er von diesem Genre ausgestrahlt und einen großen Einfluss auf andere Repertoires gehabt zu haben, darunter besonders auf die einstimmigen Lieder Oswalds von Wolkenstein (» B. Oswalds Lieder, » G. Oswald von Wolkenstein).[33] Dabei ist das Prinzip des „Referenzrhythmus“ nicht nur in „Dreier“-Metren, sondern auch in manchen geradtaktigen Niederschriften wirksam, wie der Vergleich der Notation von Vil lieber grüsse süsse (Kl 42) in den beiden handschriftlichen Überlieferungen der Oswald-Codices anschaulich vor Augen führt: In der Handschrift WolkA (» A-Wn Cod. 2777, Wien?, 1425, fol. 44r) ist der „Referenzrhythmus“ des Liedes im „Dreier“-Metrum notiert, in WolkB (» A-Iu o. Sign., Basel?, 1432, fol. 18r) hingegen im „Zweier“.

Dass Oswald Neidhartlieder kannte, ist unbestritten, und ein Teil seiner Lyrik ist klar von Neidharten beeinflusst. Ein prominentes Beispiel, bei dem Neidhart- und Oswaldüberlieferung ihrer Ähnlichkeit wegen im Neidhart Fuchs-Schwankbuch sogar vermischt wurden, hat Michael Shields aufgeschlüsselt: Ir alten weib, nu freut eu mit den jungen! (Kl 21).[34] Was auf textlicher Ebene lange schon bekannt war, lässt sich auch auf die rhythmische und musikalische Ebene ausweiten: Der „Referenzrhythmus“ prägt die Einstimmigkeit Oswalds in noch deutlicherem Maße als die späte Neidhartüberlieferung und im Fall des Liedes Ir alten weib, nu freut eu mit den jungen! könnte ein direktes Neidhartzitat bei Oswald vorliegen, in das neben dem Rhythmus auch die Melodiebildung einbezogen wurde.[35]

[32] Für eine genaue Analyse zum Verhältnis von Tanz und Rhythmus in den Liedern Neidharts inklusive einer Beschreibung des „Referenzrhythmus“, siehe Lewon 2012.

[33] Siehe dazu auch Lewon 2017.

[34] Siehe Shields 2011.

[35] Für eine eingehende Analyse dazu siehe https://mlewon.wordpress.com/2014/06/30/oswald-quoting-neidhart/.