Zur kulturellen Bedeutung der Cantio
Die Texte der ältesten Cantionen sind enthusiastisch verfertigte Beispiele des Strophen-, Refrain- und akzentuierenden Prinzips im Kirchenchoral, das in der Pariser Sequenz und Motette, in den neuen franziskanischen Reimoffizien etwa Julians von Speyer oder der Lyrik Jacopones da Todi Ausdruck gefunden hatte. Die Worte sind häufig Aufforderungen zum gemeinsamen Feiern; die Angesprochenen werden oft als „pueri“ (Chorschüler) identifiziert; die Inhalte beziehen sich vorwiegend auf die populären Feste Ostern und Weihnachten, einschließlich des beliebten Eselsfestes (bzw. des Kinderbischofs) der jungen Kleriker um Neujahr. Auch das Leiden Christi und Marias wird bisweilen poetisch reflektiert. Dazu kommen die erwähnten Aufführungsmöglichkeiten des Tanzes, des geistlichen Spiels und des mehrstimmigen Vortrags. Verdeutschte Liedtexte wurden aufgeschrieben, von denen wohl manche vorher mündlich zirkulierten. Die meisten frühen Cantionen haben im Vergleich zum traditionellen Choral etwas „Haptisches“: Sie sind wie gedrechselte Objekte, anfassbar und begreifbar. Ein junger Mensch kann sie mit ihren kurzen Strophen gut einüben, selbst auf Lateinisch. Das bedeutet nicht, dass nicht literarische und musikalische Kunst auf sie verwendet worden wäre, wie sie in der kirchlichen Bildungssphäre vorhanden war. Die Einbettung der einfachen Cantio Resonet in laudibus in die komplexe Seckauer „Inszenierung“ nimmt das Populäre an diesem Lied fast wieder zurück. Doch ein Gesang, der trotzdem noch so verständlich, motorisch, repetitiv und gleichzeitig innig klang wie Resonet in laudibus mit seiner (anachronistisch gesprochen) dreiklangsfreudigen F-Dur-Melodie – ein Gesang, von dem vielleicht viele eine volkssprachliche Version kannten – der musste Theologen vor die Frage stellen, ob Religionsausübung eigentlich so sein durfte. Im Allgemeinen war die Antwort der Kirche auf diese Frage im 14. Jahrhundert ein „Jein“. Aber es gab eine allmählich wachsende Aufnahmebereitschaft, vor allem bei den Bettelorden und den mit Seelsorge betrauten Klöstern.
Nach Arnold Schmitz waren Cantionen „der letzte Versuch des späten Mittelalters unmittelbar vor der Reformation, das Kirchenvolk in der liturgischen Gemeinschaft festzuhalten“.[39] Eine Geschichtsperspektive, die das „Mittelalter“ einseitig auf die „Reformation“ hin interpretiert, ist heute nicht mehr angebracht. Aber der Hinweis, dass Cantionen, ähnlich wie andere Formen religiöser Kunst, zur Verhinderung von Entfremdung und Spaltung dienen sollten, bleibt bedenkenswert. Was die Cantionen tatsächlich zuerst vermeiden sollten und dann doch gefördert haben, war die „Auswanderung des Kirchenvolkes in die private Devotion“, wie in » B. Geistliches Lied näher erläutert wird.
[39] Schmitz 1936, 409.
[1] Vgl. Husmann 1962. Husmanns Unterscheidung zwischen Benediktiner- und Augustinertraditionen ist freilich in der Region nicht so klar konturiert (Hinweis von Dr. Robert Klugseder).
[2] Vgl. Praßl 1998a und Praßl 1998b als Beispiele der neueren Erforschung von libri ordinarii im Gegensatz zur Erfassung liturgischer Gattungscorpora.
[3] Vgl. Graus 1994.
[4] Vgl. Spechtshart 1958; Bruggisser-Lanker 2010, 231–255.
[7] Zum Vorgang in der Geschichte des Kirchenlieds vgl. Strohm 2009.
[8] Vgl. auch die Textedition in AH 49, S. 46, Nr. 67.
[9] A-Gu Ms. 756. Zur Handschrift vgl. Lipphardt 1974; Irtenkauf 1956a; Irtenkauf 1956b; Flotzinger 1977, 79.
[10] Edition: Dömling 1972.
[11] Vgl. Irtenkauf 1956a. Das Datum und die Angabe, das Buch insgesamt heiße „Breviarium“, stehen auf der Schlussseite des originalen Gesamtcodex (fol. 228v).
[12] Vgl. Behrendt 2009, S. 42–46.
[13] Vgl. das kommentierte Inhaltsverzeichnis des Cantionarius bei Behrendt 2009, S. 47–58.
[14] Irtenkauf 1956b, 261 und Anm. 23.
[15] Eine Auflistung der Quellen dieses Conductus bei Stenzl 2000, 155.
[16] Vgl. Lipphardt 1974. Eine andere Ableitung aus dem Notre-Dame-Repertoire ist der Tropus De Stephani roseo (fol. 185r): Vgl. Irtenkauf 1956a, 135–136, und Flotzinger 1977, 85.
[17] Vgl. Irtenkauf 1956a, besonders 131.
[18] Vgl. Flotzinger 1977, 79.
[19] Vgl. Dömling 1972, Nr. 1.
[21] Im Cantionarius selbst, fol. 179r–179v, sind die zwei Solistenpaare als „Recto“ und „Pls“ („Rectores“ und „Populus“?) rubriziert. Zur Überlieferung von Hodie cantandus vgl. Haug 1995.
[23] Vgl. Harrison 1965; Strohm 2007.
[24] Näheres zu diesem Stück bei Celestini 1995.
[26] Zu beiden Fassungen vgl. Behrendt 2009, S. 417–421, mit Textedition der Fassung des Liber ordinarius.
[27] Zum Kindelwiegen vgl. » A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche; zu den Liedern ausführlich Ameln 1970, 65–91; Tanz von Maria und Joseph ist in einem der Spiele erwähnt (vgl. S. 75).
[28] Vgl. Hiley 1996.
[29] Diesem Refrain geht eine Zeile „Apparuit quem genuit Maria“ voraus, die dem Refrain der Cantio Nove lucis fast gleicht. Die Zeile ist im Resonet in laudibus jedoch Teil der Strophe, deren Struktur ohne sie unbalanciert wäre. Wahrscheinlich ist dies ein Anzeichen dafür, dass die Cantio Nove lucis selbst in Anlehnung an Resonet in laudibus entstanden ist.
[30] Ameln 1970, 54, Anm. 7, bezieht die reichere Neumierung irrig auf das „Eya“ im Refrain des Magnum nomen.
[31] Vgl. Petzsch 1966.
[32] D-Sl HB I 109, fol.122r (freundliche Mitteilung von Dr. Robert Klugseder). Vgl. Klugseder 2013.
[34] Die sieben deutschen Lieder im Liber ordinarius sind beschrieben bei Behrendt 2009, S. 422–436.
[35] Dies betont Irtenkauf 1956a, S. 131–132.
[36] D-Mu Cod. Hs. 2° 156, fol. 230v (vgl. Hiley 1996).
[37] Deutlichere Belege für populäre Vorlagen gibt es im katalanischen Llibre Vermell und im irischen Red Book of Ossory : vgl. Strohm 1993, 62–63.
[38] Vgl. Plocek 1985; Böse/Schäfer 1988; Strohm 2007.
[39] Schmitz 1936, 409.