Polyphonie
Der Bozner Petrus Tritonius (Treibenreif, 1465–ca. 1525), ein Komponist von Humanisten-Oden und Freund von Conrad Celtis, war Schulmeister der Pfarrkirche im Jahre 1501; und fast mit Sicherheit war der in den 1490er Jahren tätige „Altist“ Johannes Mitglied eines Ensembles für polyphone Musik (er sang den contratenor altus), denn im Kirchenchoral gab es für diese Spezialisierung keinen Bedarf. Entsprechendes gilt für die Person des Schulmeisters Benedikt Debs, der nach seinem Tod (1515) als „berühmter Notist und Bassist“ bezeichnet wurde (» H. Sterzinger Spielarchiv).
Die Anfänge mehrstimmiger Praxis sind in Bozen jedoch viel früher zu suchen. Um 1455 schrieb der Bozner Priester Johannes Lupi (Volp) ein eigenhändiges Testament, das sein Expertentum in mehrstimmiger Musikpraxis belegt (» G. Johannes Lupi).[35] Das Testament blieb Entwurf und kam wohl deshalb nicht zur Ausführung, weil Lupi erst 1467 starb. Er war 1443 Organist am Dom von Trient geworden, hatte aber schon seit 1431 die Kaplanei der St.-Jakobskapelle auf dem Friedhof der Bozner Pfarrkirche besessen, die ihm von seinem damaligen Dienstherrn, Herzog Friedrich IV. von Österreich-Tirol, verschafft worden war. Eigentümer der Kapelle war die einflussreiche Korbflechter-Bruderschaft, die später mit der Fronleichnamsbruderschaft vereinigt wurde. Johannes Lupi ernannte den damaligen Kirchprobst Christoph Hasler jun. zum Testamentsvollstrecker für seine Bozner Angelegenheiten. Mehrere Hinweise im Text, wie z. B. „Hasler soll das verwalten“ (ut emat vel disponat Hasler) deuten auf ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den beiden Männern. Die im Testament genannten Geldkredite sowie Zins- und Renteneinkünfte in der Stadt Bozen beweisen Lupis zumindest wirtschaftlich enge Verbindung mit seiner Heimatstadt. Er stiftete auch seinen Jahrtag in der Bozner Pfarrkirche, nicht am Dom von Trient, wo er selbst ansässig war. Die Gründlichkeit und systematische Anlage seines Testamentsentwurfs sind jener geistigen Erfassung komplexer Wirklichkeit verwandt, die auch Haslers in denselben Jahren geschriebenes Urbar kennzeichnet.
Lupi besaß viele Musikinstrumente, die er Mitgliedern des Trienter Domkapitels hinterlassen wollte. Seine „sechs Bücher mit cantus figuratus, kleine und große“ (» G. Johannes Lupi), jedoch vermachte er der fabrica (Kirchenfabrik) der Bozner Pfarrkirche, deren Vorstand der Kirchprobst war. Diese cantionalia, wie er sie nennt, dürften dazu bestimmt gewesen sein, die Pfarrkirche mit Musik zum täglichen Gesangsdienst auszustatten. Nun konnten weder Lupi noch Hasler um 1455 ein auf cantus figuratus (mensurale Mehrstimmigkeit) spezialisiertes Ensemble aus dem Boden stampfen, um den Ansprüchen des vererbten Materials zu genügen. Vielmehr muss ein solches Ensemble schon existiert haben und der Grund für die beabsichtige Hinterlassenschaft gewesen sein. Dieses Ensemble dürfte aus den „zum Singen geschickten“ Schulknaben, ihrem Schulmeister und Junkmeister sowie einigen der Astanten und Gesellpriester bestanden haben.
[35] Vgl. Wright 1986, mit Edition des Testaments 265–270.
[1] Zu weltlichen Musikformen vgl. auch » E. Städtisches Musikleben und Paoli Poda 1999.
[2] Vgl. ein Häuserverzeichnis von 1497 bei Hoeniger 1951.
[3] Zur Stadtgeschichte: Mahlknecht 2006, 47–52. Die Feuersbrunst 1483 dokumentiert u. a. Felix Fabri (» D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen).
[4] Dies reflektiert der Titel der Urkundenedition Bozen Süd-Bolzano Nord (= Obermair 2008).
[5] Strittig waren vor allem die Präsentationsrechte für Geistliche der Diözese Trient, vgl. Atz/Schatz 1903, 15.
[6] Wohl wegen der fehlenden Mauern beschreibt Andrea de’ Franceschi Bozen noch 1492 als einen „borgo“ (Markt); er betont jedoch die befestigten Straßen sowie die allgemeine Betriebsamkeit und Stattlichkeit, die Bozen wie eine wirkliche Stadt erscheinen ließen: Simonsfeld 1903, 287.
[7] Obermair 2005, 47.
[8] Atz/Schatz 1903, 21–27.
[9] Vgl. Hoeniger 1934, 29f.
[10] Edition und Kommentar: Obermair 2005.
[11] Das Kolophon lautet: „Liber de redditibus operis ecclesie parochialis in bozano et de ordinibus sindicorum“ (Buch der Einkünfte der Kirchenfabrik der Pfarre Bozen und der Verordnungen der Kirchpröbste); es ist datiert (1460 VIII 26). Ich danke der Bibliothèque der Université de Strasbourg und dem Stadtarchiv Bozen/Bolzano für freundliche Genehmigungen.
[13] Die Archivserie der Kirchprobstrechnungen wird im Folgenden etwas abgekürzt zitiert. Die vollständigen Signaturen dieser Serie im Historischen Archiv der Stadt Bozen lauten Hs. 639-671 (1470–1520).
[14] Vgl. Atz/Schatz 1903, 16; Obermair 2005.
[15] Vgl. Obermair 2005, 55. Ediert in Paoli Poda 1999, S. 113ff. Für den Vergleich mit anderen Schulordnungen der Region siehe » H. Schule, Musik, Kantorei.
[16] Vgl. Hoeniger 1934, 61–64.
[17] Walter Salmen verdanke ich die Erklärung, dass der Terminus „Junkmeister“ nicht von “Jung” abgeleitet sei, sondern von “Verbindung” wie in lat. iungere.
[18] Zur Abhängigkeit des Schulmeisters von der Stadt vgl. auch Hoeniger 1934, 28.
[19] Vgl. Atz/Schatz 1903, 14.
[20] I-BZac (StA Bozen), Urkunde Nr. 194 (1463 I 12): Die alte Pinter-Handwerksbruderschaft konstituiert sich wegen großen Zustroms neu als Fronleichnamsbruderschaft und stiftet einen gesungenen Jahrtag am Fest von St. Urban (dem Weinheiligen).
[21] Im Jahre 1480 teilt die Kirchprobstrechnung (I-BZac Hs. 644, fol. 23r) die Vergütungen folgendermaßen auf: „Schulern von dem vorgangk des sacraments zu krancken leutten 1 mr. (= 10 £), und dem schulmeister 2 £“. Die Vorschriften für die Aufteilung wurden mehrmals geändert.
[22] Kirchprobst Sigmund Zwickauer vermerkt in der Kirchprobstrechnung von 1478 (I-BZac Hs. 643, fol. 7r) den Jahreseingang von Zinsen aus Stiftungen „zw dem vorgangk gotzleichnam“: vom Spital 6 £, von Peter Sigeleins Erben 6 £, von Caspar auf Platzol (Prazöll, St. Magdalena) 1 £ und von Michel Grossel 1 £ 6 gr. Dieses zusätzliche Einkommen allein war höher als das dem Schulmeister und seinen Begleitern ausgefertigte Jahresgehalt von 12 £.
[23] Obermair 2005, 44.
[24] F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 129r (vgl. auch » H. Schule, Musik, Kantorei). Die Komplet wurde in der Pfarrkirche nicht von den Schülern gesungen.
[25] Zum möglichen Zusammenhang mit dem von Giulia Gabrielli entdeckten Bozner Fragment mensuraler Musik vgl. » Kap. Verbindung zu den Trienter Codices und » F. Geistliche Mehrstimmigkeit. Etwa zur selben Zeit sind Aufführungen polyphoner Musik in den abendlichen “Salve-Konzerten” niederländischer Stadtkirchen nachweisbar: vgl. Strohm 1985, 33 und passim.
[26] Vermerkt in F-Sn Ms. 2111 allemands 187, fol. 95r, unmittelbar nach der Salve-Stiftung.
[27] University College London (GB-Luc), Ms. germ. 1.
[28] Mit der anscheinend irrigen Angabe, das Studium sei „zwei oder drei Tage danach“ auszuführen.
[29] Vgl. Atz/Schatz 1903, 28ff.
[30] Vgl. Hassler 1849, 72. Die Behauptung ist nicht unwidersprochen geblieben: vgl. Hoeniger 1934, 9f.
[31] Man vergleiche dieses Honorar von insgesamt 825 £ für wohl zwei Jahre vollzeitiger Arbeit mit dem jährlichen Grundgehalt des Schulmeisters von 22 £ (8 £ für Salve-Singen vom Rat, 14 £ für Sakramentsumgänge von der Kirche), das sich freilich durch weitere Stiftungseinkünfte und Renten auf etwa 40 £ erhöht haben dürfte.
[32] Vgl. Hoeniger 1934, 32.
[33] Vgl. Obermair 2005, 51. Vgl. auch die Anmerkungen zur Glockenkunst im damaligen Brügge bei Strohm 1985, 2–4 und passim.
[34] Ein noch existierendes Graduale des 14. Jahrhunderts (I-BZmc Ms. 1304), das von einem Schreiber Ruotlibus (Ruodlieb) aus der Grafschaft Krain (Diözese Aquileja) angefertigt wurde und später nach Bozen gelangte, ist als Ms. 1304 des Stadtmuseums Bozen/Museo civico di Bolzano erhalten. Eine Faksimileausgabe durch Marco Gozzi und Giulia Gabrielli ist in Vorbereitung.
[35] Vgl. Wright 1986, mit Edition des Testaments 265–270.
[36] Vgl. Wright 1986; Strohm 2013.
[37] Der Trienter Codex I-TRcap 93*, eigentlich „B.L.“, wird im Unterschied zu den anderen Bänden heute nicht im Castello del Buonconsiglio aufbewahrt, sondern in der dortigen Kapitelbibliothek (Biblioteca Capitolare).
[38] Vgl. Ferdinand Troyer OFM, Chronik der Stadt Bozen, Bozen 1648, nach: Atz/Schatz 1903, 13–14.
[39] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 246.
[40] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 130–246. Die Kirchprobstrechnungen sind die Hauptquelle dieser Nachweise.
[41] Zur Verbindung zwischen kirchlichem Spiel und Stadtbürgerschaft vgl. besonders Obermair 2004.
[42] Vgl. Obermair 2004.
[43] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 131, Anm. 73, gibt an, er habe alle Kirchprobstrechnungen des Bozner Stadtarchivs durchgesehen, doch sei ihm (vor 1987) die Auswertung der Ratsprotokolle nicht ermöglicht worden. Ich danke Archivdirektor Dr. Hannes Obermair für den Zugang auch zu letzteren, die jedoch über die Spiele keine Auskunft geben.
[44] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 132f.
[45] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 212.
[46] I-BZac Hs. 655, fol. 53v.
[47] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, 143–157; ausführlich zur Passion von 1495 auch Paoli Poda 1999 und Obermair 2004.