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Ein Vorbild zu Flos de spina procreatur

Reinhard Strohm

Der Text von Flos de spina procreatur erscheint aus einem Conductus des so genannten >Notre-Dame< Repertoires abgeleitet, der sich in Quellen des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts findet:[15]

Flos de spina procreatur
et flos flore fecundatur
misso rore celitus.
Rorant celi, nubes pluunt,
stillant montes, colles fluunt,
unda patet veritas.
(4 weitere Strophen)

Blüte wird aus Dorn geboren,
und von Blüte selbst befruchtet,
als der Tau vom Himmel kommt.
Himmelstau und Wolkenregen,
Bergesquell und Hügelbäche:
Wahrheit zeigt sich in der Flut.
 

Es handelt sich um ein gelehrtes Gedicht aus der Hochburg der Sequenzendichtung des 12.-13. Jahrhunderts: Paris. Das Metrum und Strophenschema (trochäisch, straff alternierend betont, Dreizeiler, gereimt „aab“) und der literarisch-rhetorische Stil erinnern an die Fronleichnamssequenz Lauda Sion salvatorem (um 1264) des Thomas von Aquin, die in aller Ohren war.[16] Der Seckauer Tropus ist eine ebenfalls gelehrte, motivreiche Bearbeitung desselben theologischen Themas, der Widerspiegelungen der Inkarnation in Natur und Heiliger Schrift. Das konventionelle dreizeilige Strophenschema ist auf fünf Zeilen erweitert, eine originelle Form. Allerdings versäumt der Dichter des Seckauer Tropus nicht, in der letzten Strophe die Gemeinschaft („chorus“) zum Frohlocken aufzufordern, was die rein narrative Dichtung des Conductus nicht tut.

[15] Eine Auflistung der Quellen dieses Conductus bei Stenzl 2000, 155.

[16] Vgl. Lipphardt 1974. Eine andere Ableitung aus dem Notre-Dame-Repertoire ist der Tropus De Stephani roseo (fol. 185r): Vgl. Irtenkauf 1956a, 135–136, und Flotzinger 1977, 85.