Gesänge zu Weihnachten im Stift Seckau
Der kirchliche Ritus und die Tradition
Der traditionelle Ritus der christlichen Gottesdienste wird heute, anders als im Mittelalter, gewöhnlich „Liturgie“ genannt. Es ist ein Sammelbegriff, der viele Tätigkeiten und Texte zusammenfasst und ihnen einen gemeinsamen Sinn zuspricht. Dieser gemeinsame Sinn ist die Verehrung Gottes durch Gebet und Opfer. Im Mittelalter unterstand jeder Gottesdienst auch dem Gebot, Glauben zu erwecken und Ungläubige zu Gott zu führen. Eine kulturanthropologische Analyse könnte untersuchen, wie der kirchliche Ritus sowohl durch seine Traditionalität als auch durch seine Veränderungen, seine „Lebendigkeit“, diesem doppelten Zweck entsprechen konnte.
Erneuerung und Entwicklung sehen im historischen Rückblick anders aus als innerhalb des zeitgenössischen Bewusstseins. Wir überblicken heute die Formen und Entwicklungsstadien mittelalterlicher Rituale besser als damalige Ausführende es konnten. Andererseits fehlt uns deren Eingebundenheit in die jeweilige lokale Praxis, die oftmals ein präzises Wissen um bestimmte rituelle Inhalte oder Zusammenhänge mit sich brachte. Der Cantor eines Klosters wusste allerdings nicht immer genau, ob z. B. ein bestimmter Gesang aus der Tradition des eigenen Ordens stammte oder aus den Büchern der zuständigen Domkirche entlehnt worden war, ob er aus weltkirchlicher oder vielleicht gar nichtkirchlicher Praxis stammte.[1] Heute versucht Choralforschung solche Zusammenhänge wieder aufzudecken, sei es durch flächendeckende Vergleiche, sei es durch Detailanalyse hinterlassener Dokumente. Auf das moderne Geschichtsbewusstsein wirkt die Kenntnis von Ursprüngen und Transfers, von Entwicklungen und Verlusten relativierend, während es damaligen Menschen eher um Legitimation und Wertung ging. Vor allem wissen wir, was aus einstmals lebendigen Riten später geworden ist, und haben ein Interesse an der archäologischen Aufdeckung des Früheren im Gegensatz zum Späteren.
Regulierung und Erneuerung
Die rituelle Praxis des Mittelalters veränderte sich in eine offene Zukunft hinein. Sie unterschied nicht nach wissenschaftlichen Kriterien zwischen alt und neu, fremd oder eigen. Sie glaubte sich einerseits noch konsistent, wo sie längst von Neuerungen durchsetzt war; sie glaubte andererseits oft etwas Andersartiges abwehren zu müssen, auch wenn es überall sonst schon praktiziert wurde. Es war ein ausgeprägtes Bewusstsein von Traditionserhaltung, das immer wieder vom Streben nach Erneuerung, Verschönerung, Fremdanleihe auf die Probe gestellt wurde. Zwar gab es Regeltexte, die den Ritus in einem normativen Sinn an der Tradition orientieren wollten: nämlich die „Ordinale“, “Liber ordinarius“ oder „Rituale“ genannten Bücher, die die Praxis im Einzelnen bestimmten;[2] im weiteren Sinn alle Aufzeichnungen der kirchlichen musikalischen Texte und Melodien. Man verließ sich ferner auf hervorragende Gedächtnisleistungen und mündliche Überlieferung, die das Gefühl der Zugehörigkeit zur eigenen institutionellen Vergangenheit stärkte. Trotzdem wurde immer wieder an der Tradition gezupft, geschneidert oder weitergesponnen. Man war dem Neuen vielleicht umso weniger abgeneigt, als man dessen spätere Weiterungen und Umdeutungen noch nicht ahnen konnte.
Neue Themen ritueller Frömmigkeit
Die Erweiterung der kirchlichen Gesangsrepertoires im 14. und 15. Jahrhundert war öfters von neuer Heiligenverehrung, neuen Frömmigkeitsformen und Reformidealen stimuliert. Zu deren sozialhistorischen Voraussetzungen gehörte auch die Pest, die seit 1347 Europa heimsuchte. Auf sie reagierten einerseits der wachsende Antisemitismus vieler Stadtbevölkerungen, andererseits die neue Frömmigkeitsbewegung des Geißlertums (in Italien der disciplinati, » B. Geistliches Lied) sowie generell die Laienfrömmigkeit (» A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche, » J. Formen der Laienfrömmigkeit), die besonders von den Bettelorden propagiert wurde.[3] Im kirchlichen Ritus wie in der Volksfrömmigkeit waren die nunmehr hervorragendsten Themen der Marienkult, die Feier von Christi Geburt, die Eucharistie-Verehrung und die Besorgnis um Krankheit und Tod. Religiöse Reformbewegungen beteiligten sich intensiv an der Erweiterung und Erneuerung geistlicher Gesangsrepertoires: Genannt seien außer den Geißlern und Bettelorden auch die Mystik, die niederländische devotio moderna (neue Devotion, seit ca. 1400), das böhmische Hussitentum (seit ca. 1410) und wiederauflebende Ideale der Jerusalempilgerschaft und des geistlichen Rittertums (» J. Formen der Laienfrömmigkeit). Neue Marienlieder wurden z. B. von den Geißlern bei ihren öffentlichen Prozessionen gesungen, wie Hugo Spechtshart bezeugt.[4] Die wachsende Verehrung der Geburt Christi und der Familie Marias (z. B. ihrer Mutter St. Anna), sowie generell das Interesse an Familie und „Privatsphäre“ der biblischen Heiligen, reflektierte wohl eine Hinwendung zu den Belangen häuslichen Lebens, die auch in der Kunst und allgemeinen Kultur des 14. Jahrhunderts feststellbar ist.
Es gab für die spätmittelalterliche Erneuerung des Ritus auch rein künstlerische Impulse. Das war schon in den vorigen Jahrhunderten nicht anders gewesen. Innerhalb der traditionellen Frömmigkeit der Kirchen und Klöster wurde mindestens ebenso viel Neues gesungen und gedichtet wie im Bereich religiöser Reformideale. Eine traditionelle Gemeinschaft wie die Schola eines Klosters stimulierte sich durch ihre Kreativität sozusagen selbst. Gerade im Poetisch-Musikalischen war es Tradition, an der Tradition erfinderisch weiterzuarbeiten.
Cantionen als Erneuerung des Ritus
Zu diesen Erfindungen gehörten auch neue geistliche Lieder, die lateinischen cantiones, die seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Zentraleuropa beliebt wurden, sowie zunehmend auch volkssprachige Kirchenlieder (» vgl. B. Das geistliche Lied). Die lateinische Cantio war ein geistliches Lied, das nicht zum offiziellen Ritus gehörte, auch wenn es aus diesem herausentwickelt war. Wie die schon jahrhundertealte Gattung des >Tropus<, eine musikalisch-textliche Erweiterung des Kirchengesanges, wurde die Cantio im 14. Jahrhundert noch an festgelegten Stellen des Gottesdienstes gesungen. Sie war jedoch in Strophenbau und Inhalt so strukturiert, dass man sie im Unterschied zu den meisten Formen des Tropus auch für sich, außerhalb des Ritus singen konnte. Letztlich unterscheiden sich Tropus und Cantio im 14. Jahrhundert nur insofern, als man ihnen diese unterscheidenden Namen gab. Die bekanntesten handschriftlichen Sammlungen von Tropen und Cantionen des 14. Jahrhunderts stammen aus Seckau, Prag, Moosburg, Aosta, Engelberg, Tirol (Neustift?) und bayrischen Klöstern. Insgesamt kennt die Forschung mindestens 120-150 solcher Stücke, von denen manche überregional verbreitet waren.[5]
Man könnte diese Welle von Neuschöpfungen als eine geradlinige Fortsetzung jener Tropen, Sequenzen, Conductus und Versus verstehen, die schon seit dem 9./10. Jahrhundert die liturgischen Repertoires angereichert hatten, unter sehr verschiedenartigen geistigen und praktischen Bedingungen. Jedoch scheint sich im frühen 14. Jahrhunderts auch ein Wandel anzubahnen. Die neuen geistlichen Lieder bereichern den überkommenen Ritus nicht nur, sondern streben auch aus ihm hinaus: Sie werden allmählich aus dem gottesdienstlichen Ritus herausgelöst und bilden eine eigene Schicht religiöser Gesangspraxis (» B.Kap. Europäische geistliche Liedrepertoires).[6] Und in dieser Hinsicht stehen die österreichischen Quellen der gesamteuropäischen Entwicklung keineswegs nach; ja es akzentuiert sich in ihnen mehr als anderswo eine Tendenz, die mit der Erneuerung der Repertoires selbst zusammenhängen muss: die Einbeziehung von Laien in die geistliche Praxis.[7]
Hier geht es zunächst um den Praxisbezug der neuen Lieder: um ihren Charakter und ihre Bedeutung für das musikalische Leben innerhalb und womöglich außerhalb der Kirche. Das sei an einigen Beispielen untersucht.
Flos de spina procreatur: ein geistliches Lied auf Maria und Christi Geburt
Notenbsp. Tropus in galli cantu / Music example Trope In galli cantu
Flos de spina procreatur: Ein geistliches Lied auf Maria und Christi Geburt. Nach A-Gu Cod. 756, fol. 179r und GB-Lbl Add. 27630. / Flos de spina procreatur: A sacred song on Mary and the Birth of Christ. From A-Gu Cod. 756, fol. 179r and GB-Lbl Add. 27630.
Incipit Cantionarius. Tropus in galli cantu
Flos de spina procreatur
eta per florem decoratur,
sic Maria fecundatur,
fecundata sublimatur,
quando parit filium.
Introitus. Dominus [dixit ad me, usw.].
Porta clausa pertransitur
neque patens invenitur,
manna vermis enutritur,b
virga florec redimitur:
rosa parit lilium.Psalmus. Quare fremuerunt [gentes, usw.].
Rore vellus irrigatur,
rubus ardens non crematur,
quando verbum incarnatur
et intactu conse[r]vatur
puellari gremiod.
Gloria patri [et filio et spiritui sancto. Amen].
Chorus matere iocundetur,
et in Christo collocetur,
concinando, concrepando,
matrem Dei venerando
leto canat animo.[8]
[Wiederholung Introitus. Dominus dixit ad me.]a Andere Hss. “que”. b Andere Hss. “emittitur”. c Ms. Seckau “florem”. d Andere Hss. “puellare gremium”. e Andere Hss. “noster”.
Hier beginnt das Gesangbuch. Tropus zur Hahnenschrei-Messe (1. Weihnachtsmesse)
Blüte wird aus Dorn geboren, der veredelt wird durch Blüte: So wird auch Maria fruchtbar, und durch ihre Frucht erhöhet, als sie ihren Sohn gebiert. / Introitus. Der Herr sprach zu mir [usw.] / Tor, verschlossen, wird durchschritten, und ist nachher doch nicht offen, Manna wird erzeugt aus Würmern, Zweig wird freigekauft durch Blüte, Rose bringt uns Lilie./ Psalm. Warum toben die Heiden [usw.]/ Tau benetzt das Vlies des Widders, der Rubin brennt unverzehrbar, als das Wort zu Fleisch geworden, und ist nun im unberührten Schoß der Jungfrau aufbewahrt. / Ehre sei dem Vater [usw.] / Freu dich, Chor der Mutter Kirche, lass in Christus dich begründen, sei’s mit Liedern, sei’s mit Rufen, Gottes Mutter fromm verehrend, singe voller Fröhlichkeit.
Die Originalhandschrift verwendet linienlose Neumen, die nicht die genaue Tonhöhe angeben. Diese Übertragung der Anfangsteile von Flos de spina procreatur rekonstruiert die vermutlichen Tonhöhen und den implizierten Rhythmus der einstimmigen Seckauer Fassung unter Berücksichtigung der Konkordanzquellen.[9] Eine non-mensurale zweistimmige Fassung steht in GB-Lbl Add. 27630. [10]
Form und Funktion von Flos de spina procreatur
Der Introitus-Tropus für Weihnachten, Flos de spina procreatur (» Notenbsp. Tropus in galli cantu) steht am Anfang einer handschriftlichen Sammlung von 130 lateinischen Gesängen, die im Augustiner-Chorherrenstift Seckau (Steiermark) im Jahre 1345 fertiggestellt wurde (» A-Gu Cod. 756), heute Universitätsbibliothek Graz, Cod. 756.[11] Dieser “Seckauer Cantionarius” bildet den zweiten Teil einer Handschrift, in deren erstem Teil ein Liber ordinarius (d. h. ein Verzeichnis der obligatorischen gottesdienstlichen Texte und Riten) enthalten ist. Die Neumennotationen des Liber ordinarius und des Cantionarius stammen laut Inga Behrendt von demselben Schreiber.[12]
Die geistliche Liedersammlung beginnt mit Flos de spina procreatur auf fol. 179r (» Abb. Seckauer Cantionarius) und ist hier als „[Liber] cantionarius“, d. h. „Gesangbuch“, bezeichnet.
Abb. Seckauer Cantionarius / Fig. Cantionarius of Seckau
Graz, Universitätsbibliothek A-Gu, Cod. 756: Liber ordinarius und Cantionarius (= Sammlung von Gesängen) aus dem Augustiner-Chorherrenstift Seckau, datiert 1345. Beginn des Cantionarius, fol. 179r. / Graz, University Library A-Gu, Cod. 756: Liber ordinarius and Cantionarius (Collection of songs) from the Abbey of Augustinian Canons at Seckau, dated 1345. Beginning of the Cantionarius, fol. 179r.Mit dem Inhalt des Liber ordinarius gibt es bezeichnenderweise wenig Überschneidungen, obwohl auch dort zahlreiche Melodien mit Neumen angegeben sind. Eine Ordnung der Gesänge nach dem Kirchenjahr ist im Cantionarius nur angedeutet, z. B. indem die Sammlung mit Weihnachten beginnt.[13] Alle diese Gesänge sind ad libitum gedacht, können also im Gottesdienst weggelassen werden, auch wenn sie an obligatorische Gesänge („Trägertexte“) und damit an bestimmte gottesdienstliche Momente gebunden sind. Die meisten fungieren als Tropen und sind in der Handschrift auch so betitelt. Flos de spina (im Ordinarius nicht erwähnt) gehört zu der Introitus-Antiphon Dominus dixit ad me der ersten Weihnachtsmesse mit ihrem Vers Quare fremuerunt und der Doxologie Gloria patri. Diese drei Teile des regulären Introitus sind zwischen die vier Strophen des Tropus eingeschoben, worauf ihre abgekürzten Textanfänge verweisen (»Abb. Seckauer Cantionarius); am Schluss wird die Introitus-Antiphon wiederholt. Eine solche Form ist als „Ver-cantionierung eines liturgischen Textes“ charakterisiert worden.[14] Wenn ein neues Lied in dieser Weise den traditionellen Gesang wie ein reiches Ornament umgab, hörte man Tradition und Erneuerung zugleich. Es war eine Akzentuierung des festlichen Geschehens.
Ein Vorbild zu Flos de spina procreatur
Der Text von Flos de spina procreatur erscheint aus einem Conductus des so genannten >Notre-Dame< Repertoires abgeleitet, der sich in Quellen des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts findet:[15]
Flos de spina procreatur
et flos flore fecundatur
misso rore celitus.
Rorant celi, nubes pluunt,
stillant montes, colles fluunt,
unda patet veritas.
(4 weitere Strophen)Blüte wird aus Dorn geboren,
und von Blüte selbst befruchtet,
als der Tau vom Himmel kommt.
Himmelstau und Wolkenregen,
Bergesquell und Hügelbäche:
Wahrheit zeigt sich in der Flut.
Es handelt sich um ein gelehrtes Gedicht aus der Hochburg der Sequenzendichtung des 12.-13. Jahrhunderts: Paris. Das Metrum und Strophenschema (trochäisch, straff alternierend betont, Dreizeiler, gereimt „aab“) und der literarisch-rhetorische Stil erinnern an die Fronleichnamssequenz Lauda Sion salvatorem (um 1264) des Thomas von Aquin, die in aller Ohren war.[16] Der Seckauer Tropus ist eine ebenfalls gelehrte, motivreiche Bearbeitung desselben theologischen Themas, der Widerspiegelungen der Inkarnation in Natur und Heiliger Schrift. Das konventionelle dreizeilige Strophenschema ist auf fünf Zeilen erweitert, eine originelle Form. Allerdings versäumt der Dichter des Seckauer Tropus nicht, in der letzten Strophe die Gemeinschaft („chorus“) zum Frohlocken aufzufordern, was die rein narrative Dichtung des Conductus nicht tut.
Der neue Tropus Flos de spina procreatur in Seckau
Der neue Tropus Flos de spina procreatur ist aus dem Augustiner-Chorherrenstift Seckau gleich dreimal überliefert: in der 1320 datierten Handschrift » A-Gu Cod. 469, in dem um 1339 geschriebenen Missale » A-Gu Cod. 456 und im hier behandelten Cantionarius » A-Gu Cod. 756 von 1345.[17] Wolfgang Irtenkauf schließt aus Textabweichungen zwischen der Fassung von 1320, die später anderswo auftaucht, und den beiden späteren Seckauer Fassungen, dass der Tropus überhaupt anderswo entstanden ist, vermutlich im Augustiner-Chorherrenstift St. Florian. Rudolf Flotzinger hingegen nimmt eine viel ältere Seckauer Vorlage für den Cantionarius an:[18] Könnte auch dieses Stück darin schon existiert haben? Sicher scheint, dass es in Seckau zwischen 1320 und 1345 noch umgearbeitet wurde. In A-Gu Cod. 456 ist es nicht dem Weihnachtsfest, sondern Marienfesten zugewiesen und als Tropus zum Introitus Gaudeamus omnes in domino behandelt (fol. 92r). Jedoch steht es hier ohne praktische Verbindung zu diesem Introitus und ist nicht wie im Cantionarius zwischen dessen Teile eingeschoben, sondern in einfache Strophen gegliedert.
Leider sind die beiden älteren Niederschriften nicht mit Noten versehen, doch belegen sie, dass eine Melodie spätestens 1320 in Seckau existierte. Die Melodie im Cantionarius hat mit dem Notre-Dame-Conductus nichts zu tun. Sie bewegt sich mit dem Umfang A-c’ in einem kombinierten 1. und 2. Modus, passt also zu vielen Choralmelodien, worauf übrigens eine spätere Aufzeichnung hinzuweisen scheint („Tropus primi vel secundi toni“).[19] Die Melodie wurde sicher einstimmig und von vornherein auf Verwendung im kirchlichen Ritus hin konzipiert. Die aus dem späten 14. Jahrhundert bekannten zweistimmigen Fassungen (die ältere ist wohl » A-Iu Cod. 457) benutzen den großen Tonumfang dazu, die zweite Stimme – die denselben Tonumfang hat – eng mit der ersten zu verflechten.
„Moderna melodia“: Tropen und andere Lieder im Seckauer Cantionarius
Auch andere Tropen des Cantionarius sind formal reich gestaltet oder aufführungspraktisch „inszeniert“: so z. B. Hodie cantandus est, ein Tropus zur dritten Weihnachtsmesse (Hochamt), der Flos de spina auf demselben Blatt der Handschrift folgt (» Abb. Seckauer Cantionarius). Der Tropus Hodie cantandus est –Tuotilo von St. Gallen zugeschrieben, um 900 – ist nämlich ein Dialog über das Mysterium von Christi Geburt und wurde auch in Seckau dialogartig vorgetragen, wie das Seckauer Missale » A-Gu Cod. 456 bezeugt.[20] Der Chor kündigt an, es sei ein Knabe zu besingen; ein Solistenduo fragt, wer dieser sei („Quis est iste puer?“), und ein zweites Duo antwortet, er sei derjenige, dessen Ankunft schon lange geweissagt worden sei. Der Chor beschließt: „Ein Sohn ist uns geboren“ („Puer natus est nobis“) – womit er den darauffolgenden Trägertext des Introitus anstimmt.[21]
Nicht alle Gesänge im Cantionarius sind Tropen. Manche haben andere Gattungsbezeichnungen: „antiphona“, „sequentia“, „versus“ oder „conductus“. Das später weitbekannte Weihnachtslied Nunc angelorum gloria ist im Cantionarius (fol. 205r) als „conductus in nativitate“ bezeichnet und unterscheidet sich von einem Tropus durch seine strophische Anordnung mit Refrain, was auf weltliche Modelle verweist.[22] Am Ende der Sammlung steht ein Zyklus von Lamentationen Jeremias für die Karwoche – ab fol. 221r unter der Rubrik „moderna melodia“. Eine besondere Gruppe davor (fol. 218v–220r) bilden Tropen zum Benedicamus domino, einer damals besonders beliebten Untergattung der Tropen. Diese soll im 14. Jahrhundert eine bedeutende Rolle bei der Formung des europäischen geistlichen Liedes gespielt haben; Verbindungslinien reichen bis zur italienischen lauda und englischen carol.[23] Es überwiegt die Verwendung zum Weihnachtsfest, häufig der Vesper, Komplet oder Matutin (Mette) des klösterlichen Ritus. Vier Benedicamus-Tropen im Cantionarius sind zweistimmig, als einzige in der Sammlung; der bekannteste ist der Weihnachtstropus Procedentem sponsum de thalamo (fol. 218v). Er ist heute in mindestens 25 zentraleuropäischen Quellen nachweisbar; der Seckauer Cantionarius bietet eine der ältesten bekannten Aufzeichnungen des Stücks (» A. Kap. Weihnachtliches Hohelied und » Hörbsp. ♫ Procedentem ).[24]
Resonet in laudibus und Kindelwiegen
Jeder kennt das Weihnachtslied Joseph, lieber neve mein, das schon um 1420 überliefert wurde und angeblich den Mönch von Salzburg zum Autor hat (» B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg, » B. Geistliches Lied).[25] Es ist eine Bearbeitung der berühmten Cantio Resonet in laudibus, und auch diese ist bei genauerem Suchen in der Seckauer Handschrift zu finden. Im Ordinarius steht sie auf fol. 34v: Sie wird in der Weihnachtskomplet im Wechsel mit dem Canticum Simeonis, Nunc dimittis, und der Antiphon Magnum nomen domini vorgetragen. Im Cantionarius (fol. 187r–188r) gehört sie zu einer größeren Gruppe miteinander verzahnter Lieder zur selben Feier (vgl. Kap. Eine kunstvolle Aufführungsfassung von Resonet in laudibus).[26] Vielleicht wurde Resonet in laudibus nicht nur vorgetragen, sondern auch szenisch ausgeführt: Es war nämlich ein Gesang zur Begleitung des „Kindelwiegens“, eines von den Niederlanden bis Ungarn verbreiteten populären Rituals, an dem Kleriker, Chorschüler und Laien beteiligt waren. Man stellte eine Krippe oder Wiege mit dem Jesuskind, Joseph und Maria in der Kirche auf (Joseph und Maria konnten auch von Klerikern dargestellt werden), sang Lieder und führte ein Spiel oder einen Dialog zur Geburt Christi auf, bei dem auch getanzt werden konnte (» A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche).[27] Es gab viele Fluktuationen und Varianten dieser Praxis; das Tanzen selbst wurde manchmal verboten. Doch die dabei gesungenen Lieder wurden weitervermittelt, so dass heute eine reiche schriftliche Tradition vorliegt. Die beiden bekanntesten Kindelwiegen-Lieder, ja die heute noch bekanntesten Melodien des Mittelalters überhaupt, sind In dulci jubilo (» B. Geistliches Lied) und Resonet in laudibus.
Eine kunstvolle Aufführungsfassung von Resonet in laudibus
Das Vorkommen der Cantio Resonet in laudibus im Seckauer Cantionarius deutet auf populäre Wurzeln dieser Sammlung, da es Tanz, Spiel und Laienbeteiligung implizieren kann. Was hier vorgeschrieben wird, ist jedoch ein äußerst komplexes Gebilde. Der Trägertext ist Simeons Lobgesang (Canticum) Nunc dimittis mit der Antiphon Magnum nomen domini Emanuel. Diese hat elfsilbige Verse und ungewöhnlicherweise einen eigenen Refrain, Sunt impleta, der ebenfalls elfsilbig ist. Zwischen die Teile des Canticum und die Wiederholungen der Antiphon mit Refrain (Textabschnitte A-I) sind nun die Einzelstrophen von zwei Cantionen eingeschoben, jede mit ihrer eigenen Refrainzeile („Repetenda“). Nove lucis hodie hat drei Strophen, Resonet in laudibus acht. Das Nunc dimittis ist in sechs Teile zerlegt, einschließlich Gloria patri und Sicut erat. Zu den späteren Strophen von Resonet in laudibus werden jeweils Strophen von Nove lucis hodiewiederholt; auch Magnum nomen mit Refrain kehrt jedesmal wieder, nur vom Nunc dimittis wird nichts wiederholt.
In dieser umfangreichen Anordnung wird gleichsam die Verantwortung für die Gesamtstruktur einem Strophenlied übertragen, nämlich der Cantio Resonet in laudibus, die am Ende allein noch neue Worte vorträgt. Man hat gewissermaßen nicht das Nunc dimittis tropiert, sondern das Resonet in laudibus inszeniert. Der seltene Text Nove lucis hodie wurde vielleicht hier erst erfunden, um in die schon traditionelle Kombination Nunc dimittis, Magnum nomen und Resonet in laudibus eingelegt zu werden. Für beide Cantionen ist der Cantionarius die älteste bekannte Quelle. Die zweitälteste ist das „Moosburger Graduale“ (» D-Mu Hs. 2°156), das 1360 in der Kollegiatkirche Moosburg (Diözese Freising) vollendet wurde.[28] Dort sind beide Lieder in einer explizit „Cantiones“ betitelten Gruppe notiert. Die textlich-musikalische Form von Resonet in laudibus ist jedoch umgestellt.
Magnum nomen domini: Cantionen zur Weihnachtskomplet
Textedition nach » A-Gu Cod. 756, fol. 187r–188r. Elemente in [ ] hinzugefügt.
[A]
[Antiphon] Magnum nomen domini Emanuel,
quod annunciatum est per Gabriel.
Hodie apparuit in israhel
per Mariam virginem magnus rex.
[Canticum Simeonis] Nunc dimittis.
[Refrain] Sunt inpleta que predixit Gabriel,
que prefigurata sunt in israhel.
Eya eya, virgo deum genuit,
ut divina voluit clemencia.
[1. Cantio ] Nove lucis hodie iubar innovatur,
iubaris in facie lux illuminatur;
virgo fecundatur prole sapiencie,
cui vox leticie digne ministratur.
[Repetenda] Apparuit apparuit quem genuit virgo Maria.
[2. Cantio] Resonet in laudibus
cum iocundis plausibus,
syon cum fidelibus ,
apparuit quem genuit Maria.
Repe[tenda]. Eya laus est canenda de re miranda.
==
[B]
[Canticum] Quia viderunt.
[Antiphon] Magnum nomen. [Refrain] Sunt inpleta.
[1. Cantio] Jam de gemma claruit nobilis scintilla,
regem celi genuit humilis ancilla,
cuius ex mamilla lac lactanti profluit,
mater atque genuit, o quam felix illa.
[Rep.] Apparuit quem.
[2. Cantio] Qui creavit omnia
omni cum potencia
nascitur ex femina
apparuit quem gen[uit] mar[ia].
[Rep.] Eya.
==
[C]
[Canticum] Quod parasti.
[Antiphon] Magnum. [Refrain] Sunt inpleta.
[1. Cantio] Aulam rex egreditur dingne mansionis,
porta firma clauditur clavi salomonis,
exultacionis mundo fax incenditur
ardet nec comburitur rubus visionis.
[Rep.] Apparuit.
[2. Cantio] Qui regnat in ethere
venit ovem querere,
nullam volens perdere.
App[aruit quem genuit Maria].
[Rep.] Eya.==[D]
[Canticum] Lumen ad [revelationem gentium]
[Antiphon] Magnum no[men]. [Refrain] Sunt in[pleta].
[1. Cantio] Nove lucis.
[2. Cantio] Jacet in presepio
nostra reparacio
potens in imperio.
Apparuit.
[Rep.] Eia [sic].
==
[E]
[Canticum] Gloria patri.
[Antiphon] Mangnum [sic]. [Refrain] Sunt inpl[eta].
[1. Cantio] Nam de gem[ma].
[2. Cantio] Natus est de virgine
deus sine semine,
nos lavans a crimine.
Apparuit.
[Rep.] Eya.
==
[F]
[Canticum] Sicut erat.
[Antiphon] Mangnum. [Refrain] Sunt inp[leta].
[1. Cantio] Aulam.
[2. Cantio] Visita exilium,
redemptor humilium,
rosa parit lilium.
Apparuit.
[Rep.] Eia.
==
[G]
[Antiphon] Magnum. [Refrain] Sunt inple[ta].
[1. Cantio] Nove lucis.
[2. Cantio] Mundus lauda dominum,
salvatorem criminum,
nam salvator omnium.
Apparuit.
[Rep.] Eya.
==
[H]
[Antiphon] Mangnum. [Refrain] Sunt inpl[eta].
[1. Cantio] Nam de.
[2. Cantio] Ergo iam pro debito
pro solempni gaudio
fit congratulacio. Amen.
[Rep.] Eya.
==
[I]
[Antiphon] Mangnum. [Refrain] Sunt inpleta.
[1. Cantio] Aulam rex.Ein Tanzruf als Refrain: Eya laus
Der Refrain (Repetenda) für Resonet in laudibus heißt im Seckauer Cantionarius Eya laus est canenda de re miranda.[29] Die beigefügten Neumen, obwohl nicht als Tonhöhen identifizierbar, lassen erkennen, dass dieser Refrain als einziger Bestandteil melismatisch vorgetragen wurde, also musikalisch die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog.[30] Der Ruf „Eya“ oder „Heya“ war beim Tanzen und in Tanzliedern üblich.[31] Gerade der Refrain Eya laus war in der österreichischen Region besonders wichtig. Noch im späten 15. Jahrhundert schreibt ein Ordinale der Diözese Passau vor, er solle von Solisten mehrstimmig vorgetragen werden. Auch diese Aufführung des Nunc dimittis mit Cantionen, die wohl in der gesamten Diözese Tradition war, ist reich inszeniert:
[In der Komplet des Epiphaniasfestes, nach der Antiphon Salutis nostre auctorem zum Psalm Nunc dimittis]
„… sollen zwei oder drei Sänger hinter dem Lesepult stehend im discantus singen: Eya laus. Danach singen zwei, die vor dem Pult stehen, den Vers Resonet in laudibus. Anschließend singen zwei andere aus dem Buch Sunt impleta. Dann singen zwei Chorschüler im Chorraum mit lauter Stimme Hodie apparuit. Der Chor fährt darauf mit dem Psalm Nunc dimittis fort. Auch singt der Chor Magnum nomen, begleitet von Pauke und Zimbel („sub alio timpano et cymbalo consonent“). Danach beginnen die ersten Sänger wieder mit Eya laus und die anderen zwei wechseln mit ihnen weiter ab, bis der Psalm zu Ende ist. Schließlich wieder die vorige Antiphon Salutis nostre.“[32]Dass man dazu auch noch getanzt hat, ist unwahrscheinlich. Doch die scheinbare Erwähnung von Instrumenten verdient eine genauere Untersuchung.
Zum Verwendungszweck des Seckauer Cantionarius
Der Seckauer Cantionarius wird von Forschern nicht als ein auf Erneuerung bedachtes Dokument beschrieben, sondern als ein „spätes Tropar“: ein der Tradition verhaftetes Buch, dessen Typus jedoch bald zu Ende kommen sollte.[33] Wieso die Handschrift dann doch so viele neue, ad libitum verwendbare Gesänge enthält, muss erklärt werden. Überblickt man die hier notierten 130 Gesänge, so entsteht der Eindruck, dass nicht eine Quelle neuer Kreativität vorliegt, sondern eine Reaktion auf z. T. viel früheres Schaffen. Dieses Schaffen kann teilweise in Seckau stattgefunden haben. Weitere Anregungen – wie vielleicht beim Flos de spina – kamen aus anderen regionalen Zentren und aus dem Ausland. In mehreren Rubriken werden die Stücke gleichsam bewertet. Da heißt es zum Beispiel „valde pulchrum“, „pulcherrimum“ (sehr schön), „gar schoen“ (fol. 189v) und „daz sint schoen“ (fol. 196v). Nicht zufällig verirrt sich der Schreiber an diesen und anderen Stellen in die Volkssprache: Er wendet sich an Benutzer, die sich von solchen Bemerkungen besonders ansprechen lassen. Er versucht sie für bestimmte Gesänge zu interessieren, korrekte Lösungen anzubieten. Musikalische Kleriker in der Salzburger Kirchenprovinz und Seckau selbst waren vermutlich bereits mit den „neuen“ Liedern des Cantionarius umgegangen und an sie ist diese Redaktion gerichtet. Dies alles zusätzlich zu den im Ordinarius bereits vorhandenen Vorschriften für die Verwendung volkssprachlicher Lieder, deren ritueller Ort genau festgelegt wird.[34]
Der Cantionarius ist dem Ordinarius, dem „Regelbuch“, in Jahre 1345 als zweiter Teil beigesellt worden. Er bietet nicht eine notwendige Ergänzung zu dem schon überreichen Seckauer Ritus, der im Ordinarius vorgeschrieben wird und der damals in zahlreichen Handschriften für den Gebrauch der Diözese Seckau aufgeschrieben wurde. Schon gar nicht bietet der Cantionarius eine – etwa von religiösen Ideen inspirierte – Alternative zu diesem Ritus. Er reguliert vielmehr seinerseits eine daneben entwickelte Praxis des lateinischen Singens in der Region, indem er bestimmte Lieder empfiehlt, andere weglässt und wieder andere enger an rituelle Trägertexte anpasst, als das vorher praktiziert worden sein dürfte.[35] Es geht also wohl um die rituelle Legitimierung einer schon üppiger wuchernden Gesangspraxis.
Die Entstehung des Begriffes „cantio“
Die Gattungsnamen in den Rubriken des Seckauer Cantionarius sind traditionell. Der Begriff „cantio“ kommt nicht vor – weil er noch nicht akzeptiert wird? Trotzdem findet der Schreiber bei dem Refrain-Strophenlied Nunc angelorum gloria nur die nicht-rituelle Bezeichnung „conductus“ passend. Dieses Lied steht bereits 1360 unter den „cantiones“ des Moosburger Graduale (» D-Mu Hs. 2°156, fol. 236v), zusammen mit Resonet in laudibus und Nove lucis hodie.
Im Moosburger Graduale gibt es also den Begriff „cantiones“: Er bezieht sich dort auf strophische Lieder zum Singen an hohen Festen, die aber weder zwingend innerhalb des Gottesdienstes zu singen noch formal stets mit einem Trägertext verknüpft sind. Die Redaktoren der Seckauer Sammlung hingegen bezeichnen Flos de spina noch als „Tropus“ – vielleicht nur, um es im kirchlichen Gebrauch erhalten zu können. Im Moosburger Graduale erklärt eine lange Rubrik, dass die dort angebotenen Cantionen an die Stelle weltlicher und ungezügelter Gesangstraditionen, vor allem der des Kinderbischofs, zu setzen seien.[36]
Es muss eine breite Strömung geistlichen Singens gegeben haben, die der in Seckau und Moosburg vorgenommenen Regulierungen erst noch bedurfte. Ein populäres Element dürfte beteiligt gewesen sein.[37] Dem scheint im Fall des Nachbarlandes Böhmen zu widersprechen, dass die dortigen ältesten Cantionen-Sammlungen, die in Repertoire und Charakter mit Seckau und Moosburg einiges gemeinsam haben und die neuen Lieder „cantiones“ nennen, aus der Prager Benediktinerinnen-Abtei St. Georg auf dem Hradschin stammen, einer der sozial privilegiertesten Institutionen des Landes.[38] Aber es ist kein Widerspruch: Man hat in diesen führenden Zentren der offenbar schon mündlich verbreiteten neuen Liedästhetik einen zunächst vorsichtigen Tribut gezollt.
Zur kulturellen Bedeutung der Cantio
Die Texte der ältesten Cantionen sind enthusiastisch verfertigte Beispiele des Strophen-, Refrain- und akzentuierenden Prinzips im Kirchenchoral, das in der Pariser Sequenz und Motette, in den neuen franziskanischen Reimoffizien etwa Julians von Speyer oder der Lyrik Jacopones da Todi Ausdruck gefunden hatte. Die Worte sind häufig Aufforderungen zum gemeinsamen Feiern; die Angesprochenen werden oft als „pueri“ (Chorschüler) identifiziert; die Inhalte beziehen sich vorwiegend auf die populären Feste Ostern und Weihnachten, einschließlich des beliebten Eselsfestes (bzw. des Kinderbischofs) der jungen Kleriker um Neujahr. Auch das Leiden Christi und Marias wird bisweilen poetisch reflektiert. Dazu kommen die erwähnten Aufführungsmöglichkeiten des Tanzes, des geistlichen Spiels und des mehrstimmigen Vortrags. Verdeutschte Liedtexte wurden aufgeschrieben, von denen wohl manche vorher mündlich zirkulierten. Die meisten frühen Cantionen haben im Vergleich zum traditionellen Choral etwas „Haptisches“: Sie sind wie gedrechselte Objekte, anfassbar und begreifbar. Ein junger Mensch kann sie mit ihren kurzen Strophen gut einüben, selbst auf Lateinisch. Das bedeutet nicht, dass nicht literarische und musikalische Kunst auf sie verwendet worden wäre, wie sie in der kirchlichen Bildungssphäre vorhanden war. Die Einbettung der einfachen Cantio Resonet in laudibus in die komplexe Seckauer „Inszenierung“ nimmt das Populäre an diesem Lied fast wieder zurück. Doch ein Gesang, der trotzdem noch so verständlich, motorisch, repetitiv und gleichzeitig innig klang wie Resonet in laudibus mit seiner (anachronistisch gesprochen) dreiklangsfreudigen F-Dur-Melodie – ein Gesang, von dem vielleicht viele eine volkssprachliche Version kannten – der musste Theologen vor die Frage stellen, ob Religionsausübung eigentlich so sein durfte. Im Allgemeinen war die Antwort der Kirche auf diese Frage im 14. Jahrhundert ein „Jein“. Aber es gab eine allmählich wachsende Aufnahmebereitschaft, vor allem bei den Bettelorden und den mit Seelsorge betrauten Klöstern.
Nach Arnold Schmitz waren Cantionen „der letzte Versuch des späten Mittelalters unmittelbar vor der Reformation, das Kirchenvolk in der liturgischen Gemeinschaft festzuhalten“.[39] Eine Geschichtsperspektive, die das „Mittelalter“ einseitig auf die „Reformation“ hin interpretiert, ist heute nicht mehr angebracht. Aber der Hinweis, dass Cantionen, ähnlich wie andere Formen religiöser Kunst, zur Verhinderung von Entfremdung und Spaltung dienen sollten, bleibt bedenkenswert. Was die Cantionen tatsächlich zuerst vermeiden sollten und dann doch gefördert haben, war die „Auswanderung des Kirchenvolkes in die private Devotion“, wie in » B. Geistliches Lied näher erläutert wird.
[1] Vgl. Husmann 1962. Husmanns Unterscheidung zwischen Benediktiner- und Augustinertraditionen ist freilich in der Region nicht so klar konturiert (Hinweis von Dr. Robert Klugseder).
[2] Vgl. Praßl 1998a und Praßl 1998b als Beispiele der neueren Erforschung von libri ordinarii im Gegensatz zur Erfassung liturgischer Gattungscorpora.
[3] Vgl. Graus 1994.
[4] Vgl. Spechtshart 1958; Bruggisser-Lanker 2010, 231–255.
[7] Zum Vorgang in der Geschichte des Kirchenlieds vgl. Strohm 2009.
[8] Vgl. auch die Textedition in AH 49, S. 46, Nr. 67.
[9] A-Gu Ms. 756. Zur Handschrift vgl. Lipphardt 1974; Irtenkauf 1956a; Irtenkauf 1956b; Flotzinger 1977, 79.
[10] Edition: Dömling 1972.
[11] Vgl. Irtenkauf 1956a. Das Datum und die Angabe, das Buch insgesamt heiße „Breviarium“, stehen auf der Schlussseite des originalen Gesamtcodex (fol. 228v).
[12] Vgl. Behrendt 2009, S. 42–46.
[13] Vgl. das kommentierte Inhaltsverzeichnis des Cantionarius bei Behrendt 2009, S. 47–58.
[14] Irtenkauf 1956b, 261 und Anm. 23.
[15] Eine Auflistung der Quellen dieses Conductus bei Stenzl 2000, 155.
[16] Vgl. Lipphardt 1974. Eine andere Ableitung aus dem Notre-Dame-Repertoire ist der Tropus De Stephani roseo (fol. 185r): Vgl. Irtenkauf 1956a, 135–136, und Flotzinger 1977, 85.
[17] Vgl. Irtenkauf 1956a, besonders 131.
[18] Vgl. Flotzinger 1977, 79.
[19] Vgl. Dömling 1972, Nr. 1.
[21] Im Cantionarius selbst, fol. 179r–179v, sind die zwei Solistenpaare als „Recto“ und „Pls“ („Rectores“ und „Populus“?) rubriziert. Zur Überlieferung von Hodie cantandus vgl. Haug 1995.
[23] Vgl. Harrison 1965; Strohm 2007.
[24] Näheres zu diesem Stück bei Celestini 1995.
[26] Zu beiden Fassungen vgl. Behrendt 2009, S. 417–421, mit Textedition der Fassung des Liber ordinarius.
[27] Zum Kindelwiegen vgl. » A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche; zu den Liedern ausführlich Ameln 1970, 65–91; Tanz von Maria und Joseph ist in einem der Spiele erwähnt (vgl. S. 75).
[28] Vgl. Hiley 1996.
[29] Diesem Refrain geht eine Zeile „Apparuit quem genuit Maria“ voraus, die dem Refrain der Cantio Nove lucis fast gleicht. Die Zeile ist im Resonet in laudibus jedoch Teil der Strophe, deren Struktur ohne sie unbalanciert wäre. Wahrscheinlich ist dies ein Anzeichen dafür, dass die Cantio Nove lucis selbst in Anlehnung an Resonet in laudibus entstanden ist.
[30] Ameln 1970, 54, Anm. 7, bezieht die reichere Neumierung irrig auf das „Eya“ im Refrain des Magnum nomen.
[31] Vgl. Petzsch 1966.
[32] D-Sl HB I 109, fol.122r (freundliche Mitteilung von Dr. Robert Klugseder). Vgl. Klugseder 2013.
[34] Die sieben deutschen Lieder im Liber ordinarius sind beschrieben bei Behrendt 2009, S. 422–436.
[35] Dies betont Irtenkauf 1956a, S. 131–132.
[36] D-Mu Cod. Hs. 2° 156, fol. 230v (vgl. Hiley 1996).
[37] Deutlichere Belege für populäre Vorlagen gibt es im katalanischen Llibre Vermell und im irischen Red Book of Ossory : vgl. Strohm 1993, 62–63.
[38] Vgl. Plocek 1985; Böse/Schäfer 1988; Strohm 2007.
[39] Schmitz 1936, 409.
A-Gu 456 | A-Gu 756 | Anderson 1972/1975 | Anderson 1979 ff. | Brewer 2008 | Engels/Walterskirchen 1998 | Janota 1968 | Roth 1935
Empfohlene Zitierweise:
Strohm, Reinhard: “Gesänge zu Weihnachten im Stift Seckau”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich, <https://musical-life.net/essays/gesaenge-zu-weihnachten-im-stift-seckau> (2016).