Cantionen als Erneuerung des Ritus
Zu diesen Erfindungen gehörten auch neue geistliche Lieder, die lateinischen cantiones, die seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Zentraleuropa beliebt wurden, sowie zunehmend auch volkssprachige Kirchenlieder (» vgl. B. Das geistliche Lied). Die lateinische Cantio war ein geistliches Lied, das nicht zum offiziellen Ritus gehörte, auch wenn es aus diesem herausentwickelt war. Wie die schon jahrhundertealte Gattung des >Tropus<, eine musikalisch-textliche Erweiterung des Kirchengesanges, wurde die Cantio im 14. Jahrhundert noch an festgelegten Stellen des Gottesdienstes gesungen. Sie war jedoch in Strophenbau und Inhalt so strukturiert, dass man sie im Unterschied zu den meisten Formen des Tropus auch für sich, außerhalb des Ritus singen konnte. Letztlich unterscheiden sich Tropus und Cantio im 14. Jahrhundert nur insofern, als man ihnen diese unterscheidenden Namen gab. Die bekanntesten handschriftlichen Sammlungen von Tropen und Cantionen des 14. Jahrhunderts stammen aus Seckau, Prag, Moosburg, Aosta, Engelberg, Tirol (Neustift?) und bayrischen Klöstern. Insgesamt kennt die Forschung mindestens 120-150 solcher Stücke, von denen manche überregional verbreitet waren.[5]
Man könnte diese Welle von Neuschöpfungen als eine geradlinige Fortsetzung jener Tropen, Sequenzen, Conductus und Versus verstehen, die schon seit dem 9./10. Jahrhundert die liturgischen Repertoires angereichert hatten, unter sehr verschiedenartigen geistigen und praktischen Bedingungen. Jedoch scheint sich im frühen 14. Jahrhunderts auch ein Wandel anzubahnen. Die neuen geistlichen Lieder bereichern den überkommenen Ritus nicht nur, sondern streben auch aus ihm hinaus: Sie werden allmählich aus dem gottesdienstlichen Ritus herausgelöst und bilden eine eigene Schicht religiöser Gesangspraxis (» B.Kap. Europäische geistliche Liedrepertoires).[6] Und in dieser Hinsicht stehen die österreichischen Quellen der gesamteuropäischen Entwicklung keineswegs nach; ja es akzentuiert sich in ihnen mehr als anderswo eine Tendenz, die mit der Erneuerung der Repertoires selbst zusammenhängen muss: die Einbeziehung von Laien in die geistliche Praxis.[7]
Hier geht es zunächst um den Praxisbezug der neuen Lieder: um ihren Charakter und ihre Bedeutung für das musikalische Leben innerhalb und womöglich außerhalb der Kirche. Das sei an einigen Beispielen untersucht.