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Die Einbandnotizen von Cod. 457

Reinhard Strohm

Der Einband von Cod. 457 ist verstärkt durch Pergamentblätter aus zwei liturgischen Handschriften des 12. Jahrhunderts, die auf die Innenseiten der Einbanddeckel geklebt sind; auf ihnen befinden sich Eintragungen in Konzeptschrift (notula), die beide im mittleren 15. Jahrhundert von derselben Hand geschrieben wurden. Die Notiz im vorderen Deckel lautet: „Qualiter Deum esse in et aliter et indifferenter in toto (?) loco non plus vel minus esse in ultimo angulo sicut in acie chori vel altaris. / Quaere evidentiam siche uberlich (?). / Das die gotliche Almehtikait under gestalt der sichtigen dinnge verporgenlich ist (?) verburcket das hail der selen, munditiam in baptismo.“[72] Diejenige im hinteren Deckel bezieht sich offenbar auf eine Reise des Besitzers.(» Abb. Hinterer Innendeckel Cod. 457, Erinnerungsnotiz).[73]

Abb. Hinterer Innendeckel Cod. 457, Erinnerungsnotiz

Abb. Hinterer Innendeckel Cod. 457

Hinterer Innendeckel des Bandes A-Iu Cod. 457 mit eingeklebtem Pergamentblatt aus einem Psalterium des frühen 12. Jahrhunderts, darauf in schwarzer Tinte Erinnerungsnotiz aus dem 15. Jahrhundert. ©Universitäts- und Landesbibliothek Tirol. Mit Genehmigung (CC-BY-NC-SA-License (4.0).

“Quattuor penitentiales Deus venerunt gentes. Miserere mei conserva me domine. Septem penitentiales in letania. Dominicam Oculi enim primis vesperis et postea usque ad feriam quintam inclusive neglexi in Bosano quando veni de Argent[orat]is.” (Vier Bußpsalmen Deus venerunt gentes. Miserere mei, conserva me domine. Sieben Bußpsalmen in Litanei. Sonntag Oculi nämlich, erste Vesper, bis Feria V einschließlich, habe ich in Bozen vernachlässigt, als ich von Straßburg kam.)

Der Schreiber dieser Eintragungen war im Besitz des gesamten, zusammengebundenen Codex, da er sie in den Einbanddeckeln hinterlassen hat. Er war bis Straßburg (lat. Argentorati oder Argentina) gereist und hatte sich offensichtlich auf der Rückreise von dort in Bozen (lat. Bosanum) aufgehalten. Dabei „vernachlässigte“ er [die Liturgie] von der ersten Vesper vor Sonntag Oculi bis zum folgenden Freitag einschließlich. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um seine Gebetspflichten, denen er in Bozen nicht nachkommen konnte.[74] Die sieben Bußpsalmen mit Litanei (“septem penitentiales in litania”) standen in vielen privaten Gebetbüchern und waren keineswegs auf Mönchsorden beschränkt. Die vom Schreiber zuvor erwähnte Gruppierung von „vier Bußpsalmen“ und dazu Ps. 78 (Deus venerunt gentes), Ps. 50 (Miserere mei) und Ps. 15 (Conserva me domine) scheint jedoch unbekannt – Ps. 78 und 15 sind keine Bußpsalmen – und mag zur persönlichen Praxis des Schreibers gehört haben. Bei Kartäusern ist sie nicht nachweisbar.[75]

Jemand, der einen Codex mit Predigten und Musik in Besitz hatte, Priester oder Mönch war und weite Reisen unternahm, dürfte nicht in einer Kartause gelebt haben.[76] Dieser Mann hatte theologische Interessen, die in der ersten Notiz zum Ausdruck kommen, und die vielleicht mit deutschsprachigem Predigen zu tun haben. Seine mit den Ortsnamen Straßburg und Bozen angedeutete Reiseroute erklärt sich am besten so, dass er in Tirol lebte, jedoch nicht in Schnals, weil man von Straßburg aus nicht über Bozen nach Schnals reiste, sondern über den Brenner- oder Reschenpass und Meran.

[72] Neuhauser 2008, 361, liest „almehlikait“.

[73] Neuhauser 2008, 361. Der Eintrag „P(?)…iis duo notaui que non“ auf dem oberen Blattrand wurde von einer anderen Hand und sicher früher geschrieben.

[74] Ein Kopieren kann nicht gemeint sein, da diese Liturgieabschnitte verschiedenen Büchern (Missale, Brevier) angehören und dem Schreiber sicher zuhause zugänglich waren.

[75] Ginex 2020, 16, Anm. 24, mit Verweis auf Guigo‘s Consuetudines (Basel 1510), Statuta 6.47.24.

[76] Zu den Kartäuserprioren Prior Friedrich und Heinrich Haller, deren Reisen mit dieser Notiz aber nichts zu tun haben, vgl. Neuhauser 1980, 89 f., Sepp 1980, 118 f.; Neuhauser 1991/2010, 268 f.