Bozen/Bolzano: Musik im Umkreis der Kirche
Eine mittlere Stadt
Musik war in der Stadt des 14.–15. Jahrhunderts ein weitgehend öffentlicher Vorgang. Kirchengesang zu Vesper und Messe, feierliche Prozessionen, Besuche von hohen Herren und Kriegsleuten mit ihren Trompetern, musikalische Unterhaltung in und vor den Tavernen, Hochzeits- und Begräbnisumgänge mit entsprechend abgetönter Musik, die Singstunden in der Lateinschule, das Aufspielen zum Tanz auf öffentlichen Plätzen, die „Ansinger“, die zu Weihnachten vor den Bürgerhäusern Geld einsammelten, die frommen Chöre der Schulknaben, die mit dem Priester zum Spital zogen, um den Kranken das Sakrament zu bringen, schließlich die Gesänge Marias, der Apostel und Engel sowie das „schreckliche Geschrei“ der Teufel in den großen Passionsspielaufführungen (» H. Musik und Tanz in Spielen und » H. Sterzinger Spielarchiv): Alle diese öffentlichen Musikformen sind im Bozen der Epoche belegt und wurden bezahlt.[1] Das Glockenläuten und Turmblasen – auch wenn man es nicht als „Musik“ einstufen will – unterlag erst recht amtlicher Kontrolle, schon wegen seiner öffentlichen Signalfunktionen (» E. Klang-Aura). Informelles Musikmachen auf der Straße oder sonst im Freien, von dem wir zu wenig wissen, konnte verboten oder eingeschränkt werden; doch das Musizieren in den Privathäusern war umso weniger kontrollierbar je größer diese waren – und dementsprechend je (einfluss-)reicher ihre Besitzer.[2]
Der Reichtum an musikalischen bzw. akustischen Darbietungen in der für damalige Verhältnisse mittelgroßen, wirtschaftlich und kommerziell aktiven Tiroler Stadt, die im Mittelalter fünfmal abbrannte,[3] entsprach nicht einer imaginären Norm, die überall gegolten hätte. Trotz erheblicher Ähnlichkeiten des Kulturlebens in den Städten ganz Europas war jede einzelne Form örtlicher Musikpraxis individuell entstanden und zugleich vernetzt. Bozen verdankte seiner geographischen Lage eine bedeutende Rolle im Nah- und Fernhandel sowie in der Vermittlung zwischen zentraleuropäischer und mediterraner Kultur.[4] Ungünstig war, dass die kirchliche und die staatliche Oberhoheit oft miteinander im Widerspruch standen: hier der Fürstbischof von Trient, das Oberhaupt der Diözese, dort der politische und militärische Machthaber, der Graf von Tirol und (seit 1363) Herzog von Österreich.[5] Gegen Ende des 13. Jahrhunderts hatte Herzog Meinhard II. Bozens Mauern schleifen lassen – nur die sieben Tore blieben stehen.[6] Andererseits verfügte 1442 König Friedrich III. die Einsetzung eines Stadtrats, dem rechtliche „Freiheiten“ gegenüber Bezirkshauptmann und Landrichter zugesprochen wurden.[7] So begann im mittleren 15. Jahrhundert eine Phase intensiver urbaner Entwicklung und Institutionalisierung, auch in kulturellen Bereichen wie dem der Musik.
Der kirchliche Ort
Bozen hatte seit spätestens 1180 einen Stadtpfarrer und eine der Gottesmutter Maria geweihte Pfarrkirche; sie wurde seit ca. 1350, ab 1387 mit Unterstützung der Habsburger, großzügig erweitert und ihr Hochaltar am 3. April 1443 geweiht. Andere Gottesdienste hielt man in Kapellen und seit dem 13. Jahrhundert in den Klöstern der Dominikaner, der Franziskaner (Observanten) und des Deutschen Ordens. Die südlich der Marienkirche gelegene St. Nikolauskirche, ebenfalls schon 1180 erwähnt und bisweilen als „alte Pfarrkirche“ bezeichnet, blieb neben der Hauptkirche weiter bestehen.[8]
Der Stich von Matthäus Merian zeigt im Umkreis der Pfarrkirche (“A.“, unten Mitte) noch weitgehend dieselbe Anordnung der kirchlichen Gebäude wie im 15. Jahrhundert. Südwestlich (links unten) sieht man die Maria-Magdalenenkapelle, rechts daneben die St. Nikolauskirche, rechts daneben das Pfarrhaus (Widum), darüber (östlich der Kirche) die Allerheiligenkapelle und weiter rechts davor das kleine Gebäude der später so genannten „Singschule“. Die lateinische Pfarrschule war 1645 allerdings nicht mehr vorhanden; nach Hoeniger befand sie sich mit dem Schulgarten östlich anschließend an das kleine Haus, das bei Merian vor (südlich) der Magdalenenkapelle zu sehen ist, d. h. unmittelbar südlich von St. Nikolaus.[9] Die am nördlichen Rand des Friedhofs stehende St. Jakobskapelle ist vom Kirchenschiff verdeckt. Links vom Pfarrbereich ist das große Dominikanerkloster (“B“) zu sehen, in der Mitte oben das Franziskanerkloster („D“); der Sitz des Deutschen Ordens, auch Ansitz Weggenstein genannt („F“), ist rechts oben neben dem Namensschild „Botzen“.
Das Urbar der Bozner Pfarrkirche
Hannes Obermair beschreibt als wichtigen Schritt städtischer Entwicklung die Anfertigung eines „Urbars“ (Grundstücks- und Rentenverzeichnisses) der Bozner Pfarrkirche durch den Kirchprobst Christoph Hasler jun. in den Jahren 1453–1460 (» F-Sn Ms. 2111 allemands 187).[10] Dem modernen Betrachter mag dieses umfangreiche Manuskript (143 fol.) wie ein Sammelsurium verschiedenster Einzelheiten erscheinen.[11] In der Tat versuchen diese Protokolle von Besitztümern, zu erwartenden Einkünften, Pflichten und Freiheitsrechten der Pfarrkirche sowie Verhaltensregeln ihrer Mitarbeiter ein „Äußerstes an damals möglicher Komplexität“ zu erfassen.[12] Der Kirchprobst (magister fabricae) war der höchstrangige weltliche Funktionsträger einer Pfarrkirche, entsprechend dem Probst (praepositus) einer Kapitelkirche oder Kathedrale. Christoph Hasler jun. – schon mindestens der dritte Bozner Kirchprobst seines Namens – schrieb das Urbar eigenhändig, oft als Kopie oder Zusammenfassung ihm vorliegender Urkunden und anderer Dokumente, manchmal aufgrund eigener Erinnerung oder mündlicher Information. Haslers Nachfolger benützten und ergänzten das Manuskript bis in die 1470er Jahre.
Die musikalischen Pflichten und Gebräuche des Bozner Kirchenpersonals sowie ihr finanzieller und organisatorischer Unterhalt können im Zusammenspiel des Haslerschen Urbars mit den „Kirchprobstrechnungen“ (erhalten seit 1470) und mit den ab 1465 bzw. 1469 beginnenden Serien der Amtsrechnungen bzw. Ratsprotokolle der Stadtverwaltung dargestellt werden, die im Historischen Archiv der Stadt Bozen/Archivio Storico della Città di Bolzano (StA Bozen) erhalten sind.[13] Denn von langer Tradition her war die Stadtverwaltung für die Kirche mitverantwortlich. So unterbreitete z.B. im Jahre 1447 der Stadtrat dem Pfarrer eine Regelung der Kapläne, die in Haslers Urbar auf fol. 97r–97v erwähnt ist.[14] Die von der Stadt erlassene Bozner Schulordnung von 1424, die älteste in Tirol, war für die Kirche bestimmt und wurde in Haslers Urbar auf fol. 128r–131v kopiert.[15] Dass Christoph Hasler jun. 1469 selbst Bürgermeister wurde (sein Vater Christoph Hasler sen. war zeitweilig ebenfalls Bürgermeister und Kirchprobst gewesen),[16] unterstreicht noch einmal die Verquickung der Macht- und Verwaltungsbefugnisse zwischen Kirche und Stadt.
Stadtrat, Pfarrer und Schulmeister
Als Ausführende der kirchlichen Musik wirkten unter Aufsicht des Stadtpfarrers mehrere „Gesellpriester“ (Kapläne), der Schulmeister, dessen Gehilfe (der succentor oder Junkmeister)[17], die Assistenten („Astanten“, „großen Gesellen“), der Organist und nicht zuletzt die Schulknaben.
Ein dramatisches Beispiel für die Verflechtung von Kirche und Stadtverwaltung im Bereich der Erziehung war die geplante Einstellung des Schulmeisters Albrecht Weinreich im Jahre 1475. Nach dem Ratsprotokoll von 1475 (» I-BZac, Hs. 4, fol. 5r) war dieser noch junge Mann „auf Begehren meiner gnädigen Frau von Österreich“ (vermutlich Eleonore von Schottland, Gemahlin Erzherzog Siegmunds) zum Nachfolger des derzeitigen Schulmeisters bestellt worden. Doch der Pfarrer war gegen ihn und erklärte, er wolle ihn „mit nichten zu einem Schulmeister haben, auch die Speise ihm nicht aus dem Widum [Pfarrhaus] verabfolgen lassen, wie es von jeher die anderen Pfarrer getan hätten. Auch seinen Junkmeister wolle er nicht aus dem Widum verköstigen, wie es von alters her Brauch war“ (wie oben, fol. 7r–7v). Der Rat fragte, ob Weinreich „die Schule von Rats wegen aufrichtig regieren und die Knaben oder Schüler darin unterrichten wolle, wie es sich für einen Schulmeister gebühre; sowie, ob er die Kirche mit Gesang versehen wolle, wie es dem Schulmeister zukomme; wenn ihm nun der Pfarrer kein Essen reichen wolle, wie von alters her Brauch sei, dann habe er die Wahl, die Kirche zu besingen oder nicht. Jedoch was der Stadt oder der Kommune gebühre und zu singen war und wofür der Schulmeister verantwortlich war, dem solle der Schulmeister Genüge tun; und für die Zeit, die ihm der Pfarrer das Essen verweigere, könne er sich einen Tisch suchen, wo es ihm am besten passe, bis die Streitsache gelöst sei“. In der Tat zog sich die Sache etwas hin und führte offenbar zu einer Beschwerde an die Kommune, worauf der Rat beschloss, die Kommune (vermutlich bei Gelegenheit einer allgemeinen Bürgerversammlung) entscheiden zu lassen (Ratsprotokoll von 1475, wie oben, fol. 7v; Wortlaute modernisiert).
Wir wissen nicht, wie der Streit entschieden wurde. Doch aus dem Dokument geht erstens hervor, dass der Pfarrer den Schulmeister mit Verköstigung entlohnen sollte, während von einer Verweigerung des eigentlichen Gehalts, das vom Kirchprobst ausgezahlt wurde, nicht die Rede ist. Zweitens erfahren wir, dass das Gehalt für den Schulunterricht und für bestimmte Gesangsdienste vom Stadtrat kam; [18] und drittens, dass der Junkmeister (der vom Pfarrer gleichermaßen abgelehnt wurde) mit dem Schulmeister zusammen den Dienst hätte antreten sollen.
Fronleichnams-„Umgang“ und andere Stiftungen
Die Formen des kirchlichen Lebens entwickelten sich jedoch nicht nur durch behördliche Maßnahmen, sondern vor allem „von unten“, durch private Initiativen und damit verbundene Kirchenstiftungen der Laien (» J. Formen der Laienfrömmigkeit). Solche Stiftungen kamen aus dem besitzenden Bürgertum und vor allem dem Adel, in welchem Fall sie, weltlich gesprochen, eigentlich „von oben“ erfolgten. Die 1423 von Adligen gestiftete Fronleichnamsbruderschaft (» E. Wiener Gotsleichbruderschaft) richtete wohl noch kein Fronleichnamsspiel ein (wie vermutet worden ist), [19] jedoch immerhin einen „Umgang“ der Schulknaben mit Priester und Sakrament, dessen frühe Organisationsform schwer zu rekonstruieren ist. Haslers Urbar erwähnt den Umgang nicht: Vielleicht war er damals noch alleinige Aufgabe der „Gotsleichnams“-Bruderschaft. Doch in der ersten erhaltenen Kirchprobstrechung von 1470 wird bereits auf den Umgang verwiesen, und seit 1472 (» I-BZac Hs. 640) bezahlte die Kirche dem „schulmeister und den schullern die mit gotzleichnam zu kranken gehen“ jedes Quatember (Vierteljahr) 3 £. Berner. Dieser Umgang wurde am Ende des Jahrhunderts anscheinend täglich ausgeführt; besucht wurde vor allem das der Pfarrkirche gegenüberliegende Heiliggeist-Spital. Offenbar erfolgte eine entsprechende große Stiftung um 1463, als sich die Fronleichnamsbruderschaft mit der Bruderschaft der „Kotzelpinter“ (Korbflechter) vereinigte; hierbei dürfte die Stiftung der Kirche zugefallen sein.[20] Die Gesänge der Schulknaben sind in den Abrechnungen nie genannt, doch war zweifellos ein Teil des Programms die Fronleichnamssequenz Lauda Sion Salvatorem des Thomas von Aquin bzw. dessen Hymnenstrophe Tantum ergo sacramentum. (» Hörbsp. ♫ Lauda Sion salvatorem, Edlerawer)
Der Schulmeister war der hauptsächliche Empfänger der vom Kirchprobst ausgegebenen Gelder für diese und andere Zeremonien und Jahrtage (Anniversarien mit gestifteten Messen), bei denen gesungen werden musste. Er hatte sein Gehalt mit dem Junkmeister (succentor), den Astanten und den Schulknaben zu teilen, was die Bedeutung der musikalischen Begleitung der Zeremonien unterstreicht.[21] Die (Gesell-)Priester wurden gesondert bezahlt; auch der Mesner erhielt seine eigenen Vergütungen. Für alle Ausführenden erbrachten die Sakramentsumgänge und die gestifteten Jahrtage eine Art Grundgehalt, das zwar von der Kirchenverwaltung garantiert wurde, jedoch seinerseits nur auf dem Zinseinkommen privater Stiftungen beruhte. Dieses Einkommen wurde öfters durch Zusatz-Stiftungen erhöht,[22] oder es verringerte sich, weil die Rendite der Stiftungen zurückging.
Für ihre Mitwirkung an einzelnen gestifteten Jahrtagen erhielten die Priester und Sänger sowohl Geld als auch Sachvergütungen wie Mahlzeiten. Regelmäßig abgerechnet wurde eine jährliche „Zehrung“ am Morgen des Weihnachtstages für Gesellpriester, Schulmeister, Mesner, Astanten und Schüler, die einen stabilen jährlichen Kostenfaktor des Kirchprobstes ausmachte. 1480 z. B. reichte man „schulern astanten schulmaister mesner und iren helfern nach der metten an Cristtag“ eine „Vormesse mit sup fleisch wurstn sultzn und anders“, und bezahlte für diese insgesamt 58 Personen den typischen Betrag von 1 mr. [Mark] 4 £ [Pfund] 9 gr. [Groschen], d.h. 14 £ 9 gr. (» I-BZac Hs. 644, fol. 33v).
Ausgaben für Jahrtage
Eine typische Abrechnung verschiedener Zuwendungen des Jahres 1478 zeigt die » Abb. Ausgaben für Jahrtage.
Transkription:
Ausgeben auff Jartag und andere Stifft so von der kirchen weschehen [geschehen] sollen
Item dem Schulmayster und Schulern vonn dem vorgang des sacraments auff ain gantz jar facit [beträgt] 1 mr. 2 £ (= 12 £)
Item am montag nach Valentini als der jartag des pfruntners ist gehalten erst zu dem almusen geben prot fur 3 £ 2 gr. den sundersiechen [Schwerkranken] in das spitall messner unnd astannten 13 mass weyn unnd ayn suppen facit alles 4 £ 11 gr.
[3 £ 2 gr. davon ausgegeben für Brot für die Kranken im Spital]
Item an freitag vor Cantate gerayt [abgerechnet] mit dem mesner vonn wegen aller jartag so vonn der kirchen gehalten sindt vonn freitag nach Corporis X.i [Corpus Christi] des 78 jars untz auff obgeschriben [bis zum obengenannten] tag hat sein tayl pracht so man im darfon geben sol 1 mr. 5 gr.
Item vonn der Stoffel Spetzgerin öll licht zuntterlon nach innhalt der k[n]ewsselin geschafft [für das Anzünden des Öllichts, nach der Kneusselin Stiftung] dem mesner [ge]geben 3 £
Item am Pfintztag (Donnerstag] von Peter et Pauli (29.6.) als man der albertin jartag hat beganngen ist zu dem almussen verbraucht prot fur 5 £ p[erner] d.
Mere dem mesner unnd auff dy schul 4 mass wein facit 6 gr. 2 f.[fierer]
Item als abgerayt mit dem ingram [dem Mesner Ulrich Ingram] vonn wegen der jartag so nach der nachsten Raytunng [Rechnung] der kirch ist gehalten bringt [= beträgt] so ich im han abzalt [sic] abzogen [vermutlich eine Vorauszahlung, die „ich ihm von der nächsten Jahreszahlung abgezogen habe“] 1 £ 10 gr.
Item gerayt mit dem schulmaister pringt so er verdient von den jartagen unnd gesungen hat mit den virgo der Keusselin [eingerechnet die virgo-Zeremonie der Keusselin-Stiftung] 1 mr. 4 £ 3 gr.
[Nachtrag:] Item die gestiffteten Jartag mitsambt den Wochenambt [wöchentlichen Messen] des Weineckers der Wolkenstainerin und der Stoffel Spetzgerin stift bringt als so den briestern zugehort und ditz jars gehalten haben Innha[l]t irer zedel [gemäß Inhalt ihrer zettel] 9 mr. 4 £
summa huius [Summe davon] 14 mr. 5 £ 11 gr. 2 f.
Das Salve regina des Rats
Haslers Urbar vermerkt auf fol. 95r: „Das Salve regina, das man täglich singen soll vor dem Fronamt in der Pfarrkirche zu Bozen, hat gestiftet weiland Hainreich Franchk, der ein Bürger zu Bozen, hernach ein Bürger zu Wien gewesen ist. Es hat beurkundet Johannes der Notar aus der Wangergasse Anno domini (1400 X 31).“[23]
Die Stiftung Heinrich Francks begünstigte eine Form der Marienverehrung, die in mehreren Regionen Europas verbreitet war. Das Salve-Singen (vgl. auch » D. SL Waldauf-Stiftung) wurde anderswo gewöhnlich am Abend nach der Komplet veranstaltet; in Bozen war für die Einordnung am Vormittag vor dem Fronamt (Hochamt) vielleicht ausschlaggebend, dass man die Mitwirkung der jungen Schüler sicherstellen wollte, die an Werktagen abends nach der Vesper für eineinhalb Stunden Latein zu lernen hatten, bevor sie heimgingen.[24]
Etwas Besonderes ist in Bozen auch, dass nicht die Kirche, sondern der Stadtrat für die regelmäßige Entlohnung des Salve-Dienstes aufkam, ja dass dieser sogar als eine Art städtischer Anstellung gelten konnte. Heinrich Franck hatte offensichtlich die Stadtverwaltung, nicht die Kirche, mit seiner Stiftung bedacht. Nun erhielt der Schulmeister mit Junkmeister, Astanten und Schülern von der Stadt jährlich 1 mr. (=10 £), die Gesellpriester ebenfalls zusammen 1 mr., der Kirchprobst und Mesner je 4 £. (Ab 1474 waren es nur noch je 8 £ bzw. 3 £.: das Stiftungseinkommen war offenbar zurückgegangen.)
Man fragt sich, woraus dieser Gesangsdienst eigentlich bestand, wenn außer dem Schulmeister mit Schülern, Astanten und Junkmeister auch Gesellpriester, Mesner und Kirchprobst entlohnt wurden. In Haslers Urbar ist unter den genau spezifizierten Pflichten des Mesners – die u. a. das Glockenläuten, Versorgen der Kerzen und der Chorgewänder umfassten – kein Salve-Dienst erwähnt. Die Gesellpriester waren offenbar nur als Gesangskräfte tätig, da keine Messe zelebriert wurde; der Mesner musste wohl ausgiebig Glocken läuten; der Kirchprobst hatte immerhin die Auszahlung der städtischen Gelder an die Mitwirkenden zu veranlassen. Es ist möglich, dass diese tägliche Zeremonie ihren besonderen Aspekt in der Musik hatte, dass außer der Antiphon Salve regina, mater misericordie auch andere Gesänge zu Gehör kamen, und vielleicht sogar, dass hier ein Ansatzpunkt für die Einführung mehrstimmigen Singens war.[25] Zum Vergleich mag eine wöchentliche Zeremonie dienen, die 1400 von Diemut Albert (Albertin) gestiftet worden war: Alle Sonntage nach der Vesper mussten Gesellpriester, Schulmeister und Schüler um die Pfarrkirche und St. Nikolaus herumgehen und für die armen Seelen Absolve domine – den Tractus der Totenmesse – singen sowie nach alter Gewohnheit für die armen Seelen beten.[26] Diese Bittprozession dürfte weniger Möglichkeiten zu musikalischer Entfaltung geboten haben.
Das Bozner Ansingen
Fest verankert ist in Haslers Urbar und den Kirchprobstrechnungen ein Brauch, der keiner Stiftung oder notariellen Beurkundung bedurfte: das „Ansingen“, d. h. das weihnachtliche Singen der Schüler in den Gassen der Stadt, das mit reichen Geldspenden der Bürger belohnt wurde. Wie in vielen anderen europäischen Zentren war diese Praxis, später oft „Kurrende“ genannt (» H. “Kurrende”), ursprünglich eine Unterstützungsmaßnahme für die armen Schüler der Chorschule, die im Gegensatz zu den wohlhabenden ihre Schulgebühren und den täglichen Unterhalt nicht von der Familie bezogen, sondern selbst „ersingen“ mussten. In der Bozner Pfarrschule des 15. Jahrhunderts gab es zwar Differenzierungen zwischen reichen und armen Schülern (vgl. Kap. Junkmeister), doch ist beim Ansingen nie davon die Rede, dass es nur von den Letzteren ausgeführt werden solle. Das ersungene Geld wurde dem Schulmeister überbracht und an alle Sänger verteilt – allerdings nach Regeln, die sich im Laufe der Zeit änderten. Die in Christoph Haslers Urbar kopierte Schulordnung sieht vor, dass der Schulmeister 5 £ der ersungenen Geldsumme behalten solle – doch trägt Hasler selbst dort nach (gegen 1460), es sollten Schulmeister und Junkmeister gar nichts von diesem Geld erhalten, sondern die Schüler mögen es unter sich gleichmäßig verteilen. Wiederum bezeugen später die Kirchprobstrechnungen neben der pekuniären Entlohnung eine „Zehrung“ zu Weihnachten oder einige Tage danach (1490 fand sie am 1. Januar statt). Sie bestand aus einer üppigen Mahlzeit mit Wein, die nur den Ansingern und allen von ihnen gleichermaßen zukam; in den 1480er Jahren ist sie mehrmals mit über 20 £ veranschlagt. In manchen Jahren gab es bis zu vier einzelne Mahlzeiten, jeweils nach dem täglichen Umgang. Trotzdem war das über die Kosten der Zehrung hinaus Ersungene fast jedes Jahr eine Summe zwischen 70 und 120 £ – eine der stattlichsten Einnahmen des pfarrkirchlichen Gesangsunternehmens. Seit etwa 1485 wurden spezielle Geldsammler verpflichtet, die den Ansingern folgten und für ihre Mühe auch mit entlohnt und verköstigt wurden.
Die Bozner Ansinger des 15. Jahrhunderts waren demnach nicht die armen, sondern die gesanglich besonders begabten Schulknaben. Sie wirkten zusammen mit Schulmeister, Astanten und Junkmeister. Im Jahre 1501 (» I-BZac Hs. 658) waren unter Leitung von Schulmeister Treibenraif (Petrus Tritonius, ein Komponist von Humanisten-Oden, » I. Odengesang) acht Ansinger tätig, die an vier Tagen in der Weihnachtszeit herumgingen und an jedem Abend danach eine Mahlzeit erhielten. Unter ihnen können nur höchstens vier oder fünf junge Schulknaben gewesen sein, die anderen waren ein oder zwei „große Gesellen“ (Astanten), der Junkmeister und der Schulmeister selbst, eine für damals typische Gruppierung zum Vortrag mehrstimmiger Musik (besonders vierstimmiger). Der venezianische Reisebericht von Andrea de‘ Franceschi bezeugt im Jahre 1492 entsprechende Ensembles in Klausen und Sterzing (» D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen). Schon Haslers Urbar impliziert eine solche Gruppierung, da er an einer Stelle des Rundgangs die Teilung in eine größere und eine kleinere Gruppe empfiehlt, von der die kleinere zwei oder drei Mitglieder habe.
Diese Beschreibung des Umgangs der Bozner Ansinger in Haslers Urbar (» F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 135r–135v, um 1460) ist ein beredtes Dokument für die soziale Topographie der Stadt und die musikalische Praxis. Für weitere Angaben zu solchen Umgängen vgl. » H. “Kurrende”.
Junkmeister, Astanten und das Musikstudium der Knaben
Die Archivalien weisen übereinstimmend den Junkmeister oder succentor als den persönlichen Gehilfen des Schulmeisters aus, der von ihm Weisungen erhielt und ihn vor allem im Gesang und auf der Schule unterstützte. Aus dem Ratsprotokoll von 1475 (» I-BZac Hs. 4, fol. 5r, 7r–7v; » Kap. Stadtrat, Pfarrer und Schulmeister) geht indirekt hervor, dass der Schulmeister seinen eigenen succentor mitbrachte, wenn er neu angestellt wurde. Dieses Abhängigkeitsverhältnis ging wohl des Öfteren auf eine gemeinsam verbrachte frühere Karriere oder Universitätsausbildung zurück. Jedenfalls sollte der Schulmeister einen „guten, frommen, wohlgelehrten und ehrlichen“ succentor mit „Rat und Willen“ des Pfarrers und des Kirchprobstes selbst einstellen (» F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 129v).
Allgemein waren um diese Zeit die succentores gebildete junge Männer, die oft schon einen Universitätsgrad besaßen; Latein und Gesang lehren mussten alle von ihnen. Manche wurden zu Schreibdiensten herangezogen oder führten Protokolle. Der Bozner Junkmeister kopierte in den Jahren 1498–1510 die Kirchprobstrechnungen, und 1495–96 wurde das Bozner Himmelfahrtsspiel vom ihm abgeschrieben (» Kap. Spielleiter und Texte).
Die Astanten waren ältere Schüler, die eifrig „studieren“ sollten und als Hilfslehrer arbeiten mussten. Der Bildungsgrad eines Bozner Astanten, dessen Namen wir kennen, tritt besonders hervor: Nicolaus Pfaldorff, Astant in Bozen, verfertigte im Jahre 1471 einen noch erhaltenen astronomischen Kalender.[27]
Zu den Pflichten des Junkmeisters gehörte in Bozen zunächst das Singen in allen Veranstaltungen, an denen der Schulmeister beteiligt war (und für die er normalerweise mitbezahlt wurde), also den Sakramentsgängen, Salve-Regina-Diensten und dem Ansingen – aber vor allem war er für den gesungenen Choral in Mette, Vesper und Messe zuständig. In der Schule hatte der Junkmeister dieselben Unterrichtsaufgaben wie der Schulmeister, einschließlich der allgemeinen Disziplin, der lateinischen Grammatik und des Choralgesangs. Die Knaben, „die zu singen geschickt waren“, sollten je nach Bedarf am Samstag von morgens bis um 1 Uhr nach Mittag Gesang (cantum) lernen, ebenso zwei bis drei Tage vor Hochfesten (F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 129r)[28] oder wenn nötig jeden Tag zur Vesperzeit. Sicher dienten zu solchem Studium die zwei Schultafeln, die der Schulmeister im Jahre 1485 um 1 £ 2 gr. anschaffte, „daran er den knaben gesangk notiren mag“ (» I-BZac Hs. 648, fol. 36r). Schon im folgenden Jahr 1486 konnte Schulmeister Brictius mehrere Schultafeln in der Schule mit „Regeln“ (Notensystemen) vorbereiten lassen und bei zweien davon „wieder anders darin malen“, was vom Stadtrat bezahlt wurde (» I-BZac Hs. 650, fol. 40r). Haslers Urbar (F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 131r) fordert ausdrücklich, dass die Knaben das Versikel Benedicamus (domino) und die Responsoriumsverse der Matutin gut singen lernen, denn diese mussten sie allein vortragen, ohne die Priester und großen Gesellen. Der Kirchprobst empfiehlt den Schülern aus demselben Grund auch ein intensives Studium des planctus [Mariae] in der Karwoche – der Marienklage, die als halbdramatische Aufführung in Kirchen ganz Europas gehört wurde –, wobei die Ausführung von Marias Gesang allein durch Knabenstimmen eine gewisse realistische Note erhielt.
Das Einkommen des Junkmeisters war anders strukturiert als das des Schulmeisters, da er kaum an den Ausschüttungen der großen Jahrtagsstiftungen oder sonstigen Zins- und Renteneinkünften beteiligt war (F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 133r–143r). Von den Spenden der Karwoche und beim Ansingen durfte er nach dem älteren Schulstatut eine bestimmte Portion abzweigen. Er wurde zum Teil von den Schulkindern selbst bezahlt, die die Hälfte ihres Brots den „armen Gesellen“ und dem Junkmeister anbieten mussten. Soweit sie dies nicht wollten, hatten sie ihre „Presentur“ in der Form von einem „Fierer“ (4 d.) pro Woche an den Junkmeister abzuführen. Mit den armen Gesellen – den Astanten, die beim Gesang wie beim Unterricht mithelfen mussten – verband den Junkmeister mehr als nur ein Gehaltsinteresse: Er war prinzipiell selbst einer von ihnen. Auch den armen Schulknaben übertrug er spezielle Aufgaben; jedenfalls musste er einen armen Knaben im Winter als Heizer (calfactor) in der Schule anstellen, der außerdem die Schule kehrte. Er war ferner verantwortlich für eine bescheidenere (und ältere) Form des bezahlten Ansingens: das Recordatum, das die armen Schulknaben für eine Stunde wöchentlich in der Stadt ausführen durften. Was sie dabei ersingen konnten, lieferten sie dem Junkmeister ab, der ihnen von jedem Kreuzer einen Fierer zurückgeben musste (d. h. 4 von 12 d.). Und schließlich durften die großen Gesellen jeden Sonntag mit dem Junkmeister zu Abend essen und vor dem Pfarrhof die Antiphon Nigra sum, sed formosa singen: Dafür bekam der Junkmeister 13 Fierer, von welchen er 6 Fierer den Gesellen für Wein gab, den er dann aber mit ihnen „vertrinken“ durfte.
Orgelbau
Orgeln und Orgelspiel erlebten in vielen Städten Zentraleuropas einen großen Aufschwung im mittleren und späteren 15. Jahrhundert (» C. Orgeln und Orgelmusik). Die Bozner Archivdokumente seit 1470 belegen vergleichsweise enorme Ausgaben für den Bau und Erhalt der Orgeln. Die Kosten für den traditionellen Choralgesang und das kunstvolle Ansingen waren verschwindend gering im Vergleich mit den Sach- und Personalausgaben des Orgelwesens. (Vor 1470 dürften ähnliche Verhältnisse geherrscht haben.) Das finanziell umfassendste Projekt war der gleichzeitige Bau einer kleinen und einer großen neuen Orgel durch den berühmten Spezialisten Burkhard Distlinger (Distlunger, Dischlinger) aus Ingolstadt in den Jahren 1484–86. Die kleine Orgel stand hinter dem Hochaltar, die große an der Nordwand des Hauptschiffes.[29] Vermutlich war der Grund für diese Neuinvestition der Brand vom April 1483, über den der Pilger Felix Fabri am 20. April berichtete, die Stadt sei total abgebrannt, nur seien wunderbarerweise die Kirchen und Klöster verschont geblieben.[30] Das scheint nicht der Fall der Orgel gewesen zu sein, die wohl zusammen mit anderem Gerät der Pfarrkirche zerstört oder beschädigt wurde. Im Rechnungsjahr 1484–85 (» I-BZac Hs. 648, fol. 35v) bezahlte Kirchprobst Sigmund Zwickauer 22 mr. (=220 £) an Magister Burkhard den „orgelmaister“ für die Arbeit an beiden Orgelwerken „auf sein Geding“ (auf seine Verpflichtung hin). Im Rechnungsjahr 1485–86 (» I-BZac Hs. 649, fol. 41r) folgten noch einmal 60 mr. 5 £ (=605 £) an „Maister Burkharten Distlunger orgelmaister“ für seinen Sold über das von Zwickauer Vorgestreckte hinaus. Dies waren Gehaltszahlungen, obwohl vom Orgelbauer mitgebrachtes Material wahrscheinlich einbezogen war.[31] Wichtige Anschaffungen für die beiden Orgelwerke wurden jedenfalls vom Kirchprobst bezahlt, wie z. B. 4 mr. für Zinn, das Distlunger auf dem Ägidienmarkt in Nürnberg gekauft hatte (» I-BZac Hs. 650, fol. 26r), 6 mr. 5£ 6 gr. für 15 kleine Ochsenhäute zu den Blasbälgen (StA Bozen, Hs. 649, fol. 32v), oder auch 4 gr. für einen Wagen Sand, um Metallguss vorzunehmen (Hs. 648, fol. 34r). Gebaut wurden die Orgeln „im Kloster“, vermutlich dem nächstgelegenen der Dominikaner.
Allein die Ausgaben für den Orgelbau nehmen in den Kirchprobstrechnungen von 1486 (StA Bozen, Hs. 650) sieben Seiten ein. Die kleine Orgel wurde im Jahre 1487 „überstimmt“; hier gab es eine Zehrung für Burkhard Distlunger und alle Knechte und Gesellen, die geholfen hatten, für 24 £ 4 gr. (» I-BZac Hs. 651, fol. 41r). Inzwischen hatte bereits ein anderer Spezialist, „Meister Matthias Orgelmeister“, 20 mr. für weitere Arbeiten verdient (Hs. 651, 36r) und im Rechnungsjahr 1488–89 erhielt er noch einmal 20 mr. (» I-BZac Hs. 652, fol. 25v). Viele kleinere Posten betreffen die Entlohnung von Helfern, wie den Knechten des Orgelbauers oder den Knaben, die beim Stimmen die Blasbälge zogen, oder auch von Helfern beim Stimmen der neuen Orgeln, darunter den Organisten Paul Rauch, der im Frühjahr 1482 angestellt wurde.
Organisten
Organisten aus der Umgebung wurden in die Begutachtung oder Bespielung der neuen Orgeln einbezogen, wie z. B. ein „Meister Paule“ (» I-BZac Hs. 649, fol. 42v), der nicht mit Paul Rauch identisch sein kann, denn dieser wird nie „maister“ genannt. Somit ist der Eintrag im Rechnungsjahr 1485–86 „für maister paulen als er hie gewesen die orgel besichtigt auß befels rats (nach Anweisung des Stadtrats)… 8 £ 8 gr.“ (StA Bozen, Hs. 649, fol. 42v) möglicherweise auf Paul Hofhaimer zu beziehen, der damals am Innsbrucker Hof diente (» C. Orgeln und Orgelmusik).
Die Organisten der Pfarrkirche wurden vom Stadtrat bestellt; der erste namentlich genannte Organist, Meister Erhard, ist schon im ältesten Ratsprotokoll der Stadt von 1469 erwähnt.[32] Andere lösen sich dann in dichter Folge ab, so dass man schwierige Anstellungsbedingungen vermuten kann. 1478 erscheint ein Caspar, 1483 Nicholas von Werdt (=Donauwörth) – vielleicht nur als Gutachter –, dann wieder Paul Rauch, ein gewisser Wolfgang, ein ungenannter Priester – der zu Weihnachten 1487 spielte –, Matthias Herbart (1494–98) und andere. Die Vermutung, dass die Orgel durch den Brand im April 1483 zerstört wurde, bestätigt sich insofern, als zwischen Ostern und Pfingsten 1483 kein Organistengehalt bezahlt wurde, erst wieder für die Zeit von Pfingsten bis Fronleichnam und zwar als bloßer Tagelohn zu 6 gr. pro Tag (» I-BZac Hs. 646, fol. 35r). Wahrscheinlich wurde damals nur ein Positiv verwendet. Einstellung, Vergütung und Verköstigung der Organisten und ihrer Helfer, vor allem der Blasbalgzieher, blieben bis ins 16. Jahrhundert ein vorrangiger Budgetposten der Kirche. Zumindest die Messenstiftung der Familie Liechtenstein verlangte 1498 explizit nach Orgelbegleitung (» I-BZac Hs. 656, fol. 25r), doch kann dies keine Ausnahme gewesen sein.
Glocken
Unter den vielen Aufgaben des Mesners sei hier das Glockenläuten hervorgehoben, dessen komplexe Regeln in Haslers Urbar auf fol. 121r–122v ausgebreitet sind.[33] Der Mesner führte das Läuten selbst mit seinen Knechten aus, die er von seinem Gehalt entlohnte. Die damals vier Glocken der Pfarrkirche (ihre Stimmung scheint nicht bekannt) wurden einzeln oder zusammen angeschlagen, jedoch ergab sich die präzise Signalfunktion, die der Ankündigung liturgischer Tagzeiten diente, vor allem aus dem Rhythmus der Läutzeichen, wobei Glocke 1 mit der höchsten Tonstufe gewöhnlich zuerst angeschlagen wurde und Glocke 4 mit der tiefsten zuletzt. Man unterschied bei jeder Glocke ein „kleines Zeichen“ und ein „langes Zeichen“. Vesper, Frühmesse und Fronamt wurden an Werktagen mit dem kleinen Zeichen zuerst von Glocke 1, dann von Glocke 2 und anschließend alle vier zusammen angeläutet. An Sonn- und Feiertagen läutete man die Messen mit dem kleinen Zeichen der Glocken 1, 2 , 3 und 4 nacheinander, dann zusammen ein. (Somit hatte das einzelne Anschlagen von Glocke 3 gewissermaßen die Funktion, Sonntage von Werktagen zu unterscheiden.) Die Sonn- und Feiertagsvesper wurde in derselben Reihenfolge, aber mit dem langen Zeichen eingeläutet. Zur Frühmesse an Sonn- und Feiertagen erklang Glocke 4 erst zur Wandlung, um den Stadtbewohnern auch sinnfällig anzuzeigen, wann sich im Ritus innerhalb der Kirche das Wunder der Transsubstantiation ereignete. Nach der Frühmesse läutete die große Glocke allein zum Ave Maria, wie es „von alters“ her Brauch war: hier handelt es sich offenbar um eine ältere historische Schicht der Glockenkunst, in der der Ton einer einzelnen Glocke – der größten – einen bestimmten Ritus allein repräsentierte. Man sollte schließlich nicht vergessen, dass die Stadt von den Glocken nicht nur der Pfarrkirche, sondern auch der Kapellen und Klöster akustisch bedient wurde, was große Hörgewöhnung erforderte. (» E. Klang-Aura)
Buch- und Schriftwesen
Die Kirchpröbste, die oft höhere Bildung besaßen, fühlten sich für die Ausstattung der Kirche und Schule mit Büchern verantwortlich. Traditionell waren europäische Chorschulen immer schon Zentren für Buch- und Schriftkultur gewesen. In Bozen wie anderswo wurden gegen Ende des 15. Jahrhunderts die zum praktischen rituellen Gebrauch verwendeten Bücher – wie Missalien, Antiphonare, Psalter usw. – zum Teil noch selbst geschrieben. Der Bedarf stieg jedoch so sehr an, dass sich in den Rechnungen Ausgaben für Kopieraufträge von auswärts sowie den Ankauf von Büchern häuften. Auch im administrativen Bereich – wie bei Rechnungsbüchern, Protokollen, Grundbucheinträgen, Urkunden – nahm der Schreibbedarf der Kirche stetig zu. Außer dem Schreiben verlangte die kostspielige Produktion und Erhaltung von Büchern natürlich den Ankauf von Pergament oder Papier, Schreibgerät, ledernen oder hölzernen Einbanddeckeln (die man vom Tischler bestellte) und Metallschließen sowie das oft mehrfache Binden oder Neubinden derselben Codices, wenn sie erweitert werden mussten. Hier sei der Inhalt der Codices besonders beachtet, weil er meist auch zu Aspekten der Musikpraxis führt.
Im Rechnungsbuch von 1485–86 vermerkt Kirchprobst Hans Rungkär (» I-BZac Hs. 649, fol. 40r): „So hab ich lassen Schreiben aus Mangel an neuen Sequencionarii Herrn Jacoben Gesellen auf der Pfarr gewesen der hat 22 Quatern hab ich ihm geben für Schreiben und Illuminieren von einem Quatern 30 gr. bringt 5 mr. 5 £.“
Ein Sequentionar ist normalerweise ein notiertes Chorbuch; der vormalige Gesellpriester Jacob (wirkte er inzwischen an einer anderen Kirche?) hatte wohl genügend musikalische Erfahrung, um die von ihm kopierten und „illuminierten“ Texte auch mit Noten zu versehen. Diese Auftragsarbeit brachte ihm 55 £ ein – wiederum weit mehr als das Jahresgehalt des Schulmeisters. Auf diesen 22 Quaternen (d. h. 176 Blättern, 352 Seiten) dürften etwa 30–40 Sequenzen Platz gefunden haben, wenn ein großformatiges Chorbuch gemeint war. Dies bedeutete eine beachtliche Erweiterung des offiziellen musikalischen Repertoires, selbst wenn die Stücke schon in anderen Abschriften verstreut existierten. Vermutlich wurden in dieser Zeit viele neue Sequenzen, die vor allem bestimmten Heiligen gewidmet waren, aus Quellen anderer Kirchen und Klöster in die Liturgie der Pfarrkirche aufgenommen und neu einstudiert.
Dass die Buchproduktion der Entwicklung des Rituals folgte, belegt u. a. ein Eintrag von 1475 (» I-BZac Hs. 641, fol. 4r), demzufolge ein Schreiber „auf der Schul“ einen Gesang zu Fronleichnam „brechen“ (d. h. mit Noten zu kopieren) hatte; er bekam für zwei Sexterne (24 Blätter, 48 S.) insgesamt 2 £ 6 gr. Das war Platz genug für das gesamte Fronleichnams-Offizium (hatte man es denn noch nicht?); wie im vorigen Fall ist anzunehmen, dass Format und Schriftgröße für ein großes, auf einem Pult aufgelegtes Chorbuch bestimmt waren. Manche Arbeiten wurden von Frauen ausgeführt; so bekam „die Ettenhoferin“ 1481–82 (» I-BZac Hs. 645, fol. 20v) 6 gr., „um 3 register in die großen Gesangbücher (zu) geben“. Der Pfarrer war ebenfalls behilflich, als er 1481–82 (Hs. 645, fol. 32r) ein Antiphonale, ein römisches Messbuch und ein (im Chor) angekettetes Brevier neu binden ließ sowie „an etlichen Büchern etwas gebessert“ hatte, wofür ihm 3 mr. 9 £ bezahlt bzw. erstattet wurden.
Mehrmals tritt der Kirchprobst selbst als Buchkäufer in Erscheinung. Im Rechnungsjahr 1485 (» I-BZac Hs. 648, fol. 41r) vermerkt Sigmund Zwickauer mit offenbarer Genugtuung, er habe auf dem Andreasmarkt (30. 11.?) für die Schule eine neue Grammatik um 1 £ 8 gr. gekauft; dazu „han ich kaufft ain hubsch buch für die schul genantt vocabularius mit vil hubschen dingen den schulern zu underweysung für 4 £“.
Gegen Ende des Jahrhunderts wurde das musikalische Schriftwesen ansatzweise „professionalisiert“, indem Spezialisten langfristig viele Aufträge erledigten und Musiker das Notieren besorgten. Ein „Johannes Schreiber“ erhielt 1488–89 (» I-BZac Hs. 652, fol. 26v) für seine Arbeit – wohl über lange Zeit hin – den beachtlichen Betrag von 41 mr. (= 410 £), den er quittierte, dazu 3 £ für eine Truhe, in die er die Quaternen zu legen hatte (zur Inspektion und zum nachfolgenden Binden). Das Pergament, bei zwei Pergamentmachern aus Kempten bestellt, belief sich auf insgesamt 325 Häute, zusammen 16 mr. 9 £ 8 gr. Dass der gesamte Aufwand für ein einziges Graduale bestimmt war, wie die Überschrift „Ausgebn auff das Gradual“ anzugeben scheint, mag verwundern: Es dürfte zumindest großformatig gewesen sein und für ein Ensemble von etwa acht Sängern gedient haben.[34]
„Johannes Buchschreiber“ arbeitete noch 1489–90 an einem Graduale; er war sicher identisch mit dem „Johannes Notisten“, der 1494–95 (» I-BZac Hs. 654, fol. 54r) eine Messe für St. Achatius mit 21 Kollekten (Gebeten) schrieb, und vielleicht auch mit dem „Johannes altisten“, der zur selben Zeit Zehrung sowie einen Rock aus Loferer Tuch bekam. Schon bald wurden auch liturgische Drucke angeschafft, so im Jahre 1501 (» I-BZac Hs. 658, fol. 41v) zwei gedruckte Messbücher für 7 £ aus Venedig, möglicherweise aus der damals schon tätigen Offizin des Druckers Lucantonio Giunta. Allerdings musste in Bozen der Dominikanermönch Niclaus die Codices erst noch binden (für 3 £), und „eine Frau“ bekam für das Schreiben der Register 3 £ 4 gr. (StA Bozen, Hs. 658, fol. 42v).
Polyphonie
Der Bozner Petrus Tritonius (Treibenreif, 1465–ca. 1525), ein Komponist von Humanisten-Oden und Freund von Conrad Celtis, war Schulmeister der Pfarrkirche im Jahre 1501; und fast mit Sicherheit war der in den 1490er Jahren tätige „Altist“ Johannes Mitglied eines Ensembles für polyphone Musik (er sang den contratenor altus), denn im Kirchenchoral gab es für diese Spezialisierung keinen Bedarf. Entsprechendes gilt für die Person des Schulmeisters Benedikt Debs, der nach seinem Tod (1515) als „berühmter Notist und Bassist“ bezeichnet wurde (» H. Sterzinger Spielarchiv).
Die Anfänge mehrstimmiger Praxis sind in Bozen jedoch viel früher zu suchen. Um 1455 schrieb der Bozner Priester Johannes Lupi (Volp) ein eigenhändiges Testament, das sein Expertentum in mehrstimmiger Musikpraxis belegt (» G. Johannes Lupi).[35] Das Testament blieb Entwurf und kam wohl deshalb nicht zur Ausführung, weil Lupi erst 1467 starb. Er war 1443 Organist am Dom von Trient geworden, hatte aber schon seit 1431 die Kaplanei der St.-Jakobskapelle auf dem Friedhof der Bozner Pfarrkirche besessen, die ihm von seinem damaligen Dienstherrn, Herzog Friedrich IV. von Österreich-Tirol, verschafft worden war. Eigentümer der Kapelle war die einflussreiche Korbflechter-Bruderschaft, die später mit der Fronleichnamsbruderschaft vereinigt wurde. Johannes Lupi ernannte den damaligen Kirchprobst Christoph Hasler jun. zum Testamentsvollstrecker für seine Bozner Angelegenheiten. Mehrere Hinweise im Text, wie z. B. „Hasler soll das verwalten“ (ut emat vel disponat Hasler) deuten auf ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den beiden Männern. Die im Testament genannten Geldkredite sowie Zins- und Renteneinkünfte in der Stadt Bozen beweisen Lupis zumindest wirtschaftlich enge Verbindung mit seiner Heimatstadt. Er stiftete auch seinen Jahrtag in der Bozner Pfarrkirche, nicht am Dom von Trient, wo er selbst ansässig war. Die Gründlichkeit und systematische Anlage seines Testamentsentwurfs sind jener geistigen Erfassung komplexer Wirklichkeit verwandt, die auch Haslers in denselben Jahren geschriebenes Urbar kennzeichnet.
Lupi besaß viele Musikinstrumente, die er Mitgliedern des Trienter Domkapitels hinterlassen wollte. Seine „sechs Bücher mit cantus figuratus, kleine und große“ (» G. Johannes Lupi), jedoch vermachte er der fabrica (Kirchenfabrik) der Bozner Pfarrkirche, deren Vorstand der Kirchprobst war. Diese cantionalia, wie er sie nennt, dürften dazu bestimmt gewesen sein, die Pfarrkirche mit Musik zum täglichen Gesangsdienst auszustatten. Nun konnten weder Lupi noch Hasler um 1455 ein auf cantus figuratus (mensurale Mehrstimmigkeit) spezialisiertes Ensemble aus dem Boden stampfen, um den Ansprüchen des vererbten Materials zu genügen. Vielmehr muss ein solches Ensemble schon existiert haben und der Grund für die beabsichtige Hinterlassenschaft gewesen sein. Dieses Ensemble dürfte aus den „zum Singen geschickten“ Schulknaben, ihrem Schulmeister und Junkmeister sowie einigen der Astanten und Gesellpriester bestanden haben.
Verbindung zu den Trienter Codices
Lupis Musikhandschriften gelangten 1455 wohl nicht nach Bozen, sondern verblieben in Trient, wo er weiterhin wirkte. Somit könnten sie teilweise mit den heute dort vorhandenen Trienter Codices identisch sein, vor allem mit den zwei ältesten Sammelbänden (» I-TRbc 87 und » I-TRbc 92), deren größter Teil von Johannes Lupi selbst um 1439–43 geschrieben worden war.[36] Möglicherweise gehörte auch ein umfangreicher, von anderer Hand um 1450–55 geschriebener Trienter Codex (» I-TRcap 93*) zu Lupis Hinterlassenschaft.[37] Kürzlich wurde jedoch in Bozen-Gries das Fragment einer weiteren Musikhandschrift entdeckt (von Giulia Gabrielli, » F. SL Bozner Fragment), das von derselben Hand geschrieben ist wie I-TRcap 93* und sich mit deren Inhalt ergänzt: I-TRcap 93* enthält hauptsächlich Polyphonie zur Messe, das Bozner Fragment hingegen zum Offizium (» Abb. Bozner Fragment Inhaltstabelle).
Das Bozner Fragment enthält nicht weniger als drei verschiedene Vertonungen der Marienantiphon Salve regina misericordie. Die Vermutung liegt nahe, dass ein solches mehrstimmiges Salve regina bei den Bozner Salve-Diensten (» Kap. Das Salve regina des Rats) um 1455 ausgeführt worden sein könnte. Sicher sind beide Handschriften um 1450–55 für dieselbe Institution angefertigt worden: Es war mit grosser Wahrscheinlichkeit die private Kapelle des Bischofs von Trient, Georg Hack (1448-1465), wie in » K. Kap. Der Auftraggeber dargestellt wird.
Geistliches Spiel und Umzug
Der Beginn der berühmten Bozner Spieltradition geht einer alten Chronik zufolge ins 14. Jahrhundert zurück: Schon 1340/41 soll der Vorsatz gefasst worden sein, alle drei Jahre ein Spiel für den Hl. Georg und die Hl. Margareta aufzuführen, was 1421 bestätigt worden sein soll.[38] Dieser Legende widersprach bereits 1736 der Stadtschreiber Paul Falser, der vergeblich nach diesbezüglichen Urkunden suchte.[39] Jedoch ist der Fronleichnamsumzug mit St. Georg, St. Margareta und dem Drachen (Lindwurm) sicher vor 1470 regelmäßig ausgeführt worden.
Bozen war zwischen etwa 1472 und 1525 der bedeutendste Spielort der sogenannten Tiroler Spieltradition (» H. Musik und Tanz in Spielen), deren Überlieferung zum größeren Teil aus geistlichen Spielen zu Herrenfesten (Passion, Auferstehung, Christi Geburt, Himmelfahrt, Fronleichnam) besteht. Von hier zu der Aussage, dass Bozen damals das überhaupt aktivste Zentrum des deutschsprachigen geistlichen Spiels gewesen ist, wäre es nur ein kleiner Schritt. Die Archivbelege des Bozner Spielbetriebs nehmen in der umfassenden Quellenedition von Bernd Neumann den bei weitem größten Raum deutschsprachiger Orte ein.[40] Ermöglicht wurde diese Praxis durch die Wirtschaftskraft der Stadt und die Theaterbegeisterung ihrer unentgeltlich mitwirkenden Bürger, die in den Spieltexten seit 1495 zu Dutzenden namentlich genannt sind.[41] Dazu kam die handwerkliche Ausstattung durch ortsansässige Maler, Tischler, Schneider, Schuster und andere bezahlte Handwerker und Arbeiter; ebenso wichtig war die Veranstaltung durch die Kirche, die künstlerische Leitung durch den Schulmeister und die musikalische Mitwirkung von Kirchensängern. Wie weit die jährlich wiederkehrende Veranstaltung der Spiele um 1500 das soziale Gefüge der Stadtbevölkerung sowohl heranzog als auch repräsentierte, wurde von Hannes Obermair auf Basis der Rollenverzeichnisse eingehend dargestellt.[42]
In den Kirchprobstrechnungen[43] wird erstmalig 1472 ein „spill“ zu Fronleichnam (Corpus Christi) erwähnt, 1475 kommt dazu ein Osterspiel, das damals erst „gemustert“ wurde:
Der Hauptdarsteller am Fronleichnamstag – jedenfalls in visueller Hinsicht – war der Lindwurm. Er bestand aus Holz und einer bemalten Leinwand, unter der die Träger einhergingen, begleitet von Spielleuten, Fahnen und dem Hl. Sakrament.[44] Zur Reparatur des Lindwurms wurden Tischler und Maler fast jedes Jahr neu herangezogen, 1481 wurde er z. B. „verlängert“. Die Jungfrau St. Margareta unter einem Baldachin und St. Georg in voller Rüstung mit Gefolge wurden ebenfalls in der Prozession mitgeführt. Der Begründer der Sterzinger Spielsammlung, der Maler Vigil Raber, hat noch während seiner Bozner Zeit (1515) am Lindwurm gemalt.[45] Dieses älteste Bozner Umgangsspiel am Fronleichnamsfest wurde sicher von der gleichnamigen Bruderschaft aufgeführt, jedoch seit spätestens 1472 von der Kirche finanziert. Dass kein Text davon erhalten ist, könnte bedeuten, dass keiner festgelegt war: Es war eher ein öffentlicher Umzug als ein Spiel.
Spielleiter und Texte
Die Bozner Schulmeister waren ab ca. 1472 die Leiter und z. T. Autoren der Spieltexte. Ihnen halfen die Junkmeister und manchmal der Kirchprobst selbst mit Schreibarbeiten. So wurde 1494 ein „Spill der auffahrt“ (Himmelfahrtsspiel) angeschafft, das der Junkmeister dann kopieren musste.[46] 1495 entstand in der Pfarrkirche die erste erhaltene, umfangreiche Handschrift der „Bozener Passion“.[47] In den Passions- und Osterspielen trat der Schulmeister als Salvator (Jesus) auf: 1495 agierte der Junkmeister (succentor) als Precursor, und der Altist Johannes (» Kap. Buch- und Schriftwesen und » Kap. Polyphonie) als Erster Jude. Manche Texte erhielt man von auswärts, besonders Sterzing, von woher der Maler Vigil Raber im Jahre 1510 nach Bozen kam. Der Schulmeister Benedikt Debs (1511 aus Ingolstadt zugezogen, gest. 1515) verlieh der Bozner Spielpraxis besonderen Aufschwung. Die monumentalen Aufführungen der Passion, wie z. B. die berühmte siebentägige von 1514, sind der Initiative Rabers zu verdanken, ebenso die Überlieferung und Erweiterung der von Debs begründeten Spieltextsammlung des „Sterzinger Spielarchivs“. (» H. Sterzinger Spielarchiv)
[1] Zu weltlichen Musikformen vgl. auch » E. Städtisches Musikleben und Paoli Poda 1999.
[2] Vgl. ein Häuserverzeichnis von 1497 bei Hoeniger 1951.
[3] Zur Stadtgeschichte: Mahlknecht 2006, 47–52. Die Feuersbrunst 1483 dokumentiert u. a. Felix Fabri (» D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen).
[4] Dies reflektiert der Titel der Urkundenedition Bozen Süd-Bolzano Nord (= Obermair 2008).
[5] Strittig waren vor allem die Präsentationsrechte für Geistliche der Diözese Trient, vgl. Atz/Schatz 1903, 15.
[6] Wohl wegen der fehlenden Mauern beschreibt Andrea de’ Franceschi Bozen noch 1492 als einen „borgo“ (Markt); er betont jedoch die befestigten Straßen sowie die allgemeine Betriebsamkeit und Stattlichkeit, die Bozen wie eine wirkliche Stadt erscheinen ließen: Simonsfeld 1903, 287.
[7] Obermair 2005, 47.
[8] Atz/Schatz 1903, 21–27.
[9] Vgl. Hoeniger 1934, 29f.
[10] Edition und Kommentar: Obermair 2005.
[11] Das Kolophon lautet: „Liber de redditibus operis ecclesie parochialis in bozano et de ordinibus sindicorum“ (Buch der Einkünfte der Kirchenfabrik der Pfarre Bozen und der Verordnungen der Kirchpröbste); es ist datiert (1460 VIII 26). Ich danke der Bibliothèque der Université de Strasbourg und dem Stadtarchiv Bozen/Bolzano für freundliche Genehmigungen.
[13] Die Archivserie der Kirchprobstrechnungen wird im Folgenden etwas abgekürzt zitiert. Die vollständigen Signaturen dieser Serie im Historischen Archiv der Stadt Bozen lauten Hs. 639-671 (1470–1520).
[14] Vgl. Atz/Schatz 1903, 16; Obermair 2005.
[15] Vgl. Obermair 2005, 55. Ediert in Paoli Poda 1999, S. 113ff. Für den Vergleich mit anderen Schulordnungen der Region siehe » H. Schule, Musik, Kantorei.
[16] Vgl. Hoeniger 1934, 61–64.
[17] Walter Salmen verdanke ich die Erklärung, dass der Terminus „Junkmeister“ nicht von “Jung” abgeleitet sei, sondern von “Verbindung” wie in lat. iungere.
[18] Zur Abhängigkeit des Schulmeisters von der Stadt vgl. auch Hoeniger 1934, 28.
[19] Vgl. Atz/Schatz 1903, 14.
[20] I-BZac (StA Bozen), Urkunde Nr. 194 (1463 I 12): Die alte Pinter-Handwerksbruderschaft konstituiert sich wegen großen Zustroms neu als Fronleichnamsbruderschaft und stiftet einen gesungenen Jahrtag am Fest von St. Urban (dem Weinheiligen).
[21] Im Jahre 1480 teilt die Kirchprobstrechnung (I-BZac Hs. 644, fol. 23r) die Vergütungen folgendermaßen auf: „Schulern von dem vorgangk des sacraments zu krancken leutten 1 mr. (= 10 £), und dem schulmeister 2 £“. Die Vorschriften für die Aufteilung wurden mehrmals geändert.
[22] Kirchprobst Sigmund Zwickauer vermerkt in der Kirchprobstrechnung von 1478 (I-BZac Hs. 643, fol. 7r) den Jahreseingang von Zinsen aus Stiftungen „zw dem vorgangk gotzleichnam“: vom Spital 6 £, von Peter Sigeleins Erben 6 £, von Caspar auf Platzol (Prazöll, St. Magdalena) 1 £ und von Michel Grossel 1 £ 6 gr. Dieses zusätzliche Einkommen allein war höher als das dem Schulmeister und seinen Begleitern ausgefertigte Jahresgehalt von 12 £.
[23] Obermair 2005, 44.
[24] F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 129r (vgl. auch » H. Schule, Musik, Kantorei). Die Komplet wurde in der Pfarrkirche nicht von den Schülern gesungen.
[25] Zum möglichen Zusammenhang mit dem von Giulia Gabrielli entdeckten Bozner Fragment mensuraler Musik vgl. » Kap. Verbindung zu den Trienter Codices und » F. Geistliche Mehrstimmigkeit. Etwa zur selben Zeit sind Aufführungen polyphoner Musik in den abendlichen “Salve-Konzerten” niederländischer Stadtkirchen nachweisbar: vgl. Strohm 1985, 33 und passim.
[26] Vermerkt in F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 95r, unmittelbar nach der Salve-Stiftung.
[27] University College London (GB-Luc), Ms. germ. 1.
[28] Mit der anscheinend irrigen Angabe, das Studium sei „zwei oder drei Tage danach“ auszuführen.
[29] Vgl. Atz/Schatz 1903, 28ff.
[30] Vgl. Hassler 1849, 72. Die Behauptung ist nicht unwidersprochen geblieben: vgl. Hoeniger 1934, 9f.
[31] Man vergleiche dieses Honorar von insgesamt 825 £ für wohl zwei Jahre vollzeitiger Arbeit mit dem jährlichen Grundgehalt des Schulmeisters von 22 £ (8 £ für Salve-Singen vom Rat, 14 £ für Sakramentsumgänge von der Kirche), das sich freilich durch weitere Stiftungseinkünfte und Renten auf etwa 40 £ erhöht haben dürfte.
[32] Vgl. Hoeniger 1934, 32.
[33] Vgl. Obermair 2005, 51. Vgl. auch die Anmerkungen zur Glockenkunst im damaligen Brügge bei Strohm 1985, 2–4 und passim.
[34] Ein noch existierendes Graduale des 14. Jahrhunderts (I-BZmc Ms. 1304), das von einem Schreiber Ruotlibus (Ruodlieb) aus der Grafschaft Krain (Diözese Aquileja) angefertigt wurde und später nach Bozen gelangte, ist als Ms. 1304 des Stadtmuseums Bozen/Museo civico di Bolzano erhalten. Eine Faksimileausgabe durch Marco Gozzi und Giulia Gabrielli ist in Vorbereitung.
[35] Vgl. Wright 1986, mit Edition des Testaments 265–270.
[36] Vgl. Wright 1986; Strohm 2013.
[37] Der Trienter Codex I-TRcap 93*, eigentlich „B.L.“, wird im Unterschied zu den anderen Bänden heute nicht im Castello del Buonconsiglio aufbewahrt, sondern in der dortigen Kapitelbibliothek (Biblioteca Capitolare).
[38] Vgl. Ferdinand Troyer OFM, Chronik der Stadt Bozen, Bozen 1648, nach: Atz/Schatz 1903, 13–14.
[39] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 246.
[40] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 130–246. Die Kirchprobstrechnungen sind die Hauptquelle dieser Nachweise.
[41] Zur Verbindung zwischen kirchlichem Spiel und Stadtbürgerschaft vgl. besonders Obermair 2004.
[42] Vgl. Obermair 2004.
[43] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 131, Anm. 73, gibt an, er habe alle Kirchprobstrechnungen des Bozner Stadtarchivs durchgesehen, doch sei ihm (vor 1987) die Auswertung der Ratsprotokolle nicht ermöglicht worden. Ich danke Archivdirektor Dr. Hannes Obermair für den Zugang auch zu letzteren, die jedoch über die Spiele keine Auskunft geben.
[44] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 132f.
[45] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 212.
[46] I-BZac Hs. 655, fol. 53v.
[47] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 143–157; ausführlich zur Passion von 1495 auch Paoli Poda 1999 und Obermair 2004.
Obermair 1999 | Obermair 2006 | Tonini 1999
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: “Bozen/Bolzano: Musik im Umkreis der Kirche”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/bozen-bolzano-musik-im-umkreis-der-kirche> (2016).