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Zur Herkunft des Innsbrucker Cantionarius: paläographische Fragen

Reinhard Strohm

Die bis heute geltende Forschungsmeinung zur Herkunft des Innsbrucker Cantionarius lautet im Katalog der ULBT:

Tirol (?) bzw. Neustift (?), 14. Jh. bzw. Wende 14./15. Jh.[82]

Dass sich der zusammengebundene Cod. 457 im mittleren 15. Jahrhundert im Augustiner-Chorherrenstift Neustift befand, wird durch den Einband und seine Erinnerungsnotiz nahegelegt (» Kap. Cod. 457 in Neustift?). Dass der Cantionarius Cod. 457/II auch dort geschrieben worden sei, ist damit nicht gesagt. Von den Forschern, die diese Vermutung ausgesprochen haben,[83] weist keiner eine Schriftähnlichkeit mit Neustifter Handschriften nach. (Auch dem Schreiber dieser Zeilen ist das nicht gelungen.) Vielmehr schlägt der Innsbrucker Katalog zur Stützung der Neustift-These eine Parallele zur Notation der „Sterzinger Miszellaneenhandschrift“ (I-VIP o.Sign.) vor.[84] Hand 1 von Cod. 457/II schreibt deutsche gotische Neumen, die Sterzinger Handschrift dagegen böhmische Notation sowie Mensuralnotation; eine besondere graphische Ähnlichkeit besteht nicht.[85]

Ähnlich indirekt ist das Argument von Erika Timm, die Initialen 2. Klasse von Cod. 457 seien mit jenen der Wolkenstein-Handschriften „WolkA“ und „WolkB“ vergleichbar; derselbe Typus finde sich zudem im bekannten Graduale Friedrich Zollners, das in den 1440er Jahren für Neustift angefertigt wurde (» Abb. Puer natus est nobis).[86] Es geht hier nur um generelle Ähnlichkeiten; die Initialen in Cod. 457/II und den anderen genannten Quellen sind im Einzelnen deutlich verschieden. Heute wissen wir, dass „WolkA“ um 1425 in Wien geschrieben wurde; auch „WolkB“ (1432) entstand jedenfalls nicht in Neustift, sondern womöglich in Basel. [87] Auf andere Herkunft als Neustift deutet ferner, dass die Form der Kustoden in Cod. 457/II, fol. 91v, auch in „WolkA“ und einer anderen Wiener Quelle des 15. Jahrhunderts vorkommt (» Kap. Cod. 457/II: Die Nachträge). Und die mehrzeiligen Fleuronnée-Initialen 1. Klasse, z.B. auf fol. 72r (» Abb. Iudea et Ierusalem), sind vergleichbar einigen Initialen der böhmischen Quelle CZ-VB 42 von 1410.[88] 

Die Textschrift von Cod. 457/II wurde von Wulf Arlt mit der Hand „S2“ in CH-EN 314 verglichen, hauptsächlich um die Entstehungszeit beider näher zu bestimmen.[89] Solche Formen der Buchschrift sind in der Tat problemlos in die letzten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts datierbar. Zwischen der Textschrift in Cod. 457/II und den Händen im Engelberger Codex besteht darüber hinaus kein paläographischer Zusammenhang.

[82] Neuhauser 2008, 359.

[83] Z.B. Flotzinger 1977, 82, und Neuhauser 1991/2010, 63f. und Anm. 42: siehe Stenzl 2000, 146, Anm. 18.

[84] Neuhauser 2008, 367f. Die zum Vergleich herangezogenen Seiten von I-VIP o.Sign., fol. 5r, 7v und 49v-54v, stammen von jeweils verschiedenen Händen.

[85] Vgl. Welker 1991.

[86] Timm 1974, 318-320 und Nachtrag, Anm. 34. Timm vergleicht primär die Wolkenstein-Handschriften mit dem Zollner-Graduale (einem Hinweis von Karl Vigl folgend). Betreffs Cod. 457 hatte Walter Lipphardt der Autorin brieflich geraten (ebda., Anm. 34): „…aus diesen Gründen sei auch die Vermutung einer Herkunft aus Neustift in dem Grade annehmbar, wie die Paläographie dies nahelege.“ Nach allen bisherigen Forschungen scheint die Paläographie nichts dergleichen nahezulegen. Neuhauser 1980, 79, der den Zusammenhang der Wolkenstein-Handschriften mit Neustifter Quellen akzeptiert, erwähnt Cod. 457 nicht.

[87] Zu „Wolk A“: Schwob-Schwob Bd. 2 (2001), Nr. 148, 180-185. Zu „Wolk B“: Schwob-Schwob Bd. 3 (2004), Nr. 236, 179-184.

[88] Rothe 1984, Tafeln 1 und 2, 433f.

[89] Neuhauser 2008, 367; Stenzl 2000, 149, Anm. 22.