Sie sind hier

Gattungen im Innsbrucker Cantionarius

Reinhard Strohm

Folgende Gesangsgattungen sind im Cod. 457/II vertreten:

Stundengebet (Offizium)

  1. Responsorien, untropiert (Nr. 1); tropiert zum „Libera me“ (Nr. 35-37)
  2. Lesungen, teilweise tropiert (Nr. 6-10)
  3. Antiphonen, tropiert (Nr. 51-60, 61?, 62, 64, 65) (zu Nr. 48-50, 63 vgl. unten)
  4. Marientropen zum Stundengebet (Nr. 66, 67)
  5. Improperien (Nr. 33, „In die parasceven.“, d.h. „parasceves“, Karfreitag)
  6. Lamentationen (Lesungen der Karwoche) (Nr. 44)
  7. Segensbitten der Karwoche, tropiert (Nr. 45, 46)
  8. Finstermette, Planctus Mariae (Nr. 47)​​​​​​

 Messe 

  1. Ordinariumsmelodien, z.T. tropiert: Kyrie (Nr. 15-17, 26), Gloria (Nr. 29?), Credo (Nr. 31, 32, 34), Sanctus-Agnus dei (Nr. 38-42)
  2. Proprium, z.T. tropiert: Introitus (Nr. 13, 14), Graduale (Nr. 12), Sequenz (Nr. 30)
  3. Lesungen (Epistel) (Nr. 11, 19)

Stundengebet oder Messe

  1. Einleitungen oder selbständige Strophen zu Lesungen (Nr. 3-5, 18?)
  2. Benedicamus domino, tropiert (Nr. 2, 20, 21, 25, 27, 28)
  3. Sanctus- oder Antiphontropus (Nr. 48-50, 63)

Nicht liturgisch zugeordnet

  1. Cantionen (Nr. 22-24)
  2. Motette auf Maria (Nr. 68)
  3. Unidentifiziert (radierte Nr. 69, Fronleichnam?).[24]

Innerhalb der zwischen Weihnachten und Passion ausgebreiteten Gesamtanordnung sind andeutungsweise liturgische Gattungsgruppen erkennbar, die jedoch mehrmals von andersartigen Stücken durchkreuzt werden. Dies mag einen besonderen Sinn für die Aufführenden gehabt haben, z.B. wenn nach der Kyrie-Gruppe ein vermutlicher Gloriatropus eingetragen wurde (Nr. 18), danach jedoch eine Epistel aus der Messe für Jungfrauen und Märtyrerinnen (Nr. 19).[25] Dass ein einzelnes Kyrie von der Gruppe getrennt und zwischen die Benedicamus domino gestellt ist (Nr. 26), bedeutet vielleicht, dass beide zu einer Marienmesse gehören sollten, wie ihre Texte nahelegen.

Ungewöhnlicherweise fehlen Rubriken für fast alle Stücke. Stenzl ergänzt in seinem Inventar die jeweils anzunehmende Rubrik; für Tropen wählt er den Begriff “Versus”.[26] Die Bezeichnung “Versus super…”, z.B. in A-Gu Cod. 756 und CH-SGs 546, wurde besonders für solche Tropen verwendet, die einem Prosatext gereimte Stophen hinzufügten. Am Tropenrepertoire der Handschrift fällt die Verschiedenheit textlicher Formen auf. Es gibt knappe, gereimte Zwei- oder Dreizeiler, die in die Trägertexte eingeschoben oder an sie angehängt sind (z.B. Nr. 14, 21); es gibt umfangreiche Prosadichtungen, die das vom traditionellen Choral vorgegebene Material zu Großformen ausgestalten, z.B. in dem zweistimmigen Simultantropus Nr. 12 “Viderunt omnes” (» A. Kap. Mehrstimmige Soloabschnitte). Es gibt ausgearbeitete Strophenlieder (Nr. 11, “Laudem deo”, Nr. 13, „Flos de spina“) in oft ganz unabhängigen Formen, nämlich Cantionen (Nr. 22-24). Unzuweisbar ist Nr. 45, dessen Bestimmung als Tropus nicht feststeht: Die abgekürzten Verweise “Sed tu [bone Iesu Christe, nostri miserere]” und “Ergo [bone Ihesu Christe, nostri miserere]”, führen nicht auf einen zugrundeliegenden Choralgesang, sondern auf einen Respons oder Refrain des Stückes selbst.

Die Bezeichnung “Cantio” ist in böhmischen Handschriften des mittleren 14. Jahrhunderts anzutreffen, sowie im “Moosburger Graduale” (D-Mu 2o 156 „Moosburger Graduale“) vom Jahre 1360 (» A. Kap. Die Entstehung des Begriffes “Cantio”). Im Cod. 457/II steht als Nr. 22 die aus Böhmen stammende Cantio “Nunc angelorum gloria”, die noch im Seckauer Cantionarius von 1345 als “Conductus de nativitate” bezeichnet worden war, in D-Mu 2o 156 (fol. 236r) jedoch als “Cantio”. Der Begriff „Conductus“ kommt in Cod. 457/II nicht vor.

Nr. 48 und Nr. 50-65 beziehen sich textlich auf die bekannten Marienantiphonen “Salve regina”, “Alma redemptoris mater” und “Nigra sum”, sowie auf die Totenantiphon “Media vita”. Stenzl bezeichnet Nr. 48 und 50 als “Sanctus- oder Antiphon-Tropus” und vermerkt, dass in diesen gereimten Tropustexten ausdrückliche Verweise auf die Trägerantiphon fehlen, dass sie also “offensichtlich nicht als Tropen, sondern als liturgieunabhängige Cantionen verwendet“  wurden.[27] Vor allem in Böhmen wurden solche tropierten Antiphonen auch in der Messe bestimmter Jahreszeiten gesungen; z.B. erklang der Salve Regina-Tropus “Ave ierarchia” zur Adventsmesse (Missa Rorate).[28] Wie solche Antiphontropen dann im Sanctus gesungen wurden, etwa zwischen Sanctus und Benedictus, scheint bisher unsicher.[29]

[23] Vgl. » A. Kap. Karfreitag.

[24] Die radierte Rubrik könnte “In solemnitate SS. sanguinis“ geheißen haben.

[25] Inhaltlich würde dies zu St. Dorothea passen.

[26] Stenzl 2000, 151-173.

[27] Stenzl 2000, 181.

[28] Strohm 1993, 331, nach CZ-VB 42, fol. 145r.