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Der kirchliche Ritus und die Tradition

Reinhard Strohm

Der traditionelle Ritus der christlichen Gottesdienste wird heute, anders als im Mittelalter, gewöhnlich „Liturgie“ genannt. Es ist ein Sammelbegriff, der viele Tätigkeiten und Texte zusammenfasst und ihnen einen gemeinsamen Sinn zuspricht. Dieser gemeinsame Sinn ist die Verehrung Gottes durch Gebet und Opfer. Im Mittelalter unterstand jeder Gottesdienst auch dem Gebot, Glauben zu erwecken und Ungläubige zu Gott zu führen. Eine kulturanthropologische Analyse könnte untersuchen, wie der kirchliche Ritus sowohl durch seine Traditionalität als auch durch seine Veränderungen, seine „Lebendigkeit“, diesem doppelten Zweck entsprechen konnte.

Erneuerung und Entwicklung sehen im historischen Rückblick anders aus als innerhalb des zeitgenössischen Bewusstseins. Wir überblicken heute die Formen und Entwicklungsstadien mittelalterlicher Rituale besser als damalige Ausführende es konnten. Andererseits fehlt uns deren Eingebundenheit in die jeweilige lokale Praxis, die oftmals ein präzises Wissen um bestimmte rituelle Inhalte oder Zusammenhänge mit sich brachte. Der Cantor eines Klosters wusste allerdings nicht immer genau, ob z. B. ein bestimmter Gesang aus der Tradition des eigenen Ordens stammte oder aus den Büchern der zuständigen Domkirche entlehnt worden war, ob er aus weltkirchlicher oder vielleicht gar nichtkirchlicher Praxis stammte.[1] Heute versucht Choralforschung solche Zusammenhänge wieder aufzudecken, sei es durch flächendeckende Vergleiche, sei es durch Detailanalyse hinterlassener Dokumente. Auf das moderne Geschichtsbewusstsein wirkt die Kenntnis von Ursprüngen und Transfers, von Entwicklungen und Verlusten relativierend, während es damaligen Menschen eher um Legitimation und Wertung ging. Vor allem wissen wir, was aus einstmals lebendigen Riten später geworden ist, und haben ein Interesse an der archäologischen Aufdeckung des Früheren im Gegensatz zum Späteren.

[1] Vgl. Husmann 1962. Husmanns Unterscheidung zwischen Benediktiner- und Augustinertraditionen ist freilich in der Region nicht so klar konturiert (Hinweis von Dr. Robert Klugseder).