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Cod. 457 in Neustift/Novacella?

Reinhard Strohm

Eine angeblich ähnliche Erinnerungsnotiz wie diejenige des Cod. 457 befindet sich im Cod. 960 der ULBT A-Iu Cod. 960), der „Neustifter Spielhandschrift von 1391“, die im 15. Jahrhundert dem Augustiner-Chorherrenstift Neustift/Novacella gehörte.[77] Auf der letzten Seite der Handschrift (fol. 60v) steht neben Federproben ein Vermerk zum Tod des Dichters Oswald von Wolkenstein, der ein Pfründner des Stifts gewesen war, am 2. August 1445, und zur Überführung seiner Leiche aus Meran nach Neustift wenig später.[78] Der Innsbrucker Katalog bringt diesen Vermerk, sowie einen ähnlichen auf fol. 50v desselben Codex (von Iohannes librarius von Neustift?), mit den Notizen im Einband von Cod. 457 in Zusammenhang.[79] Bei so geringem Schriftmaterial im flüchtigsten der damaligen Schreibstile ist Identität der Schreiberhände nicht festzumachen.

Die fragmentarischen Pergamentblätter des Einbandes von Cod. 457 stammen aus einer Psalterhandschrift des frühen 12. Jahrhunderts. Das Blatt im vorderen Innendeckel enthält eine dekorierte Initiale (Buchstabe „Q“, blassrot und dunkelgrün). Unter den in der ULBT Innsbruck neuerdings inventarisierten Bindefragmenten anderer Codices sind die Pergamentstreifen Frg. 18_1-2 den Blättern im Einband von Cod. 457 sehr ähnlich (» Abb. Einbandstreifen aus einem Neustifter Codex).

Obwohl nicht dieselbe Schreiberhand vorliegt, besteht ein deutlicher Zusammenhang, u.a. in den Tintenfarben und den Formen der Zusatzzeichen über der Zeile (Abkürzungen), die gelegentlich fast wie Musikneumen aussehen.[80] Nach Auskunft von Dr. Claudia Sojer, ULBT Innsbruck, stammt die ehemalige Trägerhandschrift dieser Fragmente aus Neustift/Novacella. So ergibt sich, dass auch Cod. 457 wahrscheinlich in Neustift gebunden wurde (und zwar im frühen bis mittleren 15. Jahrhundert) und dass dementsprechend auch die beschriebenen Erinnerungsnotizen dort eingetragen wurden.

Als weiteres Indiz für die Anwesenheit des Codex in Neustift im 15. Jahrhundert mag gelten, dass das Graduale-Antiphonar Ms. 139 der Bibliothek Neustift/Novacella (um 1495) auf fol. 118v-119r (alte Blattzählung CLVIIIv-CLIXr) ein Patrem in rhythmischer Notation (cantus fractus) enthält, das mit dem Patrem Nr. 32 (fol. 90r) die C-Tonart gemeinsam hat, im Gegensatz zur F-Tonart der allermeisten anderen Niederschriften dieser beliebten Melodie.[81] Damit ist freilich nicht bewiesen, dass der Cantionarius ursprünglich aus Neustift stammt. Vielmehr spricht vieles dagegen.

[77] Turnher-Neuhauser 1975, 16; Neuhauser 1980, 76 f.

[78] Vgl. Schwob-Schwob, Bd. 5, 2013, Nr. 513, 284-289. Die Umschlagsabbildung des Bandes zeigt das erwähnte Dokument (Cod. 960, fol. 60v).

[79] Neuhauser 2008, 361.

[80] Vgl. Fig. 1 bei Sojer-Neuhauser 2019, 144, und » Abb. Einbandstreifen aus einem Neustifter Codex.

[81] Freundliche Information von Dr. Giulia Gabrielli, Bressanone. Quellen der Credo-Melodie bei Miazga 1976, Nr. 450+10, 99. Die beiden Patrem enden mit „sepultus est“; mehrere Zeilenkadenzen sind verschieden.