Sie sind hier

Neue Themen ritueller Frömmigkeit

Reinhard Strohm

Die Erweiterung der kirchlichen Gesangsrepertoires im 14. und 15. Jahrhundert war öfters von neuer Heiligenverehrung, neuen Frömmigkeitsformen und Reformidealen stimuliert. Zu deren sozialhistorischen Voraussetzungen gehörte auch die Pest, die seit 1347 Europa heimsuchte. Auf sie reagierten einerseits der wachsende Antisemitismus vieler Stadtbevölkerungen, andererseits die neue Frömmigkeitsbewegung des Geißlertums (in Italien der disciplinati, » B. Geistliches Lied) sowie generell die Laienfrömmigkeit (» A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche, » J. Formen der Laienfrömmigkeit), die besonders von den Bettelorden propagiert wurde.[3] Im kirchlichen Ritus wie in der Volksfrömmigkeit waren die nunmehr hervorragendsten Themen der Marienkult, die Feier von Christi Geburt, die Eucharistie-Verehrung und die Besorgnis um Krankheit und Tod. Religiöse Reformbewegungen beteiligten sich intensiv an der Erweiterung und Erneuerung geistlicher Gesangsrepertoires: Genannt seien außer den Geißlern und Bettelorden auch die Mystik, die niederländische devotio moderna (neue Devotion, seit ca. 1400), das böhmische Hussitentum (seit ca. 1410) und wiederauflebende Ideale der Jerusalempilgerschaft und des geistlichen Rittertums (» J. Formen der Laienfrömmigkeit). Neue Marienlieder wurden z. B. von den Geißlern bei ihren öffentlichen Prozessionen gesungen, wie Hugo Spechtshart bezeugt.[4] Die wachsende Verehrung der Geburt Christi und der Familie Marias (z. B. ihrer Mutter St. Anna), sowie generell das Interesse an Familie und „Privatsphäre“ der biblischen Heiligen, reflektierte wohl eine Hinwendung zu den Belangen häuslichen Lebens, die auch in der Kunst und allgemeinen Kultur des 14. Jahrhunderts feststellbar ist.

Es gab für die spätmittelalterliche Erneuerung des Ritus auch rein künstlerische Impulse. Das war schon in den vorigen Jahrhunderten nicht anders gewesen. Innerhalb der traditionellen Frömmigkeit der Kirchen und Klöster wurde mindestens ebenso viel Neues gesungen und gedichtet wie im Bereich religiöser Reformideale. Eine traditionelle Gemeinschaft wie die Schola eines Klosters stimulierte sich durch ihre Kreativität sozusagen selbst. Gerade im Poetisch-Musikalischen war es Tradition, an der Tradition erfinderisch weiterzuarbeiten.