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Zur Herkunft des Innsbrucker Cantionarius: inhaltliche Fragen

Reinhard Strohm

Erika Timm versuchte 1974 den musikalischen Werdegang Oswalds von Wolkenstein zu rekonstruieren und betonte dabei die Musikpflege des Augustiner-Chorherrenstifts Neustift/Novacella, wo Oswald seit 1411 eingepfründet war. In einem Nachtrag bestimmte sie dann Neustift auch als den Entstehungsort von Cod. 457/II. Timms Herkunftsbestimmung wurde von den meisten späteren Autoren wiederholt, soweit sie überhaupt Belege zitierten. Was die Musikpflege der Augustiner-Chorherrren betrifft, ist es zunächst schwer verständlich, warum Timm als Entstehungsort von Cod. 457/II keine anderen Augustinerstifte in Betracht gezogen hat. Allein schon in Südtirol hatte der Orden damals ein weiteres Zentrum im Chorherrenstift „in der Au“ in Bozen-Gries, das in der Literatur zu Cod. 457 fast nie erwähnt worden ist. Timm beschränkte sich jedoch auf „Tirol“ bzw. auf die Diözese Brixen,[90] denn sie wollte im Grunde nur beweisen, dass der einzig mögliche Herkunftsort derjenige sei, der mit Oswald von Wolkenstein zu tun hatte, nämlich Neustift. Dass Oswalds musikalische Interessen dort gefördert wurden, ist zwar denkbar, sagt aber nichts über den Entstehungsort der Handschrift aus, selbst wenn diese dem Dichter im Stift bekannt geworden wäre.

Ein anderes inhaltliches Herkunftsindiz sind für Walther Lipphardt und Erika Timm die Cantionen auf St. Dorothea, Nr. 23, und St. Nikolaus, Nr. 24 (» Abb. Inhaltsverzeichnis). Diese Heiligen seien besonders von den Augustiner-Chorherren bzw. gerade in Neustift verehrt worden; es gibt ein Fresko von St. Dorothea im Neustifter Kreuzgang sowie eine Nikolauskirche in Brixen.[91] Da keine anderen Heiligen außer Maria im Cantionarius eine Rolle spielen, mag dies zunächst triftig erscheinen – aber nur, wenn man nur Südtirol berücksichtigt und die universale Beliebtheit des Hl. Nikolaus sowie die weit über die Augustiner hinausreichende Verehrung der Hl. Dorothea beiseite lässt.[92] Diese beiden Heiligen wären in einem Wiener, Salzburger, Seckauer, St. Florianer oder Klosterneuburger Cantionarius vermutlich ebenso hervorgehoben worden.

In einem Beitrag von 1982 zur Herkunft der Carmina Burana (D-Mbs Clm 4660) behandelte Lipphardt dann die Neustifter Herkunft des Cod. 457/II als Tatsache, sich diesmal umgekehrt auf Timm 1974 berufend.[93] Weil er aber im Cod. 457/II keine Rezeption des Notre-Dame-Repertoires feststellen konnte, die in steirischen Quellen wie z.B. dem Seckauer Cantionarius, A-Gu Cod. 756, stattfinde, kam er zu dem Schluss, dass der Codex Buranus, der Notre-Dame-Repertoire rezipiert, ebenfalls aus Seckau stamme. Wenn jedoch Georg Steer Recht hat, der vor allem aus sprachgeschichtlichen Gründen Neustift als Herkunftsort der Carmina Burana betrachtete,[94] verkehrt sich dieses Argument ins Gegenteil: Cod. 457/II stammt eher nicht aus Neustift, weil es keinen Einfluss von Notre-Dame bezeugt.[95] Jedoch stellen die weit voneinander entfernten Entstehungszeiten der drei genannten Handschriften (um 1230; 1345; spätes 14. Jahrhundert) Lipphardts Beweisführung ohnehin in Frage: Die Vorbildwirkung des Notre-Dame-Repertoires war im späten 14. Jahrhundert sicher sehr verblasst.

[90] Timm 1974, 320, Anm. 34: „Was Tirol betrifft […] Nun ist das große Augustinerstift der Diözese Brixen, zu der auch Allerengelberg gehört, aber Neustift…“. Allerengelberg (Schnals) gehörte zur Diözese Chur.

[91] Timm 1974, ebda.

[92]  Vgl. » A. Die Verehrung der Hl. Dorothea.

[93] Lipphardt 1982, auf S. 220 f. mit einem Verzeichnis einzelner Stücke und ihrer vermuteten Herkunftsorte.

[94] Steer 1983.

[95] Zur (indirekten) Notre-Dame-Rezeption im Seckauer Cantionarius vgl. » A. Kap. Ein Vorbild.