Zum Verwendungszweck des Seckauer Cantionarius
Der Seckauer Cantionarius wird von Forschern nicht als ein auf Erneuerung bedachtes Dokument beschrieben, sondern als ein „spätes Tropar“: ein der Tradition verhaftetes Buch, dessen Typus jedoch bald zu Ende kommen sollte.[33] Wieso die Handschrift dann doch so viele neue, ad libitum verwendbare Gesänge enthält, muss erklärt werden. Überblickt man die hier notierten 130 Gesänge, so entsteht der Eindruck, dass nicht eine Quelle neuer Kreativität vorliegt, sondern eine Reaktion auf z. T. viel früheres Schaffen. Dieses Schaffen kann teilweise in Seckau stattgefunden haben. Weitere Anregungen – wie vielleicht beim Flos de spina – kamen aus anderen regionalen Zentren und aus dem Ausland. In mehreren Rubriken werden die Stücke gleichsam bewertet. Da heißt es zum Beispiel „valde pulchrum“, „pulcherrimum“ (sehr schön), „gar schoen“ (fol. 189v) und „daz sint schoen“ (fol. 196v). Nicht zufällig verirrt sich der Schreiber an diesen und anderen Stellen in die Volkssprache: Er wendet sich an Benutzer, die sich von solchen Bemerkungen besonders ansprechen lassen. Er versucht sie für bestimmte Gesänge zu interessieren, korrekte Lösungen anzubieten. Musikalische Kleriker in der Salzburger Kirchenprovinz und Seckau selbst waren vermutlich bereits mit den „neuen“ Liedern des Cantionarius umgegangen und an sie ist diese Redaktion gerichtet. Dies alles zusätzlich zu den im Ordinarius bereits vorhandenen Vorschriften für die Verwendung volkssprachlicher Lieder, deren ritueller Ort genau festgelegt wird.[34]
Der Cantionarius ist dem Ordinarius, dem „Regelbuch“, in Jahre 1345 als zweiter Teil beigesellt worden. Er bietet nicht eine notwendige Ergänzung zu dem schon überreichen Seckauer Ritus, der im Ordinarius vorgeschrieben wird und der damals in zahlreichen Handschriften für den Gebrauch der Diözese Seckau aufgeschrieben wurde. Schon gar nicht bietet der Cantionarius eine – etwa von religiösen Ideen inspirierte – Alternative zu diesem Ritus. Er reguliert vielmehr seinerseits eine daneben entwickelte Praxis des lateinischen Singens in der Region, indem er bestimmte Lieder empfiehlt, andere weglässt und wieder andere enger an rituelle Trägertexte anpasst, als das vorher praktiziert worden sein dürfte.[35] Es geht also wohl um die rituelle Legitimierung einer schon üppiger wuchernden Gesangspraxis.
[34] Die sieben deutschen Lieder im Liber ordinarius sind beschrieben bei Behrendt 2009, S. 422–436.
[35] Dies betont Irtenkauf 1956a, S. 131–132.
[1] Vgl. Husmann 1962. Husmanns Unterscheidung zwischen Benediktiner- und Augustinertraditionen ist freilich in der Region nicht so klar konturiert (Hinweis von Dr. Robert Klugseder).
[2] Vgl. Praßl 1998a und Praßl 1998b als Beispiele der neueren Erforschung von libri ordinarii im Gegensatz zur Erfassung liturgischer Gattungscorpora.
[3] Vgl. Graus 1994.
[4] Vgl. Spechtshart 1958; Bruggisser-Lanker 2010, 231–255.
[7] Zum Vorgang in der Geschichte des Kirchenlieds vgl. Strohm 2009.
[8] Vgl. auch die Textedition in AH 49, S. 46, Nr. 67.
[9] A-Gu Ms. 756. Zur Handschrift vgl. Lipphardt 1974; Irtenkauf 1956a; Irtenkauf 1956b; Flotzinger 1977, 79.
[10] Edition: Dömling 1972.
[11] Vgl. Irtenkauf 1956a. Das Datum und die Angabe, das Buch insgesamt heiße „Breviarium“, stehen auf der Schlussseite des originalen Gesamtcodex (fol. 228v).
[12] Vgl. Behrendt 2009, S. 42–46.
[13] Vgl. das kommentierte Inhaltsverzeichnis des Cantionarius bei Behrendt 2009, S. 47–58.
[14] Irtenkauf 1956b, 261 und Anm. 23.
[15] Eine Auflistung der Quellen dieses Conductus bei Stenzl 2000, 155.
[16] Vgl. Lipphardt 1974. Eine andere Ableitung aus dem Notre-Dame-Repertoire ist der Tropus De Stephani roseo (fol. 185r): Vgl. Irtenkauf 1956a, 135–136, und Flotzinger 1977, 85.
[17] Vgl. Irtenkauf 1956a, besonders 131.
[18] Vgl. Flotzinger 1977, 79.
[19] Vgl. Dömling 1972, Nr. 1.
[21] Im Cantionarius selbst, fol. 179r–179v, sind die zwei Solistenpaare als „Recto“ und „Pls“ („Rectores“ und „Populus“?) rubriziert. Zur Überlieferung von Hodie cantandus vgl. Haug 1995.
[23] Vgl. Harrison 1965; Strohm 2007.
[24] Näheres zu diesem Stück bei Celestini 1995.
[26] Zu beiden Fassungen vgl. Behrendt 2009, S. 417–421, mit Textedition der Fassung des Liber ordinarius.
[27] Zum Kindelwiegen vgl. » A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche; zu den Liedern ausführlich Ameln 1970, 65–91; Tanz von Maria und Joseph ist in einem der Spiele erwähnt (vgl. S. 75).
[28] Vgl. Hiley 1996.
[29] Diesem Refrain geht eine Zeile „Apparuit quem genuit Maria“ voraus, die dem Refrain der Cantio Nove lucis fast gleicht. Die Zeile ist im Resonet in laudibus jedoch Teil der Strophe, deren Struktur ohne sie unbalanciert wäre. Wahrscheinlich ist dies ein Anzeichen dafür, dass die Cantio Nove lucis selbst in Anlehnung an Resonet in laudibus entstanden ist.
[30] Ameln 1970, 54, Anm. 7, bezieht die reichere Neumierung irrig auf das „Eya“ im Refrain des Magnum nomen.
[31] Vgl. Petzsch 1966.
[32] D-Sl HB I 109, fol.122r (freundliche Mitteilung von Dr. Robert Klugseder). Vgl. Klugseder 2013.
[34] Die sieben deutschen Lieder im Liber ordinarius sind beschrieben bei Behrendt 2009, S. 422–436.
[35] Dies betont Irtenkauf 1956a, S. 131–132.
[36] D-Mu Cod. Hs. 2° 156, fol. 230v (vgl. Hiley 1996).
[37] Deutlichere Belege für populäre Vorlagen gibt es im katalanischen Llibre Vermell und im irischen Red Book of Ossory : vgl. Strohm 1993, 62–63.
[38] Vgl. Plocek 1985; Böse/Schäfer 1988; Strohm 2007.
[39] Schmitz 1936, 409.