Form und Funktion von Flos de spina procreatur
Der Introitus-Tropus für Weihnachten, Flos de spina procreatur (» Notenbsp. Tropus in galli cantu) steht am Anfang einer handschriftlichen Sammlung von 130 lateinischen Gesängen, die im Augustiner-Chorherrenstift Seckau (Steiermark) im Jahre 1345 fertiggestellt wurde (» A-Gu Cod. 756), heute Universitätsbibliothek Graz, Cod. 756.[11] Dieser „Seckauer Cantionarius“ bildet den zweiten Teil einer Handschrift, in deren erstem Teil ein Liber ordinarius (d. h. ein Verzeichnis der obligatorischen gottesdienstlichen Texte und Riten) enthalten ist. Die Neumennotationen des Liber ordinarius und des Cantionarius stammen laut Inga Behrendt von demselben Schreiber.[12]
Die geistliche Liedersammlung beginnt mit Flos de spina procreatur auf fol. 179r (» Abb. Seckauer Cantionarius) und ist hier als „[Liber] cantionarius“, d. h. „Gesangbuch“, bezeichnet.
Abb. Seckauer Cantionarius / Fig. Cantionarius of Seckau
Mit dem Inhalt des Liber ordinarius gibt es bezeichnenderweise wenig Überschneidungen, obwohl auch dort zahlreiche Melodien mit Neumen angegeben sind. Eine Ordnung der Gesänge nach dem Kirchenjahr ist im Cantionarius nur angedeutet, z. B. indem die Sammlung mit Weihnachten beginnt.[13] Alle diese Gesänge sind ad libitum gedacht, können also im Gottesdienst weggelassen werden, auch wenn sie an obligatorische Gesänge („Trägertexte“) und damit an bestimmte gottesdienstliche Momente gebunden sind. Die meisten fungieren als Tropen und sind in der Handschrift auch so betitelt. Flos de spina (im Ordinarius nicht erwähnt) gehört zu der Introitus-Antiphon Dominus dixit ad me der ersten Weihnachtsmesse mit ihrem Vers Quare fremuerunt und der Doxologie Gloria patri. Diese drei Teile des regulären Introitus sind zwischen die vier Strophen des Tropus eingeschoben, worauf ihre abgekürzten Textanfänge verweisen (»Abb. Seckauer Cantionarius); am Schluss wird die Introitus-Antiphon wiederholt. Eine solche Form ist als „Ver-cantionierung eines liturgischen Textes“ charakterisiert worden.[14] Wenn ein neues Lied in dieser Weise den traditionellen Gesang wie ein reiches Ornament umgab, hörte man Tradition und Erneuerung zugleich. Es war eine Akzentuierung des festlichen Geschehens.
[11] Vgl. Irtenkauf 1956a. Das Datum und die Angabe, das Buch insgesamt heiße „Breviarium“, stehen auf der Schlussseite des originalen Gesamtcodex (fol. 228v).
[12] Vgl. Behrendt 2009, S. 42–46.
[13] Vgl. das kommentierte Inhaltsverzeichnis des Cantionarius bei Behrendt 2009, S. 47–58.
[14] Irtenkauf 1956b, 261 und Anm. 23.
[1] Vgl. Husmann 1962. Husmanns Unterscheidung zwischen Benediktiner- und Augustinertraditionen ist freilich in der Region nicht so klar konturiert (Hinweis von Dr. Robert Klugseder).
[2] Vgl. Praßl 1998a und Praßl 1998b als Beispiele der neueren Erforschung von libri ordinarii im Gegensatz zur Erfassung liturgischer Gattungscorpora.
[3] Vgl. Graus 1994.
[4] Vgl. Spechtshart 1958; Bruggisser-Lanker 2010, 231–255.
[7] Zum Vorgang in der Geschichte des Kirchenlieds vgl. Strohm 2009.
[8] Vgl. auch die Textedition in AH 49, S. 46, Nr. 67.
[9] A-Gu Ms. 756. Zur Handschrift vgl. Lipphardt 1974; Irtenkauf 1956a; Irtenkauf 1956b; Flotzinger 1977, 79.
[10] Edition: Dömling 1972.
[11] Vgl. Irtenkauf 1956a. Das Datum und die Angabe, das Buch insgesamt heiße „Breviarium“, stehen auf der Schlussseite des originalen Gesamtcodex (fol. 228v).
[12] Vgl. Behrendt 2009, S. 42–46.
[13] Vgl. das kommentierte Inhaltsverzeichnis des Cantionarius bei Behrendt 2009, S. 47–58.
[14] Irtenkauf 1956b, 261 und Anm. 23.
[15] Eine Auflistung der Quellen dieses Conductus bei Stenzl 2000, 155.
[16] Vgl. Lipphardt 1974. Eine andere Ableitung aus dem Notre-Dame-Repertoire ist der Tropus De Stephani roseo (fol. 185r): Vgl. Irtenkauf 1956a, 135–136, und Flotzinger 1977, 85.
[17] Vgl. Irtenkauf 1956a, besonders 131.
[18] Vgl. Flotzinger 1977, 79.
[19] Vgl. Dömling 1972, Nr. 1.
[21] Im Cantionarius selbst, fol. 179r–179v, sind die zwei Solistenpaare als „Recto“ und „Pls“ („Rectores“ und „Populus“?) rubriziert. Zur Überlieferung von Hodie cantandus vgl. Haug 1995.
[23] Vgl. Harrison 1965; Strohm 2007.
[24] Näheres zu diesem Stück bei Celestini 1995.
[26] Zu beiden Fassungen vgl. Behrendt 2009, S. 417–421, mit Textedition der Fassung des Liber ordinarius.
[27] Zum Kindelwiegen vgl. » A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche; zu den Liedern ausführlich Ameln 1970, 65–91; Tanz von Maria und Joseph ist in einem der Spiele erwähnt (vgl. S. 75).
[28] Vgl. Hiley 1996.
[29] Diesem Refrain geht eine Zeile „Apparuit quem genuit Maria“ voraus, die dem Refrain der Cantio Nove lucis fast gleicht. Die Zeile ist im Resonet in laudibus jedoch Teil der Strophe, deren Struktur ohne sie unbalanciert wäre. Wahrscheinlich ist dies ein Anzeichen dafür, dass die Cantio Nove lucis selbst in Anlehnung an Resonet in laudibus entstanden ist.
[30] Ameln 1970, 54, Anm. 7, bezieht die reichere Neumierung irrig auf das „Eya“ im Refrain des Magnum nomen.
[31] Vgl. Petzsch 1966.
[32] D-Sl HB I 109, fol.122r (freundliche Mitteilung von Dr. Robert Klugseder). Vgl. Klugseder 2013.
[34] Die sieben deutschen Lieder im Liber ordinarius sind beschrieben bei Behrendt 2009, S. 422–436.
[35] Dies betont Irtenkauf 1956a, S. 131–132.
[36] D-Mu Cod. Hs. 2° 156, fol. 230v (vgl. Hiley 1996).
[37] Deutlichere Belege für populäre Vorlagen gibt es im katalanischen Llibre Vermell und im irischen Red Book of Ossory : vgl. Strohm 1993, 62–63.
[38] Vgl. Plocek 1985; Böse/Schäfer 1988; Strohm 2007.
[39] Schmitz 1936, 409.