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Eine mittlere Stadt

Reinhard Strohm

Musik war in der Stadt des 14.–15. Jahrhunderts ein weitgehend öffentlicher Vorgang. Kirchengesang zu Vesper und Messe, feierliche Prozessionen, Besuche von hohen Herren und Kriegsleuten mit ihren Trompetern, musikalische Unterhaltung in und vor den Tavernen, Hochzeits- und Begräbnisumgänge mit entsprechend abgetönter Musik, die Singstunden in der Lateinschule, das Aufspielen zum Tanz auf öffentlichen Plätzen, die „Ansinger“, die zu Weihnachten vor den Bürgerhäusern Geld einsammelten, die frommen Chöre der Schulknaben, die mit dem Priester zum Spital zogen, um den Kranken das Sakrament zu bringen, schließlich die Gesänge Marias, der Apostel und Engel sowie das „schreckliche Geschrei“ der Teufel in den großen Passionsspielaufführungen (» H. Musik und Tanz in Spielen und » H. Sterzinger Spielarchiv): Alle diese öffentlichen Musikformen sind im Bozen der Epoche belegt und wurden bezahlt.[1] Das Glockenläuten und Turmblasen – auch wenn man es nicht als „Musik“ einstufen will – unterlag erst recht amtlicher Kontrolle, schon wegen seiner öffentlichen Signalfunktionen (» E. Klang-Aura). Informelles Musikmachen auf der Straße oder sonst im Freien, von dem wir zu wenig wissen, konnte verboten oder eingeschränkt werden; doch das Musizieren in den Privathäusern war umso weniger kontrollierbar je größer diese waren – und dementsprechend je (einfluss-)reicher ihre Besitzer.[2]

Der Reichtum an musikalischen bzw. akustischen Darbietungen in der für damalige Verhältnisse mittelgroßen, wirtschaftlich und kommerziell aktiven Tiroler Stadt, die im Mittelalter fünfmal abbrannte,[3] entsprach nicht einer imaginären Norm, die überall gegolten hätte. Trotz erheblicher Ähnlichkeiten des Kulturlebens in den Städten ganz Europas war jede einzelne Form örtlicher Musikpraxis individuell entstanden und zugleich vernetzt. Bozen verdankte seiner geographischen Lage eine bedeutende Rolle im Nah- und Fernhandel sowie in der Vermittlung zwischen zentraleuropäischer und mediterraner Kultur.[4] Ungünstig war, dass die kirchliche und die staatliche Oberhoheit oft miteinander im Widerspruch standen: hier der Fürstbischof von Trient, das Oberhaupt der Diözese, dort der politische und militärische Machthaber, der Graf von Tirol und (seit 1363) Herzog von Österreich.[5] Gegen Ende des 13. Jahrhunderts hatte Herzog Meinhard II. Bozens Mauern schleifen lassen – nur die sieben Tore blieben stehen.[6] Andererseits verfügte 1442 König Friedrich III. die Einsetzung eines Stadtrats, dem rechtliche „Freiheiten“ gegenüber Bezirkshauptmann und Landrichter zugesprochen wurden.[7] So begann im mittleren 15. Jahrhundert eine Phase intensiver urbaner Entwicklung und Institutionalisierung, auch in kulturellen Bereichen wie dem der Musik.

[1] Zu weltlichen Musikformen vgl. auch » E. Städtisches Musikleben und Paoli Poda 1999.

[2] Vgl. ein Häuserverzeichnis von 1497 bei Hoeniger 1951.

[3] Zur Stadtgeschichte: Mahlknecht 2006, 47–52. Die Feuersbrunst 1483 dokumentiert u. a. Felix Fabri (» D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen).

[4] Dies reflektiert der Titel der Urkundenedition Bozen Süd-Bolzano Nord (= Obermair 2008).

[5] Strittig waren vor allem die Präsentationsrechte für Geistliche der Diözese Trient, vgl. Atz/Schatz 1903, 15.

[6] Wohl wegen der fehlenden Mauern beschreibt Andrea de’ Franceschi Bozen noch 1492 als einen „borgo“ (Markt); er betont jedoch die befestigten Straßen sowie die allgemeine Betriebsamkeit und Stattlichkeit, die Bozen wie eine wirkliche Stadt erscheinen ließen: Simonsfeld 1903, 287.

[7] Obermair 2005, 47.