You are here

Lesungen und Lektionseinleitungen

Reinhard Strohm

Mehrstimmige liturgische Lesungen des Offiziums und der Messe sind im zentraleuropäischen Bereich außer Kyrie und Benedicamus domino die häufigste und charakteristischste Gattung klösterlicher Mehrstimmigkeit.[37] Die Choralgrundlage, der Lektionston, ist meist vorhanden und wird klanglich ausgeschmückt, auch dreistimmig. Üblich sind hinzugesetzte Lektionseinleitungen und Tropen auf oft frei erfundene Melodien, einstimmig wie mehrstimmig. Die Lektionen der Weihnachtsmatutin stehen mit etwa 30 verschiedenen überlieferten Vertonungen an der Spitze; es kommen dazu Lektionen der Weihnachtsmesse, u.a. die Epistel Populus gentium nach Ysaias und das Evangelium Liber generationis,[38] sowie Lektionen zu Marienfesten und zur Kirchweih. Mehrstimmig ausgeführt wird vorwiegend der Lektionstext selbst, oft auch die vorhergehende Segensbitte („Iube domne benedicere“ u.a.) und nicht selten tropierende „Lektionseinleitungen“, die strophische Lieder sein können. Die Mehrstimmigkeit beschränkt sich manchmal auf die Zeilenschlüsse der Texte, was besonders an die polyphon ausgearbeiteten Kadenzen im späteren rezitierenden falsobordone*-Stil gemahnt. Die Tradition der mehrstimmigen Passionsvertonung (seit ca. 1430) geht auf die Evangeliumslektionen der Messe mit Rezitation dreier verschieden hoher Stimmen zurück.[39] Wichtigstes musikalisches Merkmal der Lesungen ist das tonrepetierende Deklamieren auf einem Rezitationston (tuba), der in der Mitte des verwendeten Tonumfangs liegt, ähnlich wie bei der liturgischen Psalmodie. Nur die melodischen Einleitungs- und Schlußwendungen wenden sich dem Rezitationston zu oder von ihm ab. Bei Mehrstimmmigkeit ist die Rezitation in einen stehenden Klang eingebettet, meist die Quint, oder bei Dreistimmigkeit Quint und Oktave. Ein einfaches Beispiel der beliebten zweiten Weihnachtslektion „Jube Domne benedicere – Consolamini“, steht in dem Prozessionar » A-Wn Cod. 1894, fol. 44v-46r: » Abb. Jube Domne – Consolamini.[40]

Nicht alle mehrstimmigen Lektionen sind „durchkomponiert“. Möglichkeiten zur Abwechslung zwischen Chor und Soli, ähnlich wie bei responsorialen Gesängen, sind auch bei liturgischen Lesungen schon im einstimmigen Choral gegeben. Oft wurde vorgeschrieben, dass sich zwei oder gar drei Lektoren im Vortrag der langen Lesungen abwechseln sollten. In mehrstimmigen Fassungen wird die vorausgehende Segensbitte („Jube domne benedicere“ usw.) manchmal einstimmig gesungen. (Ihr folgt in jedem Fall die gesprochene oder rezitierte Segenserteilung des Priesters.)

Zusätzlich haben viele Fassungen noch eine eigene Lektionseinleitung, die wie ein gereimtes Lied gebildet und einstimmig oder mehrstimmig sein konnte. Sie ist gelegentlich nach, nicht vor der eigentlichen Lesung notiert und kann als tropierender Rahmen der gesamten Aufführung gedient haben. Die einstimmige Lektionseinleitung Nascitur de virgine ist in A-Iu, Cod. 457, fol. 72v, so notiert, dass nach jeder Textzeile eine Rubrik „Chorus“ den chorischen Vortrag eines textlosen Melismas fordert, und zwar immer desselben: Hier musste der allgemeine Chor nur ein paar Noten lernen, konnte aber am Singen des Tropus teilnehmen.

Eine bestechend einfache, liedhafte Lektionseinleitung war Universi populi, das in der Handschrift Engelberg (» CH-EN Hs. 314) zusammen mit zwei anderen zweistimmigen Einleitungen separat aufgezeichnet wurde und wohl verschiedenen Lesungen zugeordnet werden konnte. Isoliert steht es auch im Musikanhang der Wiener Handschrift » A-Wn Cod. 4702, fol. 91r (» E. Kap. Kirchenlieder in Wiener Überlieferung): vgl. » Notenbsp. Universi populi, a und b.

 

 

[37] Göllner 1969 beschreibt und ediert Quellen ganz Europas seit dem 12. Jahrhundert. Im 14. und 15. Jahrhundert gibt es kaum Beispiele aus Westeuropa und Italien mehr. Vgl. auch » Kap. Verbreitung.

[38] Hierzu besonders Göllner 1969, Bd. I, S. 107-117.

[39] Diese Herleitung ist erklärt bei Göllner 1969, Bd. II, S. 127-135.

[40] Edition und Kommentar bei Göllner 1969, Bd. I, S. 48-50 und 307f. Zur Handschrift vgl. Klugseder 2014, S. 146-147, mit Farbabb. von fol. 44v auf S. 450