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Regulierung und Erneuerung

Reinhard Strohm

Die rituelle Praxis des Mittelalters veränderte sich in eine offene Zukunft hinein. Sie unterschied nicht nach wissenschaftlichen Kriterien zwischen alt und neu, fremd oder eigen. Sie glaubte sich einerseits noch konsistent, wo sie längst von Neuerungen durchsetzt war; sie glaubte andererseits oft etwas Andersartiges abwehren zu müssen, auch wenn es überall sonst schon praktiziert wurde. Es war ein  ausgeprägtes Bewusstsein von Traditionserhaltung, das immer wieder vom Streben nach Erneuerung, Verschönerung, Fremdanleihe auf die Probe gestellt wurde. Zwar gab es Regeltexte, die den Ritus in einem normativen Sinn an der Tradition orientieren wollten: nämlich die „Ordinale“, “Liber ordinarius“ oder „Rituale“ genannten Bücher, die die Praxis im Einzelnen bestimmten;[2] im weiteren Sinn alle Aufzeichnungen der kirchlichen musikalischen Texte und Melodien. Man verließ sich ferner auf hervorragende Gedächtnisleistungen und mündliche Überlieferung, die das Gefühl der Zugehörigkeit zur eigenen institutionellen Vergangenheit stärkte. Trotzdem wurde immer wieder an der Tradition gezupft, geschneidert oder weitergesponnen. Man war dem Neuen vielleicht umso weniger abgeneigt, als man dessen spätere Weiterungen und Umdeutungen noch nicht ahnen konnte.

[2] Vgl. Praßl 1998a und Praßl 1998b als Beispiele der neueren Erforschung von libri ordinarii im Gegensatz zur Erfassung liturgischer Gattungscorpora.