Der Innsbrucker Cantionarius: Cod. 457 der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol
Die Handschrift
Die aus dem späten 14. Jahrhundert stammende Musikhandschrift, die als zweiter Teil dem Cod. 457 der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol (Innsbruck) angehört und deshalb hier „Cod. 457/II“ bzw. „Innsbrucker Cantionarius“ genannt wird, überliefert 69 notierte Gesänge, die zum lateinischen Messgottesdienst oder Stundengebet „ad libitum“ gesungen werden konnten.[1] Es ist keine standardisierte Auswahl: Die Handschrift überliefert nicht dasselbe Repertoire wie überall sonst, sondern ist eine besondere Sammlung, die bestimmte Präferenzen oder Zwecke einer Musikergemeinschaft oder sogar eines Individuums widerspiegelt. Die meisten Stücke sind „Tropen“ (lat. tropi), d.h. durch textliche und/oder musikalische Erweiterungen ausgeschmückte Gesänge. Somit gehört die Handschrift zur Familie der „Troparien“, von denen fast jedes Mitglied individuell verschieden war. Tropensammlungen früherer Jahrhunderte waren oft an Bücher für Messe, Offizium oder Prozessionen angegliedert.[2] Cod. 457/II enthält tropierte liturgische Lesungen zu Weihnachten, Antiphontropen, Gesänge zum Messordinarium und Messproprium, u.a. in cantus fractus (» A. Rhythmischer Choralgesang), Lamentationen, Benedicamus domino-Tropen und einige Gesänge ohne festgelegte gottesdienstliche Funktion (» Abb. Inhaltsverzeichnis Cod. 457/II, S. 1, 2 und 3).
Es bietet sich an, der Handschrift den zeitgenössischen Gattungsnamen „Cantionarius“ (Gesangbuch) zu geben. Diesen Namen trägt eine Musiksammlung in der Grazer Handschrift A-Gu Cod. 756 aus Seckau, datiert 1345 (» Abb. Seckauer Cantionarius).[3] Sie enthält 130 Gesänge, meist Tropen und strophische Lieder, die nach dem Beispiel anderer Handschriften als „Cantionen“ zu bezeichnen sind (» A. Kap. Cantionen als Erneuerung). Die Melodien sind in linienlosen Neumen notiert, somit nicht sicher lesbar. Der Innsbrucker Cod. 457/II ist überwiegend in gotischer Choralnotation auf Linien geschrieben und nach Tonhöhen und Textunterlegung genau lesbar; die Rhythmen sind in dieser Notation jedoch nicht fixiert. Die Sammlung ist halb so umfangreich wie der Seckauer Cantionarius, hat aber mit diesem nicht weniger als 15 Stücke gemeinsam.
Cod. 457/II enthält einen einzigen (teilweise) deutschsprachigen Gesang, das Strophenlied „O filii ecclesie – O liben kint der cristenhait“ (Nr. 47). Es handelt sich um die älteste greifbare Überlieferung der Melodie dieser hochmittelalterlichen Marienklage, die auch Bestandteil geistlicher Spiele geworden ist.[4] Mit der weltlichen, lateinisch-deutschen Sammlung der Carmina Burana (D-Mbs Clm 4660, um 1230) hat das Repertoire indirekt zu tun (» Kap. Überlieferung).
Troparien und Cantionarien
Der Seckauer und der Innsbrucker Cantionarius sind die einzigen größeren Tropensammlungen des 14. Jahrhunderts, die in der Region Österreich erhalten sind. Cantionarien des 14. und 15. Jahrhunderts gibt es auch in der Schweiz, Bayern, Böhmen, Norddeutschland, den Niederlanden und Italien (» Abb. Troparien).
Einige davon, wie z.B. diejenigen in Engelberg und Prag, sind den Seckauer und Innsbrucker Cantionarien gut vergleichbar. Aus Salzburg oder Niederösterreich stammt ein fragmentarisches „Kantionale“ des frühen 14. Jahrhunderts (A-Wn Cod. S.n. 228).[5] Obwohl Cod. 457/II nicht in Tirol entstanden sein dürfte (» Kap. Positive Indizien), bezeugt er eine klösterliche Gesangskunst, die gewiss auch im westlichen Teil der Region Österreich gepflegt wurde.
Der Seckauer Cantionarius ist als zweiter Teil (ab fol. 179) einem „Liber ordinarius“ des Augustiner-Chorherrenstifts Seckau (Steiermark) angegliedert.[6] Während der Liber ordinarius die vorgeschriebenen Gesänge und Gebete verzeichnet, bietet der „[Liber] cantionarius“ ein ad libitum zu verstehendes zusätzliches Gesangsrepertoire derselben Kirche an. Leider fehlt ein Liber ordinarius für Cod. 457/II (der erste Teil des Bandes ist eine Predigtsammlung): Hätten wir diesen, dann wäre die Frage nach der Herkunft des Innsbrucker Cantionarius wahrscheinlich gelöst.
Mehrstimmigkeit im Innsbrucker Cantionarius
Die Feststellung, Cod. 457/II sei ein besonders altes und umfangreiches Zeugnis des Tropengesangs in der Region Österreich, erschöpft noch keineswegs dessen historische Bedeutung. Die Handschrift ist der Forschung wohlbekannt.[7] Doch fast die Hälfte der bisher erschienenen 87 Beiträge betreffen die 17 Stücke, die ganz oder teilweise mehrstimmig aufgezeichnet sind. Es handelt sich (mit einer Ausnahme) um nichtmensurale, zweistimmige Gesänge, die in „Partitur“, d.h. auf übereinanderstehenden Systemen mit vertikalen Abteilungsstrichen, notiert sind (» Abb. Iudea et Ierusalem).[8]
Öfters wechselt die Musik innerhalb eines Stücks von Einstimmigkeit zu Mehrstimmigkeit und zurück, wobei eine einzige Gruppe von Sängern alles ausführen konnte. Die zweistimmigen liturgischen Lesungen erklangen großenteils in klanglicher Rezitation, unterbrochen von melismatischen Abschnitten (» A. Kap. Lesungen). Abschnitte mit Melismen (Vokalisen) können spezialisierten Solisten überlassen worden sein: Eine solche Arbeitsteilung war jedoch ohnehin in der kirchlichen Choraltradition üblich und wurde nicht etwa zum Zweck der Mehrstimmigkeit eingeführt. Die Aufführung war derselben Musikergruppe zugedacht wie das traditionelle einstimmige Choralrepertoire (» A. Kap. Zweistimmiges Singen).
Im Seckauer Cantionarius sind die einzelnen Gesänge häufig als “Tropus” oder “Versus” bezeichnet. Der Innsbrucker Codex enthält fast keine Rubriken (Überschriften) für einzelne Gesänge; Begriffe wie “Tropus”, “Versus”, “Conductus” oder “Organum” kommen nicht vor.[9] Der Name “Organum” hat in Quellen des 14.-15. Jahrhunderts normalerweise nicht die Bedeutung eines einzelnen Stücks.[10] Der Gattungsbegriff für mehrstimmige Motetten ist in GB-Lbl add. 27630 “mutetus”, in D-Mbs Clm 5539 jedoch “tropus”.
Der Seckauer Cantionarius von 1345 enthält nur vier mehrstimmige Gesänge, der spätere Innsbrucker dagegen siebzehn, weshalb man vermuten könnte, dass Mehrstimmigkeit im 14. Jahrhundert in der Region allmählich eingeführt wurde. Dem scheinen mehrere Quellen zu widersprechen: Z.B. enthält ein Antiphonar des Benediktinerstifts St. Lambrecht (Steiermark) aus dem mittleren 14. Jahrhundert (A-Gu Cod. 29/30) nicht weniger als 31 Gesänge in nichtmensuraler Mehrstimmigkeit.[11] Diese Stücke, in gut lesbarer Quadratnotation, sind ein wichtiges Zeugnis für mehrstimmiges Singen in der Region. Jedoch sind sie meist keine Tropen und stehen nicht für sich in einem Cantionarius oder Tropar, sondern sind im Antiphonar an der jeweiligen liturgischen Stelle des Stundengebets notiert. Es scheint, dass Mehrstimmigkeit hier einen etwas anderen Stellenwert für die Ausführenden (und Hörer?) hatte als in den Cantionarien von Seckau und Innsbruck, wo sie den Tropen und den ad libitum-Gesängen zugeordnet wurde. Wahrscheinlich entsprachen solche Unterschiede der Praxis auch den Gepflogenheiten verschiedener Ordensgemeinschaften.
Die mehrstimmige Praxis der Cantionarien ist zu unterscheiden von einigen nichtmensural-mehrstimmigen Sätzen des Mönchs von Salzburg und Oswalds von Wolkenstein (» B. Non-mensural polyphony). Diese sind weltlich und deutsch textiert; sie repräsentieren die individuelle Kunst namentlich genannter Autoren, die sich an verschiedene mehrstimmige Techniken anlehnten, wie sie innerhalb und außerhalb der Region bekannt waren. Darunter waren auch einige aus den Cantionarien geläufige Stilarten; doch eine klösterliche Gemeinschaft, die an solche Stilarten gewohnt war, wäre von den individuell geformten mehrstimmigen Autorenliedern des Mönchs oder gar Oswalds sehr überfordert gewesen.
Cod. 457: Anlage, Ausstattung, Schrift, Datierung
Cod. 457 der Innsbrucker Bibliothek besteht aus zwei voneinander unabhängigen Teilen, die zusammen 107 Pergamentblätter umfassen. Diese sind modern foliiert als fol. 1-71 bzw. fol. 72-107. Das Pergament des ersten Teils ist dünn und von hoher Qualität, dasjenige des zweiten Teils gröber. Beide Teile wurden beim Binden (im 15. Jahrhundert) auf ein Quartformat von 239 x 171 mm beschnitten. Der zweite Teil – der Cantionarius – ist in drei Lagen (Sexternen) angeordnet: fol. 72-83, 84-95, 96-107.[12] Der Plan der Handschrift war offenbar auf diese drei Lagen begrenzt; es wurde nichts später an- oder eingebunden. Auf fol. 72r-73r findet sich besonderer Buchschmuck (Flechtbandinitialen mit Fleuronnée oder Froschlaichmotivik): » Abb. Iudea et Ierusalem.[13] Fol. 72r ist somit der ursprünglich geplante Beginn des Cantionarius.
Weitere Seiten sind nur mit einfachen roten, blauen und schwarzen Initialen verziert (z.B. fol. 79v-80r), die auf den nicht von der Haupthand beschriebenen Seiten fehlen, ebenso auf fol. 95r-v (Nr. 43). Auf fol. 85v, 90r, 92v-94v, 96r und 106r wurden vorgesehene Initialen nicht ausgeführt. Alle Seiten sind mit je acht Fünfliniensystemen in roter Tinte rastriert; fol. 86r enthält keine Notation. Die Texte von Folgestrophen sind meistens ohne Noten zwischen und über die Notensysteme geschrieben. Die vorwiegende Notationsart von Cod. 457/II sind „deutsche“ gotische Neumen auf Linien, die damals in der gesamten Region noch weit verbreitet waren.[14] In vielen von Hand 1 geschriebenen Stücken wird bei syllabischer Deklamation die Notationsform der Virga (Punkt mit Hals) weitgehend – jedoch nicht konsequent – vermieden: Dies könnte daran liegen, dass aus böhmischen Vorlagen kopiert wurde, denn die damalige böhmische („Metzer“) Notation verwendete keine Virgen.
Noten und Text des Cantionarius wurden größtenteils (fol. 72r-89v, 90v-92r, 95r-105v) von einer einzigen Hand geschrieben. Die Textschrift dieser Hand 1 ist eine auf die letzten drei Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts datierbare textualis cursiva. Hand 1 verwendet gelegentlich auch das offene „a“ der textualis (z.B. fol. 72r, fol. 104v). Charakteristisch sind die dreieckig abgewinkelten Schleifen der nach rechts gezogenen Oberlängen „l“, „b“ und „h“, während nach links gezogene Schleifen („d“) rund sind. Unterlängen, vor allem „m“ und „n“ am Wortende, sind oft weit nach links und rechts geschweift. Zweitbuchstaben und Initialen 2. Klasse sind sorgfältig hervorgehoben; typisch sind vertikale Mittelstriche bei „O“, „S“ usw.
Der Anteil von Hand 1 reicht bis zum vorletzten Blatt (fol. 106r, Zeile 5). Andere Hände füllten dazwischenliegende Seiten (fol. 90r, fol. 92v-94v) und zwei Blätter am Ende (fol. 106r-107v).[15] Eine so ungleiche Arbeitsverteilung ist in frühen Musikhandschriften häufig. Sie entspricht der sozialen Gruppierung „Meister – Gesellen“; im kirchlichen Kontext bedeutet sie vermutlich Zusammenarbeit zwischen einem Kantor und seinen Assistenten (Junkmeister, Sanggesellen, Astanten). Einige von Assistenten geschriebene Stücke verwenden Mensuralnotation, die einer moderneren Musikart entspricht: vgl. die mensural-einstimmigen Sanctus- und Agnus Dei-Vertonungen auf fol. 93v-94v (» Abb. Zwei Sanctus - Agnus Dei).
Cod. 457/II: Die Nachträge
Ob fol. 90r (Hand 2) und 92v-94v (Hand 3 und 4) während der Arbeit von Hand 1 oder erst später gefüllt wurden, ist ungewiss. Auf einen Zusammenhang zwischen Hand 1, Hand 3 und Hand 4 deutet der Übergang auf derselben Seite von Hand 3 zu Hand 4 auf fol. 93v, und von Hand 1 zu Hand 4 auf fol. 106r. Lage 3 endet (fol. 107v) mit einem einzeiligen, radierten Nachtrag von Hand 4 (Text unlesbar, Rubrik „In sl… sang[uinis]“?), der wohl der Arbeit von Hand 1 erst nachfolgte. Hand 5 (Mensuralnotation, fol. 107r) dürfte nach 1400 gearbeitet haben. Hände 1-5 haben sowohl Noten als auch Text eingetragen, und zwar die Noten zuerst, wie öfters an der genau passenden Wortunterlegung erkennbar ist. Auf fol. 91v (» Abb. Credo in cantus fractus) schrieb Hand 1 den Text, Hand 6 die Noten. Fol. 91v ist allerdings Palimpsest: Die Noten wurden über einer anderen, ausradierten Melodie eingetragen, nämlich einem Credo,[16] das von Hand 1 (Fliegenfußneumen mit Hälsen, vielleicht halbmensural zu lesen) eingetragen worden war; auch die ursprüngliche Fortsetzung derselben Melodie ab „Et resurrexit“ (fol. 91v, Zeile 8) bis fol. 92r unten ist ausradiert. Hand 6 substituierte – nur auf fol. 91v – eine andere beliebte Credomelodie,[17] in Mensuralnotation, obwohl unter Verwendung der von Hand 1 geschriebenen C-Schlüssel. Dies dürfte nach der Wirkenszeit von Hand 1 gewesen sein.
Auf fol. 91v, Zeile 1-6 (» Abb. Credo in cantus fractus), schreibt Hand 6 als Kustos eine rhombische Note mit Hälsen nach oben und unten mit scharf abgewinkelten Fähnchen. Diese dem Notensymbol „Dragma“ ähnelnde Form des Kustos, die in Cod. 457/II sonst nicht vorkommt, kennen wir aus der Wolkenstein-Handschrift A-Wn Cod. 2777 („WolkA“: Wien, ca. 1425) und dem ältesten Teil des St.-Emmeram-Codex (D-Mbs Clm 14274, Wien, ca. 1435-40).[18] Der Kustos auf fol. 91v, Zeile 7, ist eine quadratische Note mit Hals nach oben; auch diese Form findet sich in Clm 14274. Hand 6 könnte vielleicht übereinstimmen mit Hand 2 (fol. 90r): Zwar haben deren Kustoden verschiedene mensurale Formen, das Prinzip ist aber dasselbe: die Kustoden haben eine Form der jeweils in der Zeile vorhandenen Notenschrift.[19] Die Notenschrift von Hand 6 (und somit vielleicht Hand 2) ist am besten in das erste Drittel des 15. Jahrhunderts zu datieren.
Zur liturgischen Verwendung des Innsbrucker Cantionarius
Die Musiker, die Cod. 457/II anfertigten oder benützten, hatten auch Zugang zu weiteren liturgischen Büchern mit Melodien oder wenigstens Texten von Kirchengesängen. Die Gesänge im Cantionarius sind nur Ausschmückungen des regulären, vorgeschriebenen Ritus. Öfters werden sie durch abgekürzte Incipits den regulären Gesängen des Gottesdienstes zugeordnet, deren Bekanntheit und Zugänglichkeit vorausgesetzt wird; z.B. verweist Nr. 13, „Flos de spina“, auf den Introitus „Gaudeamus“, Nr. 48, „Hec virga Iesse“, auf „Hodie“.[20] In umfangreicheren Stücken wie den liturgischen Lesungen Nr. 6-11 sind abgekürzte Hinweise auf dazwischen vorzutragende Texte häufig. In der tropierten Lesung Nr. 10 („Jube domine … In principio erat verbum“) steht auf fol. 77r unten, ohne Noten, der Vermerk „Sacerdos dicat et r[eliqua] et legat usque Tu“ (Der Priester soll auch das Übrige sprechen und lesen bis „Tu“), worauf der notierte Abschnitt „Tu autem“ folgt. Dies bedeutet, dass das ganze Stück in Zusammenarbeit mit dem Priester einstudiert und vorgetragen wurde und einen ganz bestimmten Moment in der gottesdienstlichen Handlung ausfüllte.
In der Lesung Nr. 9 („Jube domine … Maria candens lylium“), deren zweistimmige Abschnitte (eingeschobene Tropenverse) immer dieselbe Musik haben, ist bei den Wiederholungen nur je eine der beiden Stimmen notiert.[21] Bei Strophenliedern beschränkt sich die Notation oft auf die erste Strophe; von den anderen folgt nur der Text. Kenntnis der Gattung und des Zusammenhangs wird auch vorausgesetzt, wenn z.B. der Sanctus-Tropus Nr. 49 „Flos candens oritur“ (fol. 102v) durch das Incipit „Sanctus“ eingeleitet wird, die folgenden Sanctus-Tropen Nr. 50 und 51 jedoch keine solche Identifizierung aufweisen, sondern unvermittelt mit dem Tropustext beginnen.[22] Zu einer effektiven Verwendung des Cantionarius im Gottesdienst war daher ein Ensemble erfordert, das unter kundiger Leitung stand, mit den umgebenden Teilen des Gottesdienstes vertraut war und diese mit einstudieren konnte. Das Vorhandensein regulärer Choralbücher für Messe und Offizium (Gradualien und Antiphonalien) wurde vorausgesetzt. Ein Liber ordinarius, in dem die Gottesdienste in ihrem gesamten Zusammenhang dargestellt waren, kann sehr wohl existiert haben – wie im Seckauer Cod. 756.
Die Gesänge im Cantionarius sind annähernd chronologisch geordnet, beginnend mit dem Weihnachtsfest. Stücke für den Sommerteil der regulären Choralbücher und für Heilige (abgesehen von Maria) fehlen fast ganz. Ein zweites Buch ähnlicher Art dürfte jedoch nicht existiert haben, denn die Feste der Sommerperiode und die Heiligenfeste des Sanctorale waren im Spätmittelalter viel seltener mit Tropen oder Mehrstimmigkeit ausgeschmückt.
Inhalt und Anlage der Handschrift legen nahe, dass sie einer klösterlichen Gemeinschaft gedient hat, denn bei Verwendung aller aufgezeichneten Gesänge ergibt sich eine üppige ad libitum-Ausstattung des Stundengebets (vor allem zum Weihnachtsfest), die an Weltkirchen damals ungewöhnlich gewesen wäre. Das Repertoire scheint einerseits charakteristisch für Benediktiner und Augustiner-Chorherren zu sein, doch stehen auch konkordante Musikstücke in Handschriften der Augustiner-Eremiten (» Kap. Konkordanzen). Auf einen bestimmten Diözesangebrauch lässt der Inhalt der Sammlung nicht schließen.
Gattungen im Innsbrucker Cantionarius
Folgende Gesangsgattungen sind im Cod. 457/II vertreten:
Stundengebet (Offizium)
- Responsorien, untropiert (Nr. 1); tropiert zum „Libera me“ (Nr. 35-37)
- Lesungen, teilweise tropiert (Nr. 6-10)
- Antiphonen, tropiert (Nr. 51-60, 61?, 62, 64, 65) (zu Nr. 48-50, 63 vgl. unten)
- Marientropen zum Stundengebet (Nr. 66, 67)
- Improperien (Nr. 33, „In die parasceven.“, d.h. „parasceves“, Karfreitag)
- Lamentationen (Lesungen der Karwoche) (Nr. 44)
- Segensbitten der Karwoche, tropiert (Nr. 45, 46)
- Finstermette, Planctus Mariae (Nr. 47)
Messe
- Ordinariumsmelodien, z.T. tropiert: Kyrie (Nr. 15-17, 26), Gloria (Nr. 29?), Credo (Nr. 31, 32, 34), Sanctus-Agnus dei (Nr. 38-42)
- Proprium, z.T. tropiert: Introitus (Nr. 13, 14), Graduale (Nr. 12), Sequenz (Nr. 30)
- Lesungen (Epistel) (Nr. 11, 19)
Stundengebet oder Messe
- Einleitungen oder selbständige Strophen zu Lesungen (Nr. 3-5, 18?)
- Benedicamus domino, tropiert (Nr. 2, 20, 21, 25, 27, 28)
- Sanctus- oder Antiphontropus (Nr. 48-50, 63)
Nicht liturgisch zugeordnet
- Cantionen (Nr. 22-24)
- Motette auf Maria (Nr. 68)
- Unidentifiziert (radierte Nr. 69, Fronleichnam?).[24]
Innerhalb der zwischen Weihnachten und Passion ausgebreiteten Gesamtanordnung sind andeutungsweise liturgische Gattungsgruppen erkennbar, die jedoch mehrmals von andersartigen Stücken durchkreuzt werden. Dies mag einen besonderen Sinn für die Aufführenden gehabt haben, z.B. wenn nach der Kyrie-Gruppe ein vermutlicher Gloriatropus eingetragen wurde (Nr. 18), danach jedoch eine Epistel aus der Messe für Jungfrauen und Märtyrerinnen (Nr. 19).[25] Dass ein einzelnes Kyrie von der Gruppe getrennt und zwischen die Benedicamus domino gestellt ist (Nr. 26), bedeutet vielleicht, dass beide zu einer Marienmesse gehören sollten, wie ihre Texte nahelegen.
Ungewöhnlicherweise fehlen Rubriken für fast alle Stücke. Stenzl ergänzt in seinem Inventar die jeweils anzunehmende Rubrik; für Tropen wählt er den Begriff “Versus”.[26] Die Bezeichnung “Versus super…”, z.B. in A-Gu Cod. 756 und CH-SGs 546, wurde besonders für solche Tropen verwendet, die einem Prosatext gereimte Stophen hinzufügten. Am Tropenrepertoire der Handschrift fällt die Verschiedenheit textlicher Formen auf. Es gibt knappe, gereimte Zwei- oder Dreizeiler, die in die Trägertexte eingeschoben oder an sie angehängt sind (z.B. Nr. 14, 21); es gibt umfangreiche Prosadichtungen, die das vom traditionellen Choral vorgegebene Material zu Großformen ausgestalten, z.B. in dem zweistimmigen Simultantropus Nr. 12 “Viderunt omnes” (» A. Kap. Mehrstimmige Soloabschnitte). Es gibt ausgearbeitete Strophenlieder (Nr. 11, “Laudem deo”, Nr. 13, „Flos de spina“) in oft ganz unabhängigen Formen, nämlich Cantionen (Nr. 22-24). Unzuweisbar ist Nr. 45, dessen Bestimmung als Tropus nicht feststeht: Die abgekürzten Verweise “Sed tu [bone Iesu Christe, nostri miserere]” und “Ergo [bone Ihesu Christe, nostri miserere]”, führen nicht auf einen zugrundeliegenden Choralgesang, sondern auf einen Respons oder Refrain des Stückes selbst.
Die Bezeichnung “Cantio” ist in böhmischen Handschriften des mittleren 14. Jahrhunderts anzutreffen, sowie im “Moosburger Graduale” (D-Mu 2o 156 “Moosburger Graduale”) vom Jahre 1360 (» A. Kap. Die Entstehung des Begriffes “Cantio”). Im Cod. 457/II steht als Nr. 22 die aus Böhmen stammende Cantio “Nunc angelorum gloria”, die noch im Seckauer Cantionarius von 1345 als “Conductus de nativitate” bezeichnet worden war, in D-Mu 2o 156 (fol. 236r) jedoch als “Cantio”. Der Begriff „Conductus“ kommt in Cod. 457/II nicht vor.
Nr. 48 und Nr. 50-65 beziehen sich textlich auf die bekannten Marienantiphonen “Salve regina”, “Alma redemptoris mater” und “Nigra sum”, sowie auf die Totenantiphon “Media vita”. Stenzl bezeichnet Nr. 48 und 50 als “Sanctus- oder Antiphon-Tropus” und vermerkt, dass in diesen gereimten Tropustexten ausdrückliche Verweise auf die Trägerantiphon fehlen, dass sie also “offensichtlich nicht als Tropen, sondern als liturgieunabhängige Cantionen verwendet“ wurden.[27] Vor allem in Böhmen wurden solche tropierten Antiphonen auch in der Messe bestimmter Jahreszeiten gesungen; z.B. erklang der Salve Regina-Tropus “Ave ierarchia” zur Adventsmesse (Missa Rorate).[28] Wie solche Antiphontropen dann im Sanctus gesungen wurden, etwa zwischen Sanctus und Benedictus, scheint bisher unsicher.[29]
Konkordanzen zu Cod. 457/II: Die drei Hauptquellen und Böhmen
Dass der Innsbrucker Cantionarius schon in seinem von Hand 1 geschriebenen Hauptteil eine Anthologie aus verschiedenen Quellen ist und nicht eine glatte Abschrift einer einzigen Vorlage, wird unter anderem durch graphische Variationen in der Musiknotation nahegelegt, z.B. in der Behandlung der Virga und Apostropha.[30] In vielen Fällen von „Konkordanz“ (» Abb. Inhaltsverzeichnis) variieren die Fassungen verschiedener Quellen erheblich. Hand 1 dürfte die Fassungen der Vorlagen zum Teil verändert oder neue Versionen eingeführt haben. Oftmals sind ohnedies nur die Texte konkordant. Eigeninitiative der Musiker von Cod. 457/II ist besonders wahrscheinlich bei den 16 Stücken des Cantionarius ohne Konkordanzen (» Kap. Überlieferung).
Die Quelle mit den meisten Konkordanzen zu Cod. 457/II ist die Sammlung CZ-Pu V H 11; wie der Hauptteil von Cod. 457/II gehört sie dem späten 14. Jahrhundert an. Sie stammt aus einem Kollegium der Universität Prag, offenbar mit Verbindung zu Augustiner-Chorherren.[31] In beiden Handschriften erscheinen die zweistimmigen Lesungen Nr. 6-8 und die Serien der Lamentationen (Nr. 44) in derselben Reihenfolge direkt hintereinander, und einige Antiphontropen (Nr. 55-58) stehen ebenfalls als geschlossene Gruppe in beiden Quellen beisammen. Nr. 44, 50, 56, 57 und 65 sind in der Konkordanzquelle V H 11 zweimal notiert. Unikale Konkordanzen sind Nr. 27, 44 und 65. Offenbar besteht ein enger Zusammenhang zwischen den beiden Quellen. Besuchte ein Prager Kleriker den Entstehungsort von Cod. 457/II oder war umgekehrt jemand von dort nach Prag gereist? Es wäre so ungewöhnlich nicht, denn auch der Mönch von Salzburg verbrachte vielleicht einige Zeit in der kaiserlichen Residenzstadt.[32]
Von den anderen Quellen steht der Seckauer Cantionarius A-Gu Cod. 756 (1345; Augustiner-Chorherren) dem Innsbrucker nach Zahl der Konkordanzen am nächsten.[33] Viele gemeinsame Stücke sind textlich schon vor dem 14. Jahrhundert belegt. Die anderen musikalischen Quellen sind meist jünger als die beiden Cantionarien. Ein musikalischer Zusammenhang zwischen diesen würde mündlich vermittelt sein, da Seckau in linienlosen Neumen notiert ist; auch kann es gemeinsame (lokale?) Präferenzen für bestimmte Texte gegeben haben.
Die Konkordanzenmenge zwischen den genannten drei Quellen übertrifft alle anderen Verbindungen bei weitem (» Abb. Troparien).[34] Die seltensten Stücke und unikalen Konkordanzen (Stücke, die in nur einer anderen Quelle vorhanden sind) führen besonders oft zu böhmischen Quellen, z.B. bei Nr. 3, 5, 9, 12, 27, 31, 44, 45, 50, 56, 57, 58. Eine der vielen Musikhandschriften, die im 14.-15. Jahrhundert von Böhmen nach Österreich gelangten, ist Reichersberg Cod. 60,[35] der mit Cod. 457/II die Serie Nr. 6-9 und darin die unikale Konkordanz Nr. 9 gemeinsam hat. Ferner gibt es fünf Konkordanzen mit der böhmischen Zisterzienser-Handschrift CZ-VB Ms. 42 („Hohenfurter Cantionale“, 1410), die gerade wegen der verschiedenen Ordensherkunft beachtenswert sind.[36]
Stenzl zufolge sind die marianischen Antiphon-Tropen wegen ihrer frühen breiten Streuung in der Mehrzahl nicht „böhmische Lieder“.[37] Dies betrifft wohl die Nrn. 49, 51, 53, 55, 59 und 60, sowie vielleicht Nr. 48, 52, 54 und 61 (Unikate in Cod. 457). Ausschließlich in böhmischen Quellen vor 1400 stehen jedoch Nr. 50, 56, 57, 58 und 65.
Der Einfluss von Notre-Dame und weitere Konkordanzquellen zu Cod. 457/II
Nr. 1, 12, 13, 25, 60 und 68 haben zumindest textlich mit dem sogenannten Notre-Dame-Repertoire (13. Jahrhundert) zu tun. Die Verbindungen sind jedoch von jeweils verschiedener Art. Während zu Nr. 1 wohl eine musikalische Quelle der Notre-Dame-Fassung vorlag (» Kap. Überlieferung), gibt es für Nr. 12, 13 und 68 nur jeweils eine textliche Tradition, die in Nr. 13 zudem stark abgewandelt ist (» A. Kap. Flos de spina). Nr. 25, „Benedicamus devotis mentibus“, ein Marientropus, verwendet eine Melodie des 11. Jahrhunderts, die ursprünglich einem Melisma für St. Nikolaus entstammte („Eia pueri iubilo“); sie wurde oft mehrstimmig gesetzt.[38] Nr. 60 ist ein alter Tropus, von dem es viele Versionen gab, im Notre-Dame-Repertoire auch mehrstimmige; doch keine dieser Überlieferungen scheinen für Cod. 457/II relevanter als diejenige des Seckauer Cantionarius, wo Text und Rubrik von der restlichen Überlieferung abweichen.
Da die benediktinische Handschrift „ENG“ (CH-EN Ms. 314) sehr umfangreich ist, überrascht die Zahl von neun Konkordanzen mit dem gleichaltrigen Cod. 457/II kaum. Besondere Übereinstimmungen von Fassungen oder unikale Konkordanzen sind jedoch nicht zu beobachten.[39] Auch die vier Konkordanzen zum „Moosburger Graduale“ (D-Mu 2o 156) von 1360 sind allgemein verbreitetes Material.
Cod. 457/II könnte durch „Par concentu“ (Nr. 22) mit der älteren süddeutschen Handschrift „MüC“ (D-Mbs Clm 5539) verbunden sein (» Kap. Überlieferung); die echten Konkordanzen mit dieser süddeutschen Quelle (Nr. 17, 26, 36, 53, 62) sind aber weit verbreitet.[40] Davon steht nur Nr. 53 auch in einer böhmischen Quelle (CZ-Pu V H 11).
MüC wurde Anfang des 14. Jahrhunderts vielleicht am Bischofshof Regensburg angefertigt und kam später in das Augustiner-Chorherrenstift Diessen. Die Quelle teilt mit „LoD“ (GB-Lbl add. 27630)[41] das Schicksal, dass beide Handschriften aus anderen Entstehungsorten noch im Mittelalter in südbayrische Augustiner-Chorherrenstifte verbracht wurden – MüC nach Diessen, LoD nach Indersdorf. Die Musik beider Handschriften ist in Quadratnotation geschrieben, die damals bei Augustiner-Chorherren unüblich war. Beide enthalten Nachträge in gotischer Choralnotation.
Textliche Hinweise verbinden LoD mit dem Augustiner-Eremitenorden und Böhmen. Joseph Willimann vermutet eine Provenienz aus dem Prager St.-Thomas-Kloster der Augustiner-Eremiten, legt sich jedoch nicht endgültig darauf fest.[42] Die Konkordanzen zwischen Cod. 457/II und LoD (Nr. 1, 13, 14, 15, 17, 20, 62, 63) sind meist ältere Stücke, von denen außer den weit verbreiteten Nrn. 62 und 63 keine auch aus Böhmen bekannt sind. Der Kirchweihtropus „Salva Criste te querentes“ (Nr. 14) ist in LoD zweimal notiert; die zweistimmige Fassung dieses Stimmtauschtropus ist eine unikale Konkordanz, während die Wiener Minoritenhandschrift PL-Kj Berol. Mus.ms. 40580 eine einstimmige Version enthält.[43]
ENG, MüC und LoD überliefern auch die ursprünglich französische Gattung der Motette.[44] In Cod. 457/II dagegen notiert Hand 1 gar keine Motette, die Nachtragshand 5 eine einzige (Nr. 68), die nur textlich mit älteren französischen Vorlagen korreliert.
Konkordanzen mit dem Codex „MüD“ (D-Mbs Cgm 716; 3. Drittel 15. Jahrhundert) sind wegen dessen später Entstehungszeit kaum von Bedeutung für den Innsbrucker Cantionarius. Allerdings interessiert Joseph Willimanns These, dass MüD etwas mit dem Münchner Augustiner-Eremitenkloster zu tun haben könnte.[45]
Mehrere bei Stenzl nicht erwähnte Konkordanzen stammen aus ost-österreichischen Klöstern.[46] Zu ihnen gehört die einstimmige Version von Nr. 14 (zweistimmig sonst nur in LoD) in PL-Kj 40580 (aus Wien), fol. 82v. Die Texte von Nr. 4 und 9 erscheinen auch, in anderen Vertonungen, im Antiphonale A-Gu Cod. 29 aus St. Lambrecht (Steiermark).[47]
Robert Klugseders Kataloge der Musikhandschriften der ÖNB vermerken ferner:[48] Cod. 1741 (1. Hälfte 14. Jahrhundert) mit den Tropen Nr. 62 “Ach homo perpende” und Nr. 63 “Rector caeli immortalis”, die in Innsbruck nebeneinander stehen. Die Handschrift stammt aus der Kartause Gaming (NÖ). Cod. 1586, eine der zahlreichen Quellen von Nr. 11, ist ein Lektionar des 14. Jahrhunderts, das später dem 1414 gegründeten Augustiner-Chorherrenstift St. Dorothea in Wien gehörte.[49] Auch Cod. 2518, mit den „kleinen“ Improperien „Popule meus“ (Nr. 33), gehörte dem Wiener St. Dorotheastift, ist jedoch ein Rituale des 14. Jahrhunderts. Cod. 3586, ehemals in Mondsee, enthält den Text des bekannten Benedicamustropus Nr. 2. Cod. 3946 (datiert 1424), eine Handschrift aus Gmunden (OÖ) bzw. aus dem Domkapitel Salzburg, überliefert die weit verbreiteten Kyrietropen Nr. 15 und 17. A-Wn Cod. S.n. 228 (aus Salzburg?, Kantionale des frühen 14. Jahrhunderts) enthält Nr. 62 (Nachtrag des 14. Jh.).
Überlieferung und Originalität
Die Frage nach einer irgendwie zu bestimmenden Eigeninitiative, Originalität oder musikalischen Erfindung muss von der Feststellung ausgehen, dass die klösterliche Musikkultur vorzugsweise nicht komponierte Einzelstücke, sondern rituelle Einheiten von Sprache und Musik erfand bzw. zusammenstellte und aufführungspraktisch realisierte.[50] Wir wissen auch meist nicht, inwieweit musikalische Varianten zwischen zeitlich differierenden Quellen irgendeiner „Stilentwicklung“ zu verdanken sind, oder ob jeder Musiker auf Grundlage traditioneller Schemata neu gestalten konnte.
Das Repertoire von Cod. 457/II beginnt auf fol. 72r mit dem Responsorium „Iudea et Ierusalem“ zum ersten Gottesdienst des Weihnachtsfestes, nämlich der Vesper am Vorabend. Das Responsorium gehört zur regulären Liturgie, wird hier aber teilweise zweistimmig vorgetragen. Die Anfangsworte, „Iudea et Ierusalem“, sind motto-artig auskomponiert (» Abb. Iudea et Ierusalem; » A. Kap. Mehrstimmige Soloabschnitte). Danach geht es zunächst einstimmig weiter. Zweistimmig sind dann wieder der Vers „Constantes estote“ und das „Gloria patri“. Eine Fassung des Responsoriums findet sich schon im Notre-Dame-Repertoire, wo dieselben Abschnitte zweistimmig sind wie in Cod. 457/II.[51] Hier ist jedoch ist die Zusatzstimme ganz anders. Sie differiert auch, obwohl weniger, von den Quellen ENG (CH-EN 314) und LoD (GB-Lbl add. 27630), wo nur der Vers „Constantes estote“ zweistimmig ist.[52] In A-Gu Cod. 29, fol. 37v, wurde dieser zweistimmige Vers später in deutschen Neumen nachgetragen (» Notenbsp. Constantes estote). Diese nachgetragene Niederschrift könnte auf Cod. 457/II selbst beruhen, wäre dann allerdings vereinfacht worden: Trotz weitgehender Ähnlichkeit hat die Innsbrucker Zusatzstimme größere melodische Beweglichkeit und größeren Umfang.
Weit verbreitete mehrstimmige Stücke wie die Lektionen Nr. 6-8 oder der Episteltropus „Laudem deo dicam“ (Nr. 11) sind manchmal lokale Neuvertonungen allgemein bekannter einstimmiger Choralvorlagen. Wie bei Nr. 1 konnte nicht nur die Musik der mehrstimmigen Abschnitte von Ort zu Ort differieren, sondern bereits die Auswahl der mehrstimmig vorzutragenden Textabschnitte. Bei Nr. 8 steht der Cantionarius mit einer Textvariante („Jube domine nos tuis benedictionibus adimpleri et sacris lectionibus proficere“) allein gegenüber mindestens 12 anderen Quellen.[53] Er trifft auch eine andere Auswahl zweistimmiger Abschnitte – die jedoch musikalisch von der Hauptüberlieferung kaum abweichen. Bei Nr. 7 stimmen unter vielen Quellen nur Cod. 457/II, CZ-Pu V H 11 und A-GÖ Ms. 307 (Benediktiner-Lektionar, Göttweig, 15. Jahrhundert) in der Wahl des seltenen 4. Modus auf A überein; das melodische Detail ist nur in Cod. 457/II und Göttweig gleich.[54] Da Göttweig 307 die jüngere Quelle der beiden ist, könnte die neue Melodiefassung aus dem Umfeld des Innsbrucker Cantionarius stammen. Auch in anderen Fällen, z.B. „Virgo mater, consolatrix“ (Nr. 57), gibt es melodische Abweichungen zwischen Cod. 457 und V H 11,[55] die auf originalen Initiativen, nicht auf Zwischenvorlagen beruhen dürften. Üppige Ausgestaltung einer traditionellen Matrix zeigt Nr. 9: Die Anfangs- und Schlussworte sind mit großen Vokalisen ausgestattet, während die gereimten Tropusverse („Maria candens lilium“) vorwiegend syllabisch gesungen werden.[56] Die melodischen Abweichungen zwischen Cod. 457/II und EN 314 bei „Ego comparabilis“ (Nr. 59) bezeichnet Jürg Stenzl hingegen als „Überlieferungsvarianten“: Sie haben sich durch (schriftliche oder mündliche) Weiterverbreitung wie von selbst ergeben.
Völlig unterschiedliche Überlieferungen kennzeichnen die Lesung Nr. 10, deren Fassung in Cod. 457/II als Unicum gelten kann.[57] Doch wird hier der Lektionston im 3. Modus nur mit einer traditionellen Eingangsformel und mit melismatisch erweiterten Zeilenenden ausgeschmückt: Das Stück ist also nicht neu erfunden, sondern folgt der Tradition, oder ist gar Kontrafaktur eines anderen Stücks.[58] Freilich erlaubte ein formelhafter Gebrauch von Lektionstönen bisweilen phantasievolle Ausarbeitung, wie in der dreistimmigen Lesung „Jube domne … Primo tempore“ der Handschrift SI-Lna Ms. 13, fol. 1r, aus Kranj/Krainburg (Slowenien).[59] Das Stück ist nicht mit Nr. 6 verwandt, da ein anderer Lektionston (5. Modus) gewählt wurde.
Der Cantionarius enthält nur eine Motette bzw. motettenartige Komposition, erkennbar an der mensuralen Notation (Hand 5) und der als Tenor zu verstehenden Unterstimme in längeren Notenwerten: „Auctor vite virgine“ (Nr. 68). Der Text kommt in Notre-Dame-Handschriften vor, doch ist keine musikalische Konkordanz bekannt. Tenor und Oberstimme passen seltsamerweise nicht zusammen. Motettensammlungen des 14. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (ENG, MüC, LoD) überliefern oft vereinfachte oder in Einzelstimmen zertrennte Fassungen.[60] Das kann dazu geführt haben, dass textlose Tenores mit nicht zugehörigen Oberstimmen kombiniert wurden. Ein anderes Beispiel ist die Motette “Salve Maria regia” mit anscheinend unpassendem Tenor in A-Wn Cod. S.n. 228,[61] von der PL-Kj Mus.ms. 40580 eine einstimmige Fassung überliefert. Auch der Seckauer Cantionarius, fol. 218v-219v, bietet Stücke mit als “Tenor” bezeichneten Unterstimmen. Angesichts dieser Überlieferungssituation ist „Auctor vite virgine“, obwohl Unicum, wahrscheinlich nicht als Eigenschöpfung zu betrachten.
Die Oberstimme der Sequenz „Salve proles Davidis“ (Nr. 30) käme als Eigenkomposition in Frage, da sie Unicum ist, während die Grundstimme weit verbreitet war. Jedoch würde der einfache syllabische Stil dieser Zusatzstimme nicht den Eigenvarianten von Cod. 457/II in anderen Stücken entsprechen.
Die Cantio auf St. Dorothea „Par concentu rogito“ (Nr. 23) hat ihr musikalisches Vorbild in der Pastourelle „Exiit diluculo“ (Carmina Burana Nr. 90), mit lesbarer Notation versehen in MüC. Der neue Text und dessen Melodie scheinen durch Anlehnung an das ältere Lied entstanden zu sein (» B. Kap. Traditionsbildung durch Anklang; » Notenbsp. Par concentu) – vielleicht im Umfeld des Innsbrucker Cantionarius. Da jedoch eine ältere geistliche Kontrafaktur mit derselben Melodie existierte, ist die Abhängigkeit von MüC ungewiss.[62]
A-Iu Cod. 457 und die Kartause Schnals
Der zusammengebundene Cod. 457 (frühere Signatur: II 2 D 1 ) der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol (ULBT) gelangte 1784 aus der Kartause Allerengelberg in Schnals nach Innsbruck, im Zuge der Klosteraufhebung durch Kaiser Joseph II. im Jahre 1782. Der Codex, der in Schnals die Signatur E 102 getragen hatte, war damals in seinem mittelalterlichen Einband vollständig erhalten und wurde auch später nicht weiter verändert. Der schmucklose „gotische“ (lt. Katalog) Einband, besteht aus mit hellbraunem Leder überzogenen Holzdeckeln. Er trägt den eingepressten Titel Dicta Haymonis de sanctis, der auch auf fol. 1r als Überschrift der originalen Beschriftung in roter Tinte erscheint. Daneben befindet sich, von späterer Hand (17. Jh.?), der Besitzvermerk „Carthusie Snals“. Im 1784 angefertigten Inventar der aus Schnals übernommenen Bücher wird der Codex beschrieben als „Dicta Haymonis de Sanctis, unvollständig, daran angeschlossen kirchlicher Gesang mit Musiknoten“.[63]
Dass die Kartause Allerengelberg bei Schnals/Senales nahe Meran (gegr. 1326) Vorbesitzer des vollständigen, gebundenen Codex gewesen war, ist somit erwiesen. Nicht belegt ist, seit wann die Handschrift sich dort befand und wo sie urspünglich angefertigt wurde. Da sie aus zwei inhaltlich und kodikologisch unabhängigen Teilen (fol. 1-71: Predigtsammlung; fol. 72-107: Musiksammlung) besteht, müssen für die Herkunft beider Teile getrennte Antworten gefunden werden. Der Einband des Codex, der beide Teile umfasst, stammt jedenfalls schon aus dem 15. Jahrhundert, wie gezeigt werden soll.
Musikausübung war im Kartäuserorden sehr eingeschränkt. Die Mönche lebten individuell in einzelnen Wohnungen, hatten keine Möglichkeit zur Kommunikation mit der Laienwelt durch Predigt oder Seelsorge und durften in Stundengebet und täglicher Messe nur die einfachsten, demutvollen Gesänge ausführen; hierfür sollte ein Gesangmeister zur Verfügung stehen.[64] Gemeinsame Feiern von Messe und Stundengebet unterlagen bestimmten Einschränkungen. Zwar sind praktische und theoretische Musikquellen aus mittelalterlichen Kartausen erhalten:[65] Jedoch sind einige davon der reinen Kopiertätigkeit einzelner Mönche zu verdanken. Ein Beispiel ist das umfangreiche Kantionale des Basler Kartäusers Thomas Kress (gest. 1564), der am Ende seines Lebens als einziger verbliebener Insasse der Basler Kartause von der inzwischen protestantischen Stadtverwaltung besondere Erlaubnis erhielt, überlieferte lateinische Gesänge aufzuschreiben.[66] Ein Choraltraktat des 15. Jahrhunderts aus der niederösterreichischen Kartause Gaming (gegr. 1330) bezieht sich nicht auf die Choralpraxis des Ordens selbst.[67] Musikquellen aus der Kartause Buxheim bei Augsburg (gegr. 1402), seit 1883 in der Bayerischen Staatsbibliothek und anderswo befindlich, waren vermutlich als Geschenkbände erst seit dem 16. Jahrhundert nach Buxheim gelangt. Andererseits sind aus der Kartause Žiče/Seiz (Slowenien, früher Steiermark, gegr. 1160) mehrere mittelalterliche Antiphonalien und Gradualien erhalten, die für den Eigengebrauch angefertigt wurden.[68]
Mit der Musikpflege der Kartäuser im 14.-15. Jahrhundert ist der Inhalt von Cod. 457/II unvereinbar. Gesänge wie Tropen und Cantionen sowie Mehrstimmigkeit waren verboten; eine für solche Gesänge gedachte besondere Sammlung wäre erst recht unzulässig gewesen, sei es für die Mönche oder die Konversen. Auch für eine Zweckbestimmung außerhalb des Klosters, etwa die Pfarrei des Schnalstales selbst, hätten Kartäuser diese Sammlung nicht angefertigt. Es ist also hochwahrscheinlich, dass Cod. 457/II nicht in Schnals entstanden ist.
Ähnliches gilt für Cod. 457/I, die lateinische Predigtsammlung, denn auch das Predigen war den Kartäusermönchen mit bestimmten Ausnahmen verboten. Die Predigten, vorwiegend anonym, stammen von Haymo von Halberstadt (zweifelhaft zugeschrieben), Iacobus de Voragine, Peregrinus de Oppeln, Aldobrandinus de Cavalcantibus, Siboto, Iohannes Nider, Graeculus, Berthold von Regensburg, Iohannes de Rupella und Conradus Holtnicker de Saxonia.[69] Die genannten Autoren sind fast sämtlich Dominikaner (Predigermönche) und Franziskaner. Der jüngste Autor ist Iohannes Nider (Isny 1380-Nürnberg 1438), weshalb diese einheitlich angelegte Predigtsammlung in das 15. Jahrhundert zu datieren ist. Gelegentliche deutsche Randglossen zur Predigtsammlung, die nicht erst nachträglich hinzugefügt wurden, deuten auf Schreiber aus dem südlichen Teil des bairischen Mundartgebietes.[70] Obwohl lateinische Predigten für Kartäusermönche als Leseliteratur in Frage kamen, muss damit gerechnet werden, dass auch die Predigtsammlung nicht in oder für Schnals angefertigt wurde, sondern erst im zusammengebundenen Band dorthin kam. [71] Dass sie aus einem Bettelordenskloster stammte, ist durchaus möglich.
Die Einbandnotizen von Cod. 457
Der Einband von Cod. 457 ist verstärkt durch Pergamentblätter aus zwei liturgischen Handschriften des 12. Jahrhunderts, die auf die Innenseiten der Einbanddeckel geklebt sind; auf ihnen befinden sich Eintragungen in Konzeptschrift (notula), die beide im mittleren 15. Jahrhundert von derselben Hand geschrieben wurden. Die Notiz im vorderen Deckel lautet: „Qualiter Deum esse in et aliter et indifferenter in toto (?) loco non plus vel minus esse in ultimo angulo sicut in acie chori vel altaris. / Quaere evidentiam siche uberlich (?). / Das die gotliche Almehtikait under gestalt der sichtigen dinnge verporgenlich ist (?) verburcket das hail der selen, munditiam in baptismo.“[72] Diejenige im hinteren Deckel bezieht sich offenbar auf eine Reise des Besitzers.(» Abb. Hinterer Innendeckel Cod. 457, Erinnerungsnotiz).[73]
Der Schreiber dieser Eintragungen war im Besitz des gesamten, zusammengebundenen Codex, da er sie in den Einbanddeckeln hinterlassen hat. Er war bis Straßburg (lat. Argentorati oder Argentina) gereist und hatte sich offensichtlich auf der Rückreise von dort in Bozen (lat. Bosanum) aufgehalten. Dabei „vernachlässigte“ er [die Liturgie] von der ersten Vesper vor Sonntag Oculi bis zum folgenden Freitag einschließlich. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um seine Gebetspflichten, denen er in Bozen nicht nachkommen konnte.[74] Die sieben Bußpsalmen mit Litanei (“septem penitentiales in litania”) standen in vielen privaten Gebetbüchern und waren keineswegs auf Mönchsorden beschränkt. Die vom Schreiber zuvor erwähnte Gruppierung von „vier Bußpsalmen“ und dazu Ps. 78 (Deus venerunt gentes), Ps. 50 (Miserere mei) und Ps. 15 (Conserva me domine) scheint jedoch unbekannt – Ps. 78 und 15 sind keine Bußpsalmen – und mag zur persönlichen Praxis des Schreibers gehört haben. Bei Kartäusern ist sie nicht nachweisbar.[75]
Jemand, der einen Codex mit Predigten und Musik in Besitz hatte, Priester oder Mönch war und weite Reisen unternahm, dürfte nicht in einer Kartause gelebt haben.[76] Dieser Mann hatte theologische Interessen, die in der ersten Notiz zum Ausdruck kommen, und die vielleicht mit deutschsprachigem Predigen zu tun haben. Seine mit den Ortsnamen Straßburg und Bozen angedeutete Reiseroute erklärt sich am besten so, dass er in Tirol lebte, jedoch nicht in Schnals, weil man von Straßburg aus nicht über Bozen nach Schnals reiste, sondern über den Brenner- oder Reschenpass und Meran.
Cod. 457 in Neustift/Novacella?
Eine angeblich ähnliche Erinnerungsnotiz wie diejenige des Cod. 457 befindet sich im Cod. 960 der ULBT (» A-Iu Cod. 960), der „Neustifter Spielhandschrift von 1391“, die im 15. Jahrhundert dem Augustiner-Chorherrenstift Neustift/Novacella gehörte.[77] Auf der letzten Seite der Handschrift (fol. 60v) steht neben Federproben ein Vermerk zum Tod des Dichters Oswald von Wolkenstein, der ein Pfründner des Stifts gewesen war, am 2. August 1445, und zur Überführung seiner Leiche aus Meran nach Neustift wenig später.[78] Der Innsbrucker Katalog bringt diesen Vermerk, sowie einen ähnlichen auf fol. 50v desselben Codex (von Iohannes librarius von Neustift?), mit den Notizen im Einband von Cod. 457 in Zusammenhang.[79] Bei so geringem Schriftmaterial im flüchtigsten der damaligen Schreibstile ist Identität der Schreiberhände nicht festzumachen.
Die fragmentarischen Pergamentblätter des Einbandes von Cod. 457 stammen aus einer Psalterhandschrift des frühen 12. Jahrhunderts. Das Blatt im vorderen Innendeckel enthält eine dekorierte Initiale (Buchstabe „Q“, blassrot und dunkelgrün). Unter den in der ULBT Innsbruck neuerdings inventarisierten Bindefragmenten anderer Codices sind die Pergamentstreifen Frg. 18_1-2 den Blättern im Einband von Cod. 457 sehr ähnlich (» Abb. Einbandstreifen aus einem Neustifter Codex).
Obwohl nicht dieselbe Schreiberhand vorliegt, besteht ein deutlicher Zusammenhang, u.a. in den Tintenfarben und den Formen der Zusatzzeichen über der Zeile (Abkürzungen), die gelegentlich fast wie Musikneumen aussehen.[80] Nach Auskunft von Dr. Claudia Sojer, ULBT Innsbruck, stammt die ehemalige Trägerhandschrift dieser Fragmente aus Neustift/Novacella. So ergibt sich, dass auch Cod. 457 wahrscheinlich in Neustift gebunden wurde (und zwar im frühen bis mittleren 15. Jahrhundert) und dass dementsprechend auch die beschriebenen Erinnerungsnotizen dort eingetragen wurden.
Als weiteres Indiz für die Anwesenheit des Codex in Neustift im 15. Jahrhundert mag gelten, dass das Graduale-Antiphonar Ms. 139 der Bibliothek Neustift/Novacella (um 1495) auf fol. 118v-119r (alte Blattzählung CLVIIIv-CLIXr) ein Patrem in rhythmischer Notation (cantus fractus) enthält, das mit dem Patrem Nr. 32 (fol. 90r) die C-Tonart gemeinsam hat, im Gegensatz zur F-Tonart der allermeisten anderen Niederschriften dieser beliebten Melodie.[81] Damit ist freilich nicht bewiesen, dass der Cantionarius ursprünglich aus Neustift stammt. Vielmehr spricht vieles dagegen.
Zur Herkunft des Innsbrucker Cantionarius: paläographische Fragen
Die bis heute geltende Forschungsmeinung zur Herkunft des Innsbrucker Cantionarius lautet im Katalog der ULBT:
Tirol (?) bzw. Neustift (?), 14. Jh. bzw. Wende 14./15. Jh.[82]
Dass sich der zusammengebundene Cod. 457 im mittleren 15. Jahrhundert im Augustiner-Chorherrenstift Neustift befand, wird durch den Einband und seine Erinnerungsnotiz nahegelegt (» Kap. Cod. 457 in Neustift?). Dass der Cantionarius Cod. 457/II auch dort geschrieben worden sei, ist damit nicht gesagt. Von den Forschern, die diese Vermutung ausgesprochen haben,[83] weist keiner eine Schriftähnlichkeit mit Neustifter Handschriften nach. (Auch dem Schreiber dieser Zeilen ist das nicht gelungen.) Vielmehr schlägt der Innsbrucker Katalog zur Stützung der Neustift-These eine Parallele zur Notation der „Sterzinger Miszellaneenhandschrift“ (I-VIP o.Sign.) vor.[84] Hand 1 von Cod. 457/II schreibt deutsche gotische Neumen, die Sterzinger Handschrift dagegen böhmische Notation sowie Mensuralnotation; eine besondere graphische Ähnlichkeit besteht nicht.[85]
Ähnlich indirekt ist das Argument von Erika Timm, die Initialen 2. Klasse von Cod. 457 seien mit jenen der Wolkenstein-Handschriften „WolkA“ und „WolkB“ vergleichbar; derselbe Typus finde sich zudem im bekannten Graduale Friedrich Zollners, das in den 1440er Jahren für Neustift angefertigt wurde (» Abb. Puer natus est nobis).[86] Es geht hier nur um generelle Ähnlichkeiten; die Initialen in Cod. 457/II und den anderen genannten Quellen sind im Einzelnen deutlich verschieden. Heute wissen wir, dass „WolkA“ um 1425 in Wien geschrieben wurde; auch „WolkB“ (1432) entstand jedenfalls nicht in Neustift, sondern womöglich in Basel. [87] Auf andere Herkunft als Neustift deutet ferner, dass die Form der Kustoden in Cod. 457/II, fol. 91v, auch in „WolkA“ und einer anderen Wiener Quelle des 15. Jahrhunderts vorkommt (» Kap. Cod. 457/II: Die Nachträge). Und die mehrzeiligen Fleuronnée-Initialen 1. Klasse, z.B. auf fol. 72r (» Abb. Iudea et Ierusalem), sind vergleichbar einigen Initialen der böhmischen Quelle CZ-VB 42 von 1410.[88]
Die Textschrift von Cod. 457/II wurde von Wulf Arlt mit der Hand „S2“ in CH-EN 314 verglichen, hauptsächlich um die Entstehungszeit beider näher zu bestimmen.[89] Solche Formen der Buchschrift sind in der Tat problemlos in die letzten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts datierbar. Zwischen der Textschrift in Cod. 457/II und den Händen im Engelberger Codex besteht darüber hinaus kein paläographischer Zusammenhang.
Zur Herkunft des Innsbrucker Cantionarius: inhaltliche Fragen
Erika Timm versuchte 1974 den musikalischen Werdegang Oswalds von Wolkenstein zu rekonstruieren und betonte dabei die Musikpflege des Augustiner-Chorherrenstifts Neustift/Novacella, wo Oswald seit 1411 eingepfründet war. In einem Nachtrag bestimmte sie dann Neustift auch als den Entstehungsort von Cod. 457/II. Timms Herkunftsbestimmung wurde von den meisten späteren Autoren wiederholt, soweit sie überhaupt Belege zitierten. Was die Musikpflege der Augustiner-Chorherrren betrifft, ist es zunächst schwer verständlich, warum Timm als Entstehungsort von Cod. 457/II keine anderen Augustinerstifte in Betracht gezogen hat. Allein schon in Südtirol hatte der Orden damals ein weiteres Zentrum im Chorherrenstift „in der Au“ in Bozen-Gries, das in der Literatur zu Cod. 457 fast nie erwähnt worden ist. Timm beschränkte sich jedoch auf „Tirol“ bzw. auf die Diözese Brixen,[90] denn sie wollte im Grunde nur beweisen, dass der einzig mögliche Herkunftsort derjenige sei, der mit Oswald von Wolkenstein zu tun hatte, nämlich Neustift. Dass Oswalds musikalische Interessen dort gefördert wurden, ist zwar denkbar, sagt aber nichts über den Entstehungsort der Handschrift aus, selbst wenn diese dem Dichter im Stift bekannt geworden wäre.
Ein anderes inhaltliches Herkunftsindiz sind für Walther Lipphardt und Erika Timm die Cantionen auf St. Dorothea, Nr. 23, und St. Nikolaus, Nr. 24 (» Abb. Inhaltsverzeichnis). Diese Heiligen seien besonders von den Augustiner-Chorherren bzw. gerade in Neustift verehrt worden; es gibt ein Fresko von St. Dorothea im Neustifter Kreuzgang sowie eine Nikolauskirche in Brixen.[91] Da keine anderen Heiligen außer Maria im Cantionarius eine Rolle spielen, mag dies zunächst triftig erscheinen – aber nur, wenn man nur Südtirol berücksichtigt und die universale Beliebtheit des Hl. Nikolaus sowie die weit über die Augustiner hinausreichende Verehrung der Hl. Dorothea beiseite lässt.[92] Diese beiden Heiligen wären in einem Wiener, Salzburger, Seckauer, St. Florianer oder Klosterneuburger Cantionarius vermutlich ebenso hervorgehoben worden.
In einem Beitrag von 1982 zur Herkunft der Carmina Burana (D-Mbs Clm 4660) behandelte Lipphardt dann die Neustifter Herkunft des Cod. 457/II als Tatsache, sich diesmal umgekehrt auf Timm 1974 berufend.[93] Weil er aber im Cod. 457/II keine Rezeption des Notre-Dame-Repertoires feststellen konnte, die in steirischen Quellen wie z.B. dem Seckauer Cantionarius, A-Gu Cod. 756, stattfinde, kam er zu dem Schluss, dass der Codex Buranus, der Notre-Dame-Repertoire rezipiert, ebenfalls aus Seckau stamme. Wenn jedoch Georg Steer Recht hat, der vor allem aus sprachgeschichtlichen Gründen Neustift als Herkunftsort der Carmina Burana betrachtete,[94] verkehrt sich dieses Argument ins Gegenteil: Cod. 457/II stammt eher nicht aus Neustift, weil es keinen Einfluss von Notre-Dame bezeugt.[95] Jedoch stellen die weit voneinander entfernten Entstehungszeiten der drei genannten Handschriften (um 1230; 1345; spätes 14. Jahrhundert) Lipphardts Beweisführung ohnehin in Frage: Die Vorbildwirkung des Notre-Dame-Repertoires war im späten 14. Jahrhundert sicher sehr verblasst.
Positive Indizien zur Herkunft des Cantionarius Cod. 457/II
Die eingehende Inventarisierung der Handschrift Iu 457 erlaubt keine eindeutige Lokalisierung und Datierung“ (Jürg Stenzl).[96] Trotzdem belegt Stenzls Inventar die vorrangige Bedeutung von Konkordanzen mit böhmischen Quellen (» Kap. Konkordanzen). Die Zusammenstellung des Cantionarius scheint so erfolgt zu sein, dass man einer Sammlung lokal eingebürgerter Gesänge eine Gruppe neuer und auswärtiger Lieder hinzufügte, wofür man neue Quellen heranziehen konnte, vor allem die Prager Sammlung CZ-Pu V H 11 – falls nicht diese der Herstellung von Cod. 457/II sogar nachfolgte und das neuere Repertoire aus anderen böhmischen Quellen stammte.
Sieht man von den vermutlich böhmischen Stücken des Cantionarius ab, dann bleibt ein Grundstock von meist älterem Material, dessen hauptsächliche geographische Verbreitungszone – nach den heute erhaltenen Quellen zu urteilen – in der Steiermark (Seckau, St. Lambrecht, Neuberg), Ober- und Niederösterreich (Reichersberg, St. Florian; Göttweig, Gaming) und Wien liegt. Die seit Stenzls Inventar hinzugekommenen Konkordanzen ergeben vor allem Verbindungen zu den österreichisch-steirischen Territorien. Die Sequenz Nr. 30 „Salve proles Davidis“, die nur in Quellen des deutschsprachigen Raums vorkommt, soll in St. Florian (OÖ) entstanden sein.[97] Mit St. Florian und Reichersberg sind – außer dem Domstift Seckau – zwei weitere Augustiner-Chorherrenstifte mit Verbindungen nach Böhmen genannt. Die Ordensherkunft des Cantionarius ist jedoch nicht einfach zu bestimmen. Mindestens eine wichtige Konkordanzhandschrift, LoD (GB-Lbl add. 27630), entstand in einem Kloster der Augustiner-Eremiten.[98]
Mit dem benediktinischen Antiphonar aus St. Lambrecht (A-Gu Cod. 29) besteht vielleicht ein Zusammenhang, da „Constantes estote“ (Nr. 1) dort in deutschen Neumen und einer ähnlichen Fassung nachgetragen ist (» Notenbsp. Constantes estote).[99] Kann das Stück in dieser Notation und Fassung auf Cod. 457/II selbst beruhen? Auch die Konkordanzen mit der Seckauer Quelle A-Gu Cod. 756 legen einen Zusammenhang mit der Steiermark nahe. Der Cantionarius ist die älteste erhaltene Quelle für die Melodie der lateinisch-deutschen Marienklage „O filii ecclesie – O liben kint der cristenheit“ (» Kap. Überlieferung); die hier gewählten sprachlichen Formen, z.B. „nicht“ statt „nit“ in der letzten Zeile, passen besser zum östlichen Teil der Region Österreich als zu Tirol.
Nachträge in einem Seckauer Psalterium und Hymnar, A-Gu Cod. 392, fol. 260r-261v (1. Hälfte 15. Jh.), zeigen den charakteristischen Notationsstil von Cod. 457/II mit leicht nach rechts oben geschwungenen oberen Enden der Virga und Flexa und vielen schrägen Haarstrichen an beiden Seiten des Punctum (» Abb. Seckauer Psalterium).
Die Textschrift ist ganz verschieden. Dies ist freilich keine definitive Notationskonkordanz. Entfernter vergleichbar scheint auch die böhmisch beeinflusste Choralnotation in Nachträgen zu LoD, fol. 106v-109v.[100] Schon erwähnt (» Kap. Cod. 457/II: Die Nachträge) wurde die besondere Form der Kustoden auf fol. 91v, die auch in Wiener Quellen des frühen 15. Jahrhunderts vorkommt.
Die angegebenen Indizien führen zu dem Schluss, dass der Innsbrucker Cantionarius vermutlich im östlichen Teil der Region Österreich (am wahrscheinlichsten in der Steiermark) entstanden ist und von dort spätestens im mittleren 15. Jahrhundert nach Neustift/Novacella gebracht wurde, wo man ihn mit der Predigtsammlung Cod. 457/I zusammengebunden hat. Dass der Codex sich dort im 15. Jahrhundert befand, ist aufgrund des Einbands und der darin eingetragenen Erinnerungsnotiz (» Kap. Die Einbandnotizen) hochwahrscheinlich. In die Kartause Schnals dürfte er erst später gekommen sein, vielleicht im 16. Jahrhundert. Bei Annahme dieser Hypothese wäre der Innsbrucker Cantionarius nach MüC und LoD bereits die dritte Tropensammlung, die aus einem anderem Entstehungsort im 15. Jahrhundert in ein Augustiner-Chorherrenstift gelangt wäre. Zumindest würde das Schicksal des Cantionarius mit anderen derartigen Reiserouten „von Ost nach West“ zusammenpassen.
Tiroler Kirchengesang?
Das Repertoire des Innsbrucker Cantionarius hat schon seit den 1930er Jahren auch primär musikalische Aufmerksamkeit erregt. Ein Ausdruck davon sind die aus der Handschrift transkribierten 18 Notenbeispiele in Marius Schneiders Geschichte der Mehrstimmigkeit (1935).[101] Inwieweit diese Transkriptionen, in denen die Textunterlegung meistenteils weggelassen ist, einem heutigen Verständnis dieser Kunst entsprechen, sei dahingestellt.
Sehr willkommen ist die CD-Einspielung des Ensemble Peregrina, Codex 457: Musik des Mittelalters aus Tirol (2017).[102] Während jedoch Marius Schneider die Musik des Cantionarius in einen sowohl europäischen als auch außereuropäischen Zusammenhang zu stellen versuchte, reduziert die CD-Einspielung ironischerweise die musikalische Erfahrung dieser Stücke auf Tirol allein, wie bereits der Titel der Sammlung und der lehrreichen Einleitung von Agnieszka Budzińska-Bennett anzeigt.[103] Die nicht aus Cod. 457/II stammenden Vokalstücke bzw. Choralmelodien der Einspielung sind allein aus Tiroler mittelalterlichen Quellen abgeleitet. Dass Cod. 457/II nicht nur in Neustift/Novacella entstanden sei, sondern auch eine spezifische Tiroler Musikrichtung darstelle, hatte Marco Gozzi vorgeschlagen;[104] die Idee einer gleichsam musikalischen Patenschaft Oswalds von Wolkenstein, obwohl seinerseits „internationaler“ Musiker, kam von Erika Timm (1974). Um diese Interpretationen vom Kopf auf die Füße zu stellen, sei betont, dass der Inhalt von Cod. 457/II nicht einmal dann als spezifisch tirolerisch gelten könnte, wenn die Handschrift tatsächlich in Tirol entstanden wäre, und ebensowenig als steirisch, wenn sie, wie hier vorgeschlagen, in der Steiermark niedergeschrieben worden wäre. Was dieses von Kroatien bis Skandinavien verbreitete Tropenrepertoire und dessen Art von Mehrstimmigkeit mit Oswald von Wolkenstein zu tun haben könnte, wäre allenfalls, dass er etwas davon gelernt hätte – z.B. als er sich gerade in Wien oder Basel aufhielt.
[1] Bibliothekskatalog: Neuhauser 2008, Cod. 457, SERMONES/CANTIONARIUM. Online-Reproduktion: https://diglib.uibk.ac.at/urn:nbn:at:at-ubi:5-509. Die nach wie vor gültige Einführung mit vollständigem Inventar der Quelle ist Stenzl 2000. Ich bin Jürg Stenzl auch für weiterführende Beratung herzlich dankbar.
[2] Zu späten Troparien (Troparia tardiva) des deutschsprachigen Raums siehe Haug 1995 und Kruckenberg 2021; Cod. 457 spielt hier nur eine marginale Rolle. Husmann 1964 beschreibt Cod. 457/II und ältere Troparien.
[3] Irtenkauf 1956, 117, liest „Cantionari[um]“, doch ist die Abkürzung mit Sicherheit „us“; vgl. auch Husmann 1964, 17.
[4] Kornrumpf 2004 nennt Cod. 457 als früheste Quelle („um 1400“); Verwendung in Marienklagen ist im 15. Jahrhundert bezeugt. » Hörbsp. O filii ecclesie / O liben kint; » Notenbsp. O liebe kind.
[5] Klugseder 2011, 113-116 (mit Abb.).
[7] Literaturverzeichnisse in Neuhauser 2008; Stenzl 2000; Reaney 1969 (RISM B IV.2), 333-335.
[9] Stenzl 2000, 148. Stenzl ergänzt „Versus super …“ mit Angabe des Trägerstücks als Rubriken für Tropen.
[10] Vgl. Handschin 1952. Andere Forscher bezeichnen auch ein einzelnes Stück als „organum“. Zur Abgrenzung gegenüber „Orgel“ bzw. „Orgelstück“ vgl. Göllner 1961, 111-114. Ein zweistimmiger Responsoriumsvers in A-Gu Cod. 29, fol. 303r-v, heißt „versus per discantum“; GB-Lbl add. 27630 (LoD) identifiziert zweistimmige Stücke mehrmals als „cum biscantu“. Die Bezeichnung „biscantus“ war im 14. Jahrhundert besonders in Italien gebräuchlich.
[11] Inhaltsverzeichnisse: Flotzinger 1989, Reaney 1969 (RISM B IV.2), 327-333. Vgl. » A. Kap. Zweistimmiges Singen (Alexander Rausch); » Abb. Conserva domine.
[12] Stenzl 2000, 147.
[13] Detaillierte Beschreibung bei Neuhauser 2008, 367.
[14] Weiteres zur Notation bei Zingerle 1925, 33-38.
[15] Die Bestimmung der Schreiberhände bei Neuhauser 2008, 367, wird hier generell bestätigt, jedoch z.T. modifiziert. Stenzl 2000, 147 und 161, nimmt auf fol. 86v-95v weitere Schreiberhände an. M.E. ist auf fol. 86v-89v, 90v-91r, 91v-92r (nur Text) und 95r-v trotz geringer Varianten der Musiknotation die Haupthand am Werk.
[16] Stenzl 2000, 162; Miazga 1976, Nr. 279, 74-77.
[17] Miazga 1976, Nr. 113, 56-58.
[18] Jan Ciglbauer, Prag, bestätigt mir, dass diese Form des Kustos auch in anderen Quellen des früheren 15. Jahrhunderts vorkommt, die aus Universitätskreisen stammen.
[19] Auf den ersten von Hand 1 geschriebenen Blättern gibt es sehr kleine Kustoden in roter Tinte (» Abb. Jube domine, fol. 73r); Kustoden werden erst ab fol. 96r in schwarzer Tinte wieder eingeführt, aber in der Form der ersten Blätter. Nach Zingerle 1925, 33, stammen diese Kustoden vielleicht von fremder Hand.
[20] Wahrscheinlich ist der Introitus „Hodie scietis quia Dominus veniet“ gemeint, doch kann Stenzl 2000, 167, keine dem Incipit entsprechende Melodie identifizieren.
[21] Vgl. Göllner 1969, I, 114-116 und 321.
[22] Diese Tropen wurden auch in Marienantiphonen gesungen: » Kap. Gattungen.
[23] Vgl. » A. Kap. Karfreitag.
[24] Die radierte Rubrik könnte “In solemnitate SS. sanguinis“ geheißen haben.
[25] Inhaltlich würde dies zu St. Dorothea passen.
[26] Stenzl 2000, 151-173.
[27] Stenzl 2000, 181.
[28] Strohm 1993, 331, nach CZ-VB 42, fol. 145r.
[29] Vgl. jedoch Marie-Louise Göllner 1988 zu Nr. 53.
[30] Zingerle 1925, 33-37.
[31] Von Fischer-Lütolf 1972 (RISM B IV.3), 239. Zum Verhältnis der beiden Quellen vgl. Ciglbauer 2017, 70-84. „A-Iu 457 scheint … die süddeutsche augustinische Tradition vor Záviš widerzuspiegeln” (S. 71); „1378” passt als mutmaßliche Datierung von V H 11 (S. 75); in V H 11 wurde vermutlich süddeutsches Material weiter bearbeitet. Ich bin Dr. Ciglbauer für Einsicht in seine Dissertation und weitere Hinweise dankbar.
[33] Stenzl 2000, 177, sieht „kein besonderes Nahverhältnis“ mit dem Seckauer Cantionarius. „Nicolai solemnia“ (Nr. 24) ist jedoch keine unikale Konkordanz, sondern war damals weit überliefert, z.B. in GB-Ob lat.liturg.d.5. aus Hauterive, Schweiz (13. Jahrhundert): vgl. Reaney 1966, 539-540, Nr. 1.
[34] Vgl. Stenzl 2000, 174f. Die Konkordanzliste ist nicht vollständig, z.B. werden Fragmente des 14. Jahrhunderts und manche späte Quellen übergangen.
[35] Celestini 1995. Die böhmische Herkunft der Quelle wird bei Stenzl 2000, 185, nicht erwähnt (d.h. bezweifelt?).
[36] Stenzl 2000, 183, betont die Überlieferungsunterschiede. In der Tat bietet CZ-VB 42 spätere, z.T. mensural notierte Abwandlungen.
[37] Stenzl 2000, 178.
[38] Arlt 1983, besonders 29-30, zu den mehrstimmigen Fassungen.
[39] Stenzl 2000, 181, mit Variantenvergleich von Nr. 59 (Notenbeispiel S. 182).
[40] Zu Clm 5539 siehe Marie-Louise Göllner 1992 (wo nur Konkordanz Nr. 17 erwähnt ist), Willimann 1999 II.1, 311-313.
[41] Edition: Dömling 1972.
[42] Willimann 1999 II.1, 340-350 und II.2, 400-418. Jan Ciglbauer (briefliche Mitteilungen 6. Juni und 28. Oktober 2021) vermutet für LoD eher eine süddeutsche, mit Böhmen verbundene Provenienz.
[43] Dömling 1972, Bd. 53, 70.
[44] Das Motettenrepertoire in deutschen Quellen untersucht Willimann 1999 II.I, 311-363.
[45] Willimann 1999 II.I, 371-372.
[46] Nr. 2 steht auch in einem Antiphonale aus Neustift/Novacella, Cod. 15063 (Ende 15. Jahrhundert), fol. 14r.
[47] Beide ediert in Göllner 1969, I, 109-117 und 320-322, Faks. XXII.
[48] Klugseder 2014, 337 und 341-343; Klugseder 2011, 114 f. (zu A-Wn S.n. 228).
[49] Madas 1982, 94 f. Vielleicht war Vorbesitzer die von Herzog Albrecht II. im Jahr 1360 gegründete Dorotheakapelle. Andererseits erhielt das Dorotheastift 1414 eine Bücherschenkung von Rektor Petrus von Mautern: » E. Kap. Bücher und Weltlauf (Susana Zapke).
[50] » A. Kap. Kulturelle Eigenleistung (Stefan Engels).
[51] Göllner 1989, 183 und 186-188.
[52] Göllner 1961, 28-29, 134-140 und 150-151 (Transkription und Vergleich der Fassungen).
[53] Dieselbe Textvariante steht auch in Nr. 6, sowie bei Nr. 8 in der Konkordanzquelle V H 11.
[54] Editionen: Göllner 1969 I, 57 f. (Transkription) und 309 f. (Nr. 4); Beschreibung II, 41-56.
[55] Stenzl 2000, 178-179, mit Notenbeispiel. Zur Variabilität bzw. Stabilität hinzugefügter Stimmen vgl. auch Celestini 2002.
[56] Göllner 1969, vgl. Fassungen 1 (A-Gu 29) und 2 (Cod. 457/II).
[57] Nicht zu verwechseln mit dem Responsorium “In principio erat verbum““, das z.B. in A-Wn Cod. S.n. 228 zweistimmig gesetzt ist: vgl. Klugseder 2011, 113-116.
[58] Göllner 1969 I, 127-129 (Edition), II, 74-77 (Analyse).
[60] Vgl. Willimann 1999.
[61] Klugseder 2011, 113-116.
[62] Marie-Louise Göllner 1992, Nr. 15; 20, 127, 136f. mit Transkriptionen des Originals und Kontrafaktur „Surrexit de tumulo“ in E-HU, fol. 93r-v.
[63] Stenzl 2000, 145. Zur Schnalser Bibliothek vgl. Neuhauser 1991/2010.
[65] Zu Schnals vgl. Neuhauser 1991/2010, wo aber Cod. 457 nicht erwähnt ist.
[69] Neuhauser 2008, 361. Zu den vielen handschriftlichen Predigtsammlungen in der Region vgl. Schneyer-Hödl-Knoch 2001.
[70] Die einmal vorkommende Wortform „gat“ für „geht“ könnte auf Tirol deuten. Ich bin Nigel F. Palmer († 2021) für einschlägige Beratung dankbar.
[71] Zur Schnalser Bibliothek vgl. Neuhauser 1991/2010 und Sepp 1980, 117-119 (beide ohne Erwähnung von Cod. 457).
[72] Neuhauser 2008, 361, liest „almehlikait“.
[73] Neuhauser 2008, 361. Der Eintrag „P(?)…iis duo notaui que non“ auf dem oberen Blattrand wurde von einer anderen Hand und sicher früher geschrieben.
[74] Ein Kopieren kann nicht gemeint sein, da diese Liturgieabschnitte verschiedenen Büchern (Missale, Brevier) angehören und dem Schreiber sicher zuhause zugänglich waren.
[75] Ginex 2020, 16, Anm. 24, mit Verweis auf Guigo‘s Consuetudines (Basel 1510), Statuta 6.47.24.
[76] Zu den Kartäuserprioren Prior Friedrich und Heinrich Haller, deren Reisen mit dieser Notiz aber nichts zu tun haben, vgl. Neuhauser 1980, 89 f., Sepp 1980, 118 f.; Neuhauser 1991/2010, 268 f.
[77] Turnher-Neuhauser 1975, 16; Neuhauser 1980, 76 f.
[78] Vgl. Schwob-Schwob, Bd. 5, 2013, Nr. 513, 284-289. Die Umschlagsabbildung des Bandes zeigt das erwähnte Dokument (Cod. 960, fol. 60v).
[79] Neuhauser 2008, 361.
[80] Vgl. Fig. 1 bei Sojer-Neuhauser 2019, 144, und » Abb. Frg. 18_1-2 der ULBT.
[81] Freundliche Information von Dr. Giulia Gabrielli, Bressanone. Quellen der Credo-Melodie bei Miazga 1976, Nr. 450+10, 99. Die beiden Patrem enden mit „sepultus est“; mehrere Zeilenkadenzen sind verschieden.
[82] Neuhauser 2008, 359.
[83] Z.B. Flotzinger 1977, 82, und Neuhauser 1991/2010, 63f. und Anm. 42: siehe Stenzl 2000, 146, Anm. 18.
[84] Neuhauser 2008, 367f. Die zum Vergleich herangezogenen Seiten von I-VIP o.Sign., fol. 5r, 7v und 49v-54v, stammen von jeweils verschiedenen Händen.
[85] Vgl. Welker 1991.
[86] Timm 1974, 318-320 und Nachtrag, Anm. 34. Timm vergleicht primär die Wolkenstein-Handschriften mit dem Zollner-Graduale (einem Hinweis von Karl Vigl folgend). Betreffs Cod. 457 hatte Walter Lipphardt der Autorin brieflich geraten (ebda., Anm. 34): „…aus diesen Gründen sei auch die Vermutung einer Herkunft aus Neustift in dem Grade annehmbar, wie die Paläographie dies nahelege.“ Nach allen bisherigen Forschungen scheint die Paläographie nichts dergleichen nahezulegen. Neuhauser 1980, 79, der den Zusammenhang der Wolkenstein-Handschriften mit Neustifter Quellen akzeptiert, erwähnt Cod. 457 nicht.
[88] Rothe 1984, Tafeln 1 und 2, 433f.
[89] Neuhauser 2008, 367; Stenzl 2000, 149, Anm. 22.
[90] Timm 1974, 320, Anm. 34: „Was Tirol betrifft […] Nun ist das große Augustinerstift der Diözese Brixen, zu der auch Allerengelberg gehört, aber Neustift…“. Allerengelberg (Schnals) gehörte zur Diözese Chur.
[92] Vgl. » A. Die Verehrung der Hl. Dorothea.
[93] Lipphardt 1982, auf S. 220 f. mit einem Verzeichnis einzelner Stücke und ihrer vermuteten Herkunftsorte.
[95] Zur (indirekten) Notre-Dame-Rezeption im Seckauer Cantionarius vgl. » A. Kap. Ein Vorbild.
[96] Stenzl 2000, 183. Vgl. die Konkordanzentafel ebda., 191-194.
[97] Dreves-Blume-Bannister (AH) 1886 -1922, Nr. 54, 224, 356.
[98] Einflussreiche Augustiner-Eremitenklöster befanden sich in München und Wien.
[99] Die Konkordanz in A-Gu Cod. 29 für Nr. 1 bleibt bei Stenzl 2000 unberücksichtigt.
[100] Dömling 1972 (Faksimile); nicht ediert sind Nr. 80: „Pater noster/ Ave Maria“ mit Spottvers „Non est fides in boemo“ (fol. 109r) und Nr. 81 „Ave Maria gracia plena“ (fol. 109v).
[101] Schneider 1935, 13, 100 f.; Beispiele Nr. 135-143, 151, 155-156 und 161-166.
[102] Codex 457, 2017.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: „Der Innsbrucker Cantionarius: Cod. 457 der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/der-innsbrucker-cantionarius-cod-457-der-universitaets-und-landesbibliothek-tirol> (2023).