Der kirchliche Ritus und die Tradition
Der traditionelle Ritus der christlichen Gottesdienste wird heute, anders als im Mittelalter, gewöhnlich „Liturgie“ genannt. Es ist ein Sammelbegriff, der viele Tätigkeiten und Texte zusammenfasst und ihnen einen gemeinsamen Sinn zuspricht. Dieser gemeinsame Sinn ist die Verehrung Gottes durch Gebet und Opfer. Im Mittelalter unterstand jeder Gottesdienst auch dem Gebot, Glauben zu erwecken und Ungläubige zu Gott zu führen. Eine kulturanthropologische Analyse könnte untersuchen, wie der kirchliche Ritus sowohl durch seine Traditionalität als auch durch seine Veränderungen, seine „Lebendigkeit“, diesem doppelten Zweck entsprechen konnte.
Erneuerung und Entwicklung sehen im historischen Rückblick anders aus als innerhalb des zeitgenössischen Bewusstseins. Wir überblicken heute die Formen und Entwicklungsstadien mittelalterlicher Rituale besser als damalige Ausführende es konnten. Andererseits fehlt uns deren Eingebundenheit in die jeweilige lokale Praxis, die oftmals ein präzises Wissen um bestimmte rituelle Inhalte oder Zusammenhänge mit sich brachte. Der Cantor eines Klosters wusste allerdings nicht immer genau, ob z. B. ein bestimmter Gesang aus der Tradition des eigenen Ordens stammte oder aus den Büchern der zuständigen Domkirche entlehnt worden war, ob er aus weltkirchlicher oder vielleicht gar nichtkirchlicher Praxis stammte.[1] Heute versucht Choralforschung solche Zusammenhänge wieder aufzudecken, sei es durch flächendeckende Vergleiche, sei es durch Detailanalyse hinterlassener Dokumente. Auf das moderne Geschichtsbewusstsein wirkt die Kenntnis von Ursprüngen und Transfers, von Entwicklungen und Verlusten relativierend, während es damaligen Menschen eher um Legitimation und Wertung ging. Vor allem wissen wir, was aus einstmals lebendigen Riten später geworden ist, und haben ein Interesse an der archäologischen Aufdeckung des Früheren im Gegensatz zum Späteren.
[1] Vgl. Husmann 1962. Husmanns Unterscheidung zwischen Benediktiner- und Augustinertraditionen ist freilich in der Region nicht so klar konturiert (Hinweis von Dr. Robert Klugseder).
[1] Vgl. Husmann 1962. Husmanns Unterscheidung zwischen Benediktiner- und Augustinertraditionen ist freilich in der Region nicht so klar konturiert (Hinweis von Dr. Robert Klugseder).
[2] Vgl. Praßl 1998a und Praßl 1998b als Beispiele der neueren Erforschung von libri ordinarii im Gegensatz zur Erfassung liturgischer Gattungscorpora.
[3] Vgl. Graus 1994.
[4] Vgl. Spechtshart 1958; Bruggisser-Lanker 2010, 231–255.
[7] Zum Vorgang in der Geschichte des Kirchenlieds vgl. Strohm 2009.
[8] Vgl. auch die Textedition in AH 49, S. 46, Nr. 67.
[9] A-Gu Ms. 756. Zur Handschrift vgl. Lipphardt 1974; Irtenkauf 1956a; Irtenkauf 1956b; Flotzinger 1977, 79.
[10] Edition: Dömling 1972.
[11] Vgl. Irtenkauf 1956a. Das Datum und die Angabe, das Buch insgesamt heiße „Breviarium“, stehen auf der Schlussseite des originalen Gesamtcodex (fol. 228v).
[12] Vgl. Behrendt 2009, S. 42–46.
[13] Vgl. das kommentierte Inhaltsverzeichnis des Cantionarius bei Behrendt 2009, S. 47–58.
[14] Irtenkauf 1956b, 261 und Anm. 23.
[15] Eine Auflistung der Quellen dieses Conductus bei Stenzl 2000, 155.
[16] Vgl. Lipphardt 1974. Eine andere Ableitung aus dem Notre-Dame-Repertoire ist der Tropus De Stephani roseo (fol. 185r): Vgl. Irtenkauf 1956a, 135–136, und Flotzinger 1977, 85.
[17] Vgl. Irtenkauf 1956a, besonders 131.
[18] Vgl. Flotzinger 1977, 79.
[19] Vgl. Dömling 1972, Nr. 1.
[21] Im Cantionarius selbst, fol. 179r–179v, sind die zwei Solistenpaare als „Recto“ und „Pls“ („Rectores“ und „Populus“?) rubriziert. Zur Überlieferung von Hodie cantandus vgl. Haug 1995.
[23] Vgl. Harrison 1965; Strohm 2007.
[24] Näheres zu diesem Stück bei Celestini 1995.
[26] Zu beiden Fassungen vgl. Behrendt 2009, S. 417–421, mit Textedition der Fassung des Liber ordinarius.
[27] Zum Kindelwiegen vgl. » A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche; zu den Liedern ausführlich Ameln 1970, 65–91; Tanz von Maria und Joseph ist in einem der Spiele erwähnt (vgl. S. 75).
[28] Vgl. Hiley 1996.
[29] Diesem Refrain geht eine Zeile „Apparuit quem genuit Maria“ voraus, die dem Refrain der Cantio Nove lucis fast gleicht. Die Zeile ist im Resonet in laudibus jedoch Teil der Strophe, deren Struktur ohne sie unbalanciert wäre. Wahrscheinlich ist dies ein Anzeichen dafür, dass die Cantio Nove lucis selbst in Anlehnung an Resonet in laudibus entstanden ist.
[30] Ameln 1970, 54, Anm. 7, bezieht die reichere Neumierung irrig auf das „Eya“ im Refrain des Magnum nomen.
[31] Vgl. Petzsch 1966.
[32] D-Sl HB I 109, fol.122r (freundliche Mitteilung von Dr. Robert Klugseder). Vgl. Klugseder 2013.
[34] Die sieben deutschen Lieder im Liber ordinarius sind beschrieben bei Behrendt 2009, S. 422–436.
[35] Dies betont Irtenkauf 1956a, S. 131–132.
[36] D-Mu Cod. Hs. 2° 156, fol. 230v (vgl. Hiley 1996).
[37] Deutlichere Belege für populäre Vorlagen gibt es im katalanischen Llibre Vermell und im irischen Red Book of Ossory : vgl. Strohm 1993, 62–63.
[38] Vgl. Plocek 1985; Böse/Schäfer 1988; Strohm 2007.
[39] Schmitz 1936, 409.